Leitlinie, wegweisend für die künftige Debatte
Die Leitlinie ist wissenschaftsbasiert und wegweisend für die weitere Diskussion. Wer hätte 2007 gedacht, dass 16 Jahre nach der Einführung des Smartphones nahezu alle Kinder ab dem 8. Lebensjahr dieses Gerät nutzen und psychische und körperliche Krankheiten sich dadurch epidemisch verbreiten? Die Geister, die damit gerufen wurden, muss man jetzt in den Griff bekommen. Dafür wurde diese Leitlinie entwickelt. Sie ist ein großer Schritt in der Diskussion, weil sie ohne Beschönigungen mit dem Narrativ aufräumt, die Digitalisierung sei der Fortschritt zur Lösung vieler pädagogischer Probleme, und zeigt, dass sie Teil der Probleme ist. Die Bildungspolitik und die Erziehungsinstitutionen können sich nun nicht mehr verstecken, sondern müssen aus diesem Papier Konsequenzen ziehen. Wer die Risiken nicht kennt, kann sie nicht vermeiden. Altersbedingt muss festgelegt werden: Wann sind digitale Medien als Hilfsmittel nützlich, wann muss auf sie verzichtet werden?
Die Aufklärung muss bei den Eltern beginnen
Die Hauptaussage der Leitlinie ist eindeutig: Eltern müssen schon in der Schwangerschaft von Hebammen, Ärzten und dann auf Elternabenden über den Umgang mit digitalen Medien informiert werden. Bisherige Konzepte, v.a. der sogenannten Digitalen Bildung, müssen auf den Prüfstand, denn die Einführung der digitalen Medien schon ab den Kindertagesstätten führt zu massiven Schädigungen. Die Leitlinie muss in allen Erziehungseinrichtungen in der Kita, in den Schulen bis zur Hochschule besprochen werden. In Kitas und Schulen mit dem Ziel, dass diese Schädigungen erst gar nicht eintreten, an den berufsvorbereitenden und Hochschulen, um zu verstehen, welche Defizite die Azubis und Studierenden durch den massenhaften dysregulierten Bildschirmgebrauch mitbringen.
Eigentlich war diese Situation voraussehbar. Prof. Manfred Spitzer hat sie in seinen Büchern prognostiziert, die Mitglieder des Bündnisses für humane Bildung warnen seit langem in vielen Veröffentlichungen. Sie wurden als Vertreter der „Kreidezeit“ lächerlich gemacht. Digital First, Bedenken Second - damit wurde in die digitale Falle gelockt. Das Denken wurde durch den Hype ausgeschaltet, die Bilanz ist jetzt ernüchternd. Die außerschulische und schulische Digitalisierung ist ein Faktor der Bildungskatastrophe. Die soziale Katastrophe deckte die Rektorin Silke Müller in ihrem Buch „Wir verlieren unsere Kinder!“ auf: Mobbing, Gewalt- und Sexvideos, Empathieverlust und Einsamkeit sind zum normalen Bestandteil des kindlichen Alltags geworden und werden in den Erziehungsinstitutionen nicht verarbeitet.
Es braucht eine Erziehung zur Medienmündigkeit
Heute wachsen die Schülerinnen und Schüler in einer digitalisierten Umgebung auf. Sie brauchen Orientierung. In den Schulen braucht es fächerübergreifend eine Medienkunde, die alle Medien einschließt. Den Kindern muss altersgerecht Nutzen und Risiken der Digitalisierung vermittelt werden. Dabei müssen Jugendschutz und Suchtprävention verwirklicht werden. Dazu braucht es kein Smartphone, schließlich wird bei der Drogen-, Alkohol- und Raucherprävention auch nicht der Suchtstoff konsumiert. Die Risiken schlechter Ernährung werden nicht durch den Konsum von Junk Food vermittelt. Es braucht, wie in der Schule der Rektorin Silke Müller praktiziert, eine Anlaufstelle zur Verarbeitung schockierender traumatischer Erlebnisse auf Social Media.
Für die „analoge Zukunftskompetenz“, wie in der Leitlinie gefordert, müssen die Kinder begeistert werden. Dabei haben die vernachlässigten Fächer Musik, Kunst, Theater, Literatur und Sport eine zentrale Bedeutung, sie vermitteln die soziale Interaktion, Selbstwirksamkeit, Grundfertigkeiten und Bildung. Schüler bekommen dadurch Lust auf Hobbies. Durch Alternativen werden die digitalen Medien auf nützliche Hilfsmittel beschränkt, statt zum Lebensinhalt zu werden. Prof. G. Teuchert-Noodt brachte es auf den Punkt:
- "„Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter“ (Lembke, Leipner 2015). Diese These von Lembke und Leipner wirkt überhaupt nicht paradox, wenn wir eine Brücke zur Neurobiologie schlagen. Wer den Einfluss digitaler Medien auf Kinder reduziert, fördert ihre Gehirnentwicklung, denn die späteren Jugendlichen und Erwachsenen brauchen hohe kognitive Fähigkeiten, um digitale Herausforderungen zu bewältigen." (s. Anm.4)
Die Leitlinie der deutschen Fachverbände ist Teil einer Entwicklung vom blinden Fortschrittshype zur Anerkennung der Realitäten. In Schweden, Finnland, Niederlande, Frankreich und China wurden bereits Konsequenzen gezogen.[24] In den USA intervenierte aktuell das U.S. Surgeon General, eine oberste Gesundheitsbehörde, mit einem Gutachten zur Gefährdung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen durch digitale Medien. [25] Der UNESCO-Bericht untermauert die Notwendigkeit einer Korrektur des digitalen Hypes.
Doch in der deutschen Politik verfängt immer noch das falsche Fortschritts-Narrativ. Die Digitalisierung des Erziehungswesens wird vorangetrieben, ohne Reflexion der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Folgen. Man wird noch tiefer ins Digi-Tal abstürzen, wenn sich Eltern und Erzieher nicht einmischen.
Unser Vorschlag: Laden Sie sich dieses Leitlinien-Papier aus dem Portal AWMF herunter und fordern Sie, dass es in Konferenzen, Teambesprechungen, Elternabenden und bei Entscheidungsträgern in der Politik und im Gesundheitswesen zur Sprache kommt, Download der Leitline:
https://www.awmf.org/service/awmf-aktuell/praevention-dysregulierten-bildschirmmediengebrauchs-in-kindheit-und-jugend
Elternversion: https://register.awmf.org/assets/guidelines/027_D_Ges_fuer_Kinderheilkunde_und_Jugendmedizin/027-075eltern_S2k_Praevention-dysregulierten-Bildschirmmediengebrauchs-Kinder-Jugendliche_2023-09.pdf
>>> diagnose:funk Faktenblatt: Inhalt der Leitlinie kurz und verständlich, auf einen Blick.
Quellen
[1] An der Leitlinie beteiligte Organisationen:
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ) / Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e.V. (DG-Sucht) / Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e.V. (DGSPJ) / Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention e.V. (DGSMP) / Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V. (BVKJ) / Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der Frühen Kindheit (GAIMH) / Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) / Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e.V. (DGHWi) / Deutsche Gesellschaft für Psychologie e.V. (DGPs) / Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes e. V. (BVÖGD) / Fachverband Medienabhängigkeit e.V.
[2] Jugend-Digitalstudie der Postbank, 2022: https://www.postbank.de/themenwelten/innovationen/digitalstudie-2022-mobile-internetnutzung-entwickelt-sich-rasant.html
[3] Die Autoren schreiben: „Weiterhin werden interessierten Eltern ebenfalls Empfehlungen zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in der Familie gegeben. Dies umfasst: 1. Möglichkeiten, wie Eltern einerseits direkt durch verbale Vereinbarungen und Regeln, andererseits durch Nutzung von technischem Kinderschutz auf Hardware oder Softwareebene regulierend auf den digitalen Medienkonsum ihrer Kinder einwirken können, 2. wie Eltern indirekt über eine Stärkung allgemeiner Erziehungskompetenzen, sowie Anregungen für eine aktive bildschirmfreie Alltagsgestaltung für Kinder unterstützt werden, alltagstaugliche Alternativen zum Bildschirm als „Babysitter“, „Streitschlichter“, „Belohnung/Bestrafung“ etc. zu entwickeln, und 3. der elterliche Medienkonsum reguliert werden kann, um eine Gefährdung der Beziehungs- und Bindungsqualität zwischen Eltern und insbesondere ihren kleinen Kindern zu vermeiden.“
[4] Martin Korte: Frisch im Kopf. Wie wir uns aus der digitalen Reizüberflutung befreien, 2023, DVA, S. 86, S. 145
Gertraud Teuchert-Noodt (2016): Ein Bauherr beginnt auch nicht mit dem Dach. Die digitale Revolution verbaut unseren Kindern die Zukunft, umwelt-medizin-gesellschaft, 29 / 4-2016
Lars Laue: Ich dachte, mich kann nichts mehr schocken, Interview mit Silke Müller, Stuttgarter Zeitung vom 15.07.2023, https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.lehrerin-und-autorin-silke-mueller-ich-dachte-mich-kann-nichts-mehr-schocken.fe75bc62-f63a-4e43-8cf7-1d7801ec4b58.html
[5] siehe dazu Bericht auf der Homepage: https://www.diagnose-funk.org/1991
[6] Angelika Supper / Gertraud Teuchert-Noodt (2021): “How learning doesn't work” Children evaluate their cell phone use – An empirical pilot study, Neurol Neurosci. (2021) Vol 2, Issue 2
Gertraud Teuchert-Noodt (2023): An den Grundfesten der Gehirnentwicklung im Kindes- und Jugendalter kann man nicht rütteln, in: Möller / Fischer (Hrsg): Internet- und Computersucht. Ein Praxishandbuch für Therapeuten, Pädagogen und Eltern, 3. Auflage 2023, Kohlhammer
Weitere Arbeiten von Prof. G. Teuchert-Noodt: https://www.researchgate.net/scientific-contributions/Gertraud-Teuchert-Noodt-34091346
[7] ARTE-Doku vom 3.6.2023: Die Dopamin-Falle: Der Botenstoff und die sozialen Medien, inzwischen nicht mehr in der Mediathek.
[8] Bericht zur UNESCO-Studie: https://www.diagnose-funk.org/1998
[9] Klaus Zierer (2021): Zwischen Dichtung und Wahrheit: Möglichkeiten und Grenzen von digitalen Medien im Bildungssystem, Pädagogische Rundschau, 75. jg, S.377-392, Download: https://www.diagnose-funk.org/2001
[10] Analysen von Ralf Lankau auf seinen Homepages www.futur-iii.de und https://die-pädagogische-wende.de/
[11] Manfred Spitzer (2022): Digitalisierung in Kindergarten und Grundschule schadet der Entwicklung, Gesundheit und Bildung von Kindern, Nervenheilkunde, 2022, 41
[12] Saliev, T., Begimbetova, D., Masoud, A.-R., & Matkarimov, B. (2019). Biological effects of non-ionizing electromagnetic fields: Two sides of a coin. Progress in Biophysics and Molecular Biology, 141, 25–36. https://doi.org/10.1016/j.pbiomolbio.2018.07.009
[13] NTP (2018a): NTP Technical Report on the toxicology an carcinogenesis in Hsd: Sprague Dawley SD Rats exposed to whole-body radio frequency radiation at a Frequency (900 MHz) an modulations (GSM an CDMA) used by cellphones, https://www.niehs.nih.gov/ntp-temp/tr595_508.pdf
NTP (2018b): NTP Technical Report on the toxicology an carcinogenesis in B6C3F1/N MICE exposed to whole-body radio frequency radiation at a Frequency (1,900 MHz) and modulations (GSM AND CDMA) used by cellphones, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK564537/
Falcioni L et al.(2018): Report of final results regarding brain and heart tumors in Sprague-Dawley rats exposed from prenatal life until natural death to mobile phone radiofrequency field representative of a 1.8 GHz GSM base station environmental emission. Environ Res 2018; 165: 496-503
Lin JC (2018): Clear Evidence of Cell-Phone RF Radiation Cancer Risk. IEEE microwave magazine Sept./Okt. 2018, 16, https://www.diagnose-funk.org/1304
Lin JC (2022): Carcinogenesis from chronic exposure to radio-frequency radiation. Front. Public Health 10:1042478. doi:10.3389/fpubh.2022.1042478
[14] Kim S, Han D, Ryu J, Kim K, Kim YH (2021c): Effects of mobile phone usage on sperm quality - No time-dependent relationship on usage: A systematic review and updated meta-analysis. Environ Res 2021; 202: 111784, https://www.diagnose-funk.org/1797
[15] Schürmann D, Mevissen M (2021): Manmade Electromagnetic Fields and Oxidative Stress - Biological Effects and Consequences for Health. Int J Mol Sci 2021; 22 (7): 3772, https://www.diagnose-funk.org/1692
[16] Wilke I (2018): Biologische und pathologische Wirkungen der Strahlung von 2,45 GHz auf Zellen, Fruchtbarkeit, Gehirn und Verhalten. Review: umwelt ·medizin · gesellschaft, 2018 Feb 31(1)
Naziroglu M, Akman H (2014): Effects of Cellular Phone – and Wi-Fi – Induced Electromagnetic Radiation on Oxidative Stress and Molecular Pathways in Brain, in: I. Laher (ed): Systems Biology of Free Radicals and Antioxidants, Springer Berlin Heidelberg, 106, S. 2431-2449
Peter Hensinger (2023): WLAN an KiTas und Schulen-ein Hype verdrängt die Risiken! Aktueller Stand der Forschung, Vortrag Webinar 27, https://www.diagnose-funk.org/1877
[17] Alle Informationen zum TAB: https://www.diagnose-funk.org/1954
[18] Alle Informationen zu den EU-Dokumenten: https://www.diagnose-funk.org/1899
[19] Liste der Reviews zum Download: https://www.diagnose-funk.org/1693
[20] diagnose:funk Kompass Studienlage: https://www.diagnose-funk.org/1895
[21] Davis D, Birnbaum L, Ben-Ishai P, Taylor H, Sears M, Butler T, Scarato T (2023): Wireless technologies, non-ionizing electromagnetic fields and children: Identifying and reducing health risks. Curr Probl Pediatr Adolesc Health Care 2023; 53 (2): 101374.
[22] Kashani ZA, Pakzad R, Fakari FR, Haghparast MS, Abdi F, Kiani Z, Talebi A, Haghgoo SM (2023). Electromagnetic fields exposure on fetal and childhood abnormalities: Systematic review and meta-analysis; Open Med 2023; 18 (1): 20230697, DOI: 10.1515/med-2023-0697: Rezension im ElektrosmogReport 3/2023 und auf www.EMFData.org: https://www.emfdata.org/de/studien/detail&id=804
[23] Prof. Harald Haas (Universität Edinburgh): LiFi-Entwicklung beim Europäischen Erfinderpreis nominiert. Lichtübertragung LiFi auf dem Vormarsch , https://www.diagnose-funk.org/aktuelles/1992
[24] Europ. Länder dokumentiert auf https://www.diagnose-funk.org/1991
China dokumentiert auf: https://www.diagnose-funk.org/1684
[25] U.S. Surgeon General (2023) Social Media and Youth Mental Health; https://surgeongeneral.gov/ymh-social media; dt.: Soziale Medien und psychische Gesundheit von Jugendlichen, https://die-pädagogische-wende.de/soziale-medien-und-psychische-gesundheit-von-jugendlichen/ (20.8.2023)