Pädagogikprofessor Klaus Zierer kritisiert "Digitalisierungswahn" an den Schulen

„Kümmert euch um die Kinder, nicht um Tablets!“
Der Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, Professor Klaus Zierer, kritisiert einen «Digitalisierungswahn» an den Schulen. Die Ankündigung der CSU, bis zum Jahr 2028 alle Schülerinnen und Schüler in Bayern mit einem Tablet für den Unterricht auszustatten, bezeichnet Zierer in einer ausführlichen Presseerklärung als «bildungspolitischen Aktionismus». Was Prof. Zierer für Bayern kritisiert, gilt für alle Bundesländer: Es besteht die Gefahr, dass der Digitalisierungswahn zur unkontrollierten Epidemie wird.
Prof. Klaus Zierer

Mit einen scharfen Kritik an der Ankündigung der CSU, bis zum Jahr 2028 alle Schülerinnen und Schüler in Bayern mit einem Tablet für den Unterricht auszustatten, wendet sich Professor Klaus Zierer an die Öffentlichkeit. Er sieht einen «bildungspolitischen Aktionismus», ja einen «Digitalisierungswahn» an den Schulen.

Es sei unverständlich, wie man in Zeiten der Bildungskrise den Heilsbringer in der Digitalisierung suchen könne, so Zierer. Diese sei mitverantwortlich für die genannten Probleme. «Das Ganze gleicht einem Digitalisierungswahn!» Zierer warnt, dass die häufige Nutzung von Handys, Tablets oder Computern den Wortschatz der Kinder reduziere und die Fähigkeit zur Textproduktion hemme. Zierer bezieht sich auf eine Untersuchung der Technischen Universität Dortmund zu Viertklässlern. «Die Ergebnisse zeigen, dass Kinder, die selten Bücher lesen und häufig an digitalen Geräten, den höchsten Förderbedarf hinsichtlich ihres Wortschatzes aufweisen», heißt es in der Ende 2022 vorgelegten Studie.

Die flächendeckende Ausstattung mit Tablets werde den Kindern mehr schaden als nutzen, warnt Zierer. Die Politiker sollten sich wieder den zentralen bildungspolitischen Herausforderungen zuwenden. Andere Länder wie Frankreich, Schweden oder die Niederlande würden aufgrund der Studienlage bereits umdenken. Soweit Kernpunkte der Kritik von Professor Zierer, lesen Sie unten seine gesamte Erklärung.

Tablets an Schulen - ein weiterer Schritt ins Digi-Tal

In Deutschland spielt sich in der Bildungspolitik Absurdes ab. Nachdem nun das fortschreitende Bildungsdesaster durch Bildungsstudien nachgewiesen und nicht mehr verneint werden kann, vollbringt die Politik ein diskursives Wunder: Ursachen werden in Lösungen umgewandelt. Noch mehr Digitalisierung soll aus der Katastrophe führen. Der Weg noch tiefer ins Digi-Tal ist damit vorgezeichnet.

Und für die Tablets braucht es dazuhin WLAN, eine Gesundheitsgefährdung durch die Strahlenbelastung für Schüler und Lehrer, wie neue Studien wiederum bestätigen.

Bitkom-Industrie setzt die (Bildungs-)Ziele

Die Bitkom-Industrie fordert für die Digitalisierung der Schulen eine Milliarde Euro jährlich bis 2030: „Sonst werden wir technologisch global abgehängt“, so der BitKom-Chef Wintergerst. Es gehe darum, den eigenen Nachwuchs fit für ein globales Wettrennen zu machen (Stuttgarter Zeitung, 11.08.2023).“ Von den Milliarden Euros verspricht sich die IT-Branche natürlich einen satten Gewinn. Die Wachstumsideologie, die in die globale Umweltkatastrophe führte, soll nun über die Erziehung in die Hände und Köpfe der Schüler. Bitkom setzt Erziehungsziele, die Pädagogik wird überflüssig und die BaWü-Landesregierung will den Einsatz digitaler Geräte zur Pflicht für jeden Lehrer machen. Ein skandalöser Eingriff in die Methoden- und Lehrfreiheit. Lehrer und Eltern dürfen nicht zulassen, dass die Profitinteressen der Industrie die Erziehung bestimmen. Das wird auch im neuen UNESCO-Gutachten zur Bildung scharf kritisiert.

  • Die Milliarden Euro braucht es für mehr Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer, Schulpsychologen und Sozialarbeiter, mehr Theater-, Kunst-, Sport- und Musik AGs.

Sie können etwas tun: Weisen Sie Ihre Kindergartenleitungen, Rektoren, die Erziehungsgewerkschaften und Kultusbehörden auf diese Erklärung von Prof. Zierer, das Karolinska-Gutachten und die UNESCO-Studie hin mit der Bitte um eine fachliche Stellungnahme.

>>> Beachten Sie dazu auch unsere Artikelserie zur Bildungskatastrophe: "Studien weisen nach: Die Digitalisierung ist ein wesentlicher Faktor der Krise im Bildungswesen".

 

Univ.-Prof. Dr. Klaus Zierer / Ordinarius für Schulpädagogik / Universität Augsburg; 15.08.2023

„Kümmert euch endlich um die Kinder, nicht um Tablets!“

Professor Zierer zur Ankündigung von CSU-Generalsekretär Huber, bis 2028 alle Schülerinnen und Schüler mit Tablets auszustatten

Als „Bildungspolitischen Aktionismus“ bezeichnet Klaus Zierer das Versprechen der bayerischen Regierungspartei, in den nächsten fünf Jahren über 1,6 Millionen Schülerinnen und Schüler an gut 6.400 Schulen in Bayern mit Tablets auszustatten. Hier werde ohne wissenschaftliche Evidenz über wichtigere pädagogische Herausforderungen hinweggegangen. Das folgende Statement des Augsburger Ordinarius hinterfragt den parteipolitischen Kurs und begründet die Kritik mit empirischen Forschungsergebnissen.

„Die flächendeckende Ausstattung aller Schülerinnen und Schüler mit Tablets ist aus erziehungswissenschaftlicher Sicht nicht begründbar, viel eher unverantwortlich. Es fehlt Evidenz für eine solche Initiative. Seit Jahren sinkt das Bildungsniveau trotz steigender Bildungsausgaben und es wird mit dieser Initiative weiter sinken, denn mediale Ablenkung, zunehmender Verlust an klassischen Lernhaltungen und abnehmende soziale Kompetenzen sind die Folge unreflektierter und kontextfreier Implementierung von Technik. Es ist mir unverständlich, wie man in Zeiten von Finanznot, Erosion der Demokratie und Bildungskrise den Heilsbringer in der Digitalisierung sucht, die mitverantwortlich für die genannten Probleme ist. Das Ganze gleicht einem Digitalisierungswahn! Während andere Länder, wie Frankreich, zuletzt Schweden und Niederlande, aufgrund der Studienlage umdenken, wird in Bayern Kurs gehalten. Viel sinnvoller wären wirksame Maßnahmen zur Behebung des Lehrermangels und Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Lehrer, zur Intensivierung der Elternkooperation und vor allem zur systematischen Behebung von Lernrückständen schon bei Grundschulkindern.

Die Erkenntnisse der empirischen Bildungsforschung zur Lehr- und Lernwirksamkeit digitaler Medien sind eindeutig: 

(1) Analoge Schulbücher in Printform sind didaktisch wertvoller als digitale Varianten.
Auch wenn digitale Medien mehr Möglichkeiten eröffnen, beim Lernen spricht vieles für das Analoge. In der Metaanalyse von Pablo Delgado und Kollegen „Don’t throw away your printed books“ sind Bücher und Arbeitshefte effektiver für Wissensaufnahme und Informationsverarbeitung. Kinder gehen bei Tablets schneller über den Text hinweg und erreichen nur oberflächliches Lesen, während bei der Rezeption von Texten auf Papier langsamer und damit fokussierter sowie konzentrierter gehandelt wird. Für die fachübergreifend elementare sprachlichen Bildung kommt also analoges vor digitalem Lesen.

(2) Digitale Medien reduzieren den Wortschatz und hemmen die Fähigkeit zur Textproduktion. 
Die Sonderauswertung „Zum Stand von Wortschatz und Leseverhalten“ aus dem Jahr 2022, von Bundesbildungsministerium und Kultusministerkonferenz finanziert, belegen die Folgen digitalen Lesens für Umfang und Qualität des individuellen Lexikons: Der Wortschatz der Kinder in der vierten Klasse ist im Mittel umso größer, je häufiger sie Bücher lesen. Im Gegensatz dazu ist der mittlere Wortschatz umso kleiner, je häufiger Kinder außerhalb der Schule an digitalen Geräten lesen. Selbst wenn in der Studie nicht explizit papier- und digitalbasierte Bücher gegenübergestellt wurden, so lässt sich aufgrund der Fragestellung dieser Unterschied ableiten, und er führt dann auch zum Fazit der Autorinnen und Autoren, dass Kinder, die selten Bücher lesen, dafür häufig an digitalen Geräten den höchsten Förderbedarf hinsichtlich ihres Wortschatzes aufweisen.

(3) Die flächendeckende Ausstattung mit Tablets erhöht die Bildungsungerechtigkeit.
Wortschatz und Leseverhalten sind mit dem familiären Hintergrund assoziiert. Digitale Medien verstärken Bildungsungerechtigkeit. Exemplarisch dafür steht die Untersuchung „International Computer and Information Literacy Study (ICILS)“ von 2018. Hinsichtlich der computer- und informationsbezogenen Kompetenzen zeigte sich, dass Jugendliche aus bildungsnahen Milieus die Möglichkeiten einer Digitalisierung besser nützen als Jugendliche aus bildungsfernen Milieus. Auch der jüngst veröffentlichte UNESCO Global Education Monitoring Report spricht diesen empirisch belegten Zusammenhang an. Technik alleine verbessert diese Situation nicht, sondern verschärft die Unterschiede.

(4) Der Ersatz von Schulheften durch Tablets führt zu Bildungsdefiziten.
Die Datenlage zur Intensität und Qualität der Aufnahme von Informationen sowie der Wirksamkeit schriftlicher Übungen im Vergleich von analogem und digitalem Lesen ist eindeutig. Ähnliches gilt für das Schreiben. Hier liefert die Metaanalyse „Is the Pencil Mightier than the Keyboard?“ von Mike Allen und Kollegen eine deutliche Antwort für das Schreiben per Hand, das dem Schreiben mit digitalen Endgeräten wie Computer oder auch Tablet überlegen ist.

(5) Bildungsmedien sollten ökologisch verantwortungsbewusst ausgewählt werden.
In Zeiten von Energieknappheit und Ressourcenschutz ist die Frage des Ressourceneinsatzes, des Stromverbrauches sowie der Aufwendungen für  Beschaffung, Unterhalt, Wartung und Entsorgung von Bedeutung. Aufschlussreich sind hier Studien von Armin Mühlmatter und Kollegen aus der Schweiz. In diesen konnte nachgewiesen werden, dass im Studium Skripte aus Recyclingpapier nachhaltiger sind als ein Tablet.

(6) Bildung ist zweckfrei und darf nicht von Tech-Konzernen bestimmt werden.                        Mit der flächendeckenden Ausstattung der Schülerinnen und Schüler mit Tablets wird eine Abhängigkeit hergestellt, die auf längere Sicht hin unverantwortlich ist. Tech-Giganten wie Apple und Microsoft drängen seit Jahren in die Schulen und schaffen damit bereits Monopolstellungen, die nicht nur auf technischer Ebene stattfinden, sondern auch inhaltlich. Der UNESCO Global Education Monitoring Report mahnt diese Entwicklung an und zeigt auf, wie eine Ökonomisierung von Bildung die Folge ist, in der wenige bestimmen, was unter Bildung zu verstehen ist, und damit auch noch das Geld verdienen.

Der flächendeckenden Ausstattung aller Schülerinnen und Schüler mit Tablets fehlt es nach heutiger Datenlage an Evidenz. Sie wird den Kindern mehr schaden als nutzen, denn dieses Medium führt nicht zu einer Verbesserung der Lerneffektivität, sondern vermindert die Bildungswirksamkeit. Alle Parteien sollten von diesem Digitalisierungswahn abrücken und sich wieder den zentralen bildungspolitischen Herausforderungen zuwenden. Erst vor diesem Hintergrund lohnt es sich darüber nachzudenken, wie Digitalisierung Bildungsprozesse unterstützen kann.“

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Großes Presseecho

https://www.zeit.de/news/2023-08/15/paedagoge-kritisiert-digitalisierungswahn-an-den-schulen

https://www.bild.de/regional/muenchen/muenchen-aktuell/laptop-paedagoge-warnt-vor-digitalisierungswahn-in-schulen-85049074.bild.html

https://www.heise.de/news/Paedagoge-Zierer-kritisiert-Digitalisierungswahn-an-den-Schulen-9244039.html

https://www.news4teachers.de/2023/08/ein-tablet-fuer-jeden-schueler-paedagogik-professor-zierer-warnt-vor-digitalisierungswahn-an-den-schulen/

https://www.augsburger-allgemeine.de/bayern/bildung-paedagoge-kritisiert-digitalisierungswahn-an-den-schulen-id67531981.html

u.v.a.m.

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Aktuelle pädagogische Literatur zu Bildungspolitik, Bildungskatastrophe und Digitalisierung

 

Buchtitel Copyright Verlag
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Weitere neue Bücher über die gesellschaftspolitischen und ideologischen Hintergründe und die Folgen der digitalen Transformation der Gesellschaft sind in einem d:f - Homepageartikel rezensiert: >>> Es geht um die Verteidigung der Menschlichkeit und des Analogen

Publikation zum Thema

Format: DIN B5Seitenanzahl: 156 Veröffentlicht am: 30.10.2018 Bestellnr.: 111Sprache: DeutschHerausgeber: diagnose:media

Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt

Orientierungshilfe für Eltern und alle, die Kinder und Jugendliche begleiten.
Autor:
Autorenteam diagnose:media
Inhalt:
Viele Beobachtungen und Studien von Experten zeigen, dass der zu frühe Kontakt von Kindern und Jugendlichen mit den neuen Medien mit erheblichen Risiken für ihre Entwicklung und ihre Gesundheit verbunden ist. Wir wissen heute: Erst wenn das Kind seine biologisch notwendigen Entwicklungsschritte in den verschiedenen Lebensabschnitten gut bewältigt hat, kann es die Fähigkeit zu einem kompetenten und selbstbestimmten Medienumgang entwickeln. Das Buch nimmt die übergeordnete Fragestellung auf, was Kinder bzw. Jugendliche für ihre gesunde Entwicklung in verschiedenen Entwicklungsphasen brauchen. Der pädagogische Standpunkt der Autoren versucht eine Balance aufzuzeigen zwischen den Wünschen der Kinder und Jugendlichen und den Einschränkungen, die als Vorsorgemaßnahmen zur Abwendung von Gefahren erforderlich sind.
Format: DVDSeitenanzahl: 40 Min. Hauptfilm, 75 Min. Bonustracks Veröffentlicht am: 23.02.2021 Bestellnr.: 954, Preis 17,90 EuroSprache: DeutschHerausgeber: diagnose:funk

Aufwach(s)en im Umgang mit digitalen Medien

Was Eltern und Erzieher wissen sollten: Wie der Gebrauch digitaler Medien die Gehirnentwicklung beeinflusst
Inhalt:
Regie: Klaus Scheidsteger / Drehbuch: Gertraud Teuchert-Noodt, Peter Hensinger, Klaus Scheidsteger / Musik: Markus Stockhausen / Länge: 40 Minuten. Bonustracks: Vortrag Prof. G. Teuchert-Noodt zum Stand der Forschung (30 min) / Video über die Bedeutung des Stirnhirns (15 min) / Vortrag Peter Hensinger zum Forschungsstand WLAN (30 min). Diagnose:funk will Eltern und ErzieherInnen mit diesem Film darin unterstützen, die Entwicklung ihrer Kinder unter dem Einfluss digi­taler Medien bestmöglich zu verstehen. Ihr Kind soll zu einem gesunden, selbstsicheren und intelligenten Menschen he­ranwachsen, um später mit den komplexen Anforderungen des Lebens gut zu­rechtkommen zu können. Wie kann das gelingen, wenn Kinder heutzutage im Alltag unzähligen digitalen Medien ausgesetzt sind, die ihren Bewegungsdrang einschränken und ihre sinnli­chen Erfahrungen verkümmern lassen? Hier müssen Eltern und Erzieher die rich­tigen Entscheidungen treffen. Dieser Film vermittelt Wissen von berufener Seite, der Hirnforschung. Prof. Gertraud Teuchert-Noodt forschte an ihrem Institut über 25 Jahre über das Ler­nen und die Gehirnentwicklung. Ihre Erkenntnisse über die Wirkungen digitaler Medien auf die Gehirnentwicklung werden im Film verständlich dargestellt.
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