Dänemark macht Digitale Bildung rückgängig - Minister entschuldigt sich für gescheitertes Experiment

„Wir haben uns zu lange den großen Tech-Konzernen unterworfen!“
Die Süddeutsche Zeitung vom 7.2.2024 meldet: „Enttäuschte Liebe. Dänemarks Schulen sind weit vorgestoßen in die digitale Welt, Handys und Tablets gehören vielerorts zur Grundausstattung. Doch die einstige Begeisterung ist weg. Der Bildungsminister ruft zur Umkehr auf.“
Dänischer Bildungsminister Mattias Tesfaye, Bild:Dän. Regierung

Während die deutsche Bildungpolitik und einige Lehrerverbände immer noch das von der Industrie komponierte hohe Lied der „Digitalen Bildung“ singen, findet in den Vorreiterländern der Digitalisierung wie Schweden, Niederlande oder Finnland (>>> siehe dazu unsere Artikelserie) gerade der bluesige Abgesang statt. Die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit, eine unwiderlegbare, manchmal schmerzliche empirische Wahrheit. Der dänische Bildungsminister hat den Rückzug mit einer Entschuldigung eingeleitet, die Süddeutsche Zeitung berichtet:

 

  • „In Schweden und Dänemark gibt es mittlerweile an vielen Grundschulen Laptops für jedes Kind, dafür sind weit und breit keine Bücher mehr zu finden. Nachdem verschiedene dänische Lehrerverbände und Pädagogik-Experten wiederholt Alarm geschlagen hatten, ein konzentriertes Arbeiten sei in vielen Klassen oder Schulen mittlerweile kaum noch möglich, veröffentlichte das dänische Schulministerium nun zwölf "restriktive" Empfehlungen, die klingen wie ein Digital-Detox-Programm für Heavy User.“
  • Mattias Tesfaye, der sozialdemokratische Minister für Kinder und Bildung, erläuterte dazu in der Tageszeitung Politiken, die Schulen müssten "das Klassenzimmer als Bildungsraum zurückerobern". Tesfaye hatte sich bereits im vergangenen Dezember in einem Interview bei den dänischen Jugendlichen dafür entschuldigt, dass man sie zu "Versuchskaninchen in einem digitalen Experiment" gemacht habe, "dessen Ausmaß und Folgen wir nicht überblicken können". Das Klassenzimmer sei nun mal keine "Erweiterung des Jugendzimmers, in dem gestreamt, gespielt und geshoppt wird". Nun schrieb er, die Schulen hätten sich den großen Tech-Konzernen zu lange unterworfen, man sei als Gesellschaft zu "verliebt" gewesen in die Wunder der Digitalwelt.““

In den Empfehlungen (Dänisch)der dänischen Regierung heißt es: „Die Empfehlungen beruhen auf einem Vorsorgeprinzip, da die langfristigen Folgen der Bildschirmnutzung für die Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen nicht ausreichend dokumentiert sind.“

>>> Übersetzung der "Empfehlungen zur Bildschirmnutzung für Grundschulen und außerschulische Programme" der dänischen Regierung (Übers. Prof. Ralf Lankau).

 

Karikatur: Pfohlmann

IT-Lobby dominiert noch Bildungspolitik

In Deutschland dominiert immer noch - bewusst oder unbewusst - die Unterwerfung unter die Tech-Konzerne, wie die aktuelle Kampagne des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) zeigt. Und das, obwohl gerade bei uns die Kritik schon früh formuliert wurde. Meilensteine der Kritik waren das Buch "Medienmündig" von Paula Belckmann, "Digitale Demenz" von Manfred Spitzer und "Die Katastrophe der digitalen Bildung" von Lembke/Leipner. Ihre Prognosen traten traten ein, Spitzer blickt in seinem Artikel "10 Jahre digitale Demenz. Vom Shitstrom zum Mainstream" auf die Debatte darum zurück. Der Schulpädagoge Prof. Klaus Zierer (Universität Augsburg) brachte es in seiner Metastudie von 2021 auf den Punkt:

  • “Je länger sich Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit mit ihren Smartphones beschäftigen und je mehr Zeit sie in sozialen Medien verbringen, desto geringer ist die schulische Lernleistung.“

Florida will Jugendlichen den Zugang zu sozialen Medien verbieten

Das Problem ist also nicht nur schulisch zu lösen. Viele Kinder und Jugendliche sind gefangen im Netz von Social Media. Die Diskussion über die Folgen flammte auf, als das Buch von Silke Müller „Wir verlieren unsere Kinder“ erschien. Politiker und Talkmaster zeigten sich kurz geschockt, und gingen dann zur Tagesordnung über (s. Kasten). In den USA werden wegen der psycho-sozialen Folgen drastische Maßnahmen diskutiert. Florida will Jugendlichen den Zugang zu sozialen Medien verbieten, auch in New York regt sich Widerstand (>>> Bericht im Stern).

Es ist an der Zeit, dass die deutschen Politiker sich diesen Fakten stellen und darüber nachdenken, warum ihre Bildungspolitik in die Bildungskatastrophe führte. Die kontroverse Diskussion in Deutschland um die Digitale Bildung dokumentiert der Artikel von Peter Hensinger (2023): "Paradigmenwechsel ante portas: „Leitlinie zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend“ erschienen – Eine Einordnung".

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Dieses Buch ist eine Pflichtlektüre!Titel: Droemer-Verlag

Bestseller über Smartphone-Bedrohungen
Blick in den Abgrund

Mit den verstörenden Abgründen der digitalen Parallelwelt, die sich auf den Smartphones vieler Kinder und Jugendlicher abspielt, setzt sich die Schulleiterin und niedersächsische Digitalbotschafterin Silke Müller auseinander. In ihrem 2023 erschienenen Bestseller berichtet sie von ihren Erfahrungen im Schulalltag, gefährlichen Trends auf TikTok & Co. und gibt konkrete Tipps für eine verantwortungsbewusste Begleitung und den souveränen Umgang mit digitalen Medien in Elternhaus und Schule. (Text aus Info3, Februar 2024)

Silke Müller: Wir verlieren unsere Kinder! Gewalt, Missbrauch, Rassismus – Der verstörende
Alltag im Klassen-Chat. Verlag Droemer Knaur 2023, 224 Seiten, Hardcover, € 20.

>>> Video mit Silke Müller

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Die IT-Lobby in Deutschland

Wie in Deutschland die IT - Lobby planmäßig mit den Narrativen "Digitalisierung ist Fortschritt - Raus aus der Kreidezeit“ den Milliardenmarkt Schule mit vermeintlichen pädagogischen Instituten infiltrierte, beweist detailliert die >>> Studie von Fröschler (2018). Der Brennpunkt "Wie die Telekommunikationsindustrie die Politik im Griff hat" (s.u.) stellt anhand von Bundestagsdokumenten ihre Lobbyarbeit in Berlin dar. Seit 20 Jahren verhindert die Bitkom-IT-Lobby mit ihren Speerspitzen Bertelsmann, Microsoft, Google, Telekom, dass die Politik auf die pädagogische Wissenschaft hört und hat dafür ein dichtes Lobbynetzwerk aufgebaut, wie die Grafik von Förschler zeigt.

Das Netzwerk der DigitalisierungslobbyGrafik: Förschler 2018

Publikation zum Thema

Januar 2022Format: A4Seitenanzahl: 12 Veröffentlicht am: 18.01.2022 Bestellnr.: 247Sprache: deutschHerausgeber: diagnose:funk

Wie die Telekommunikationsindustrie die Politik im Griff hat


Autor:
diagnose:funk
Inhalt:
diagnose:funk legt in diesem Brennpunkt eine Recherche zur Lobbyarbeit der Mobilfunkindustrie und BITKOM-Branche zur Digitalisierung vor, basierend auf der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE „Beziehungen von Telekommunikationsunternehmen zur Bundesregierung“ (Bundestagsdrucksache 18/9620, 13.09.2016). Sechs Grafiken verbildlichen die Verflechtungen. Politisch eingeordnet wird diese Analyse auf Grund eigener Erfahrungen mit Besuchen bei Bundestagsabgeordneten und dem neuen Buch „Lobbyland. Wie die Wirtschaft unsere Demokratie kauft“ (2021) des ehemaligen Dortmunder SPD-Abgeordneten Marco Bülow über seine 18-jährigen Erfahrungen im Bundestag und weiteren Literaturrecherchen.
Format: DIN B5Seitenanzahl: 156 Veröffentlicht am: 30.10.2018 Bestellnr.: 111Sprache: DeutschHerausgeber: diagnose:media

Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt

Orientierungshilfe für Eltern und alle, die Kinder und Jugendliche begleiten.
Autor:
Autorenteam diagnose:media
Inhalt:
Viele Beobachtungen und Studien von Experten zeigen, dass der zu frühe Kontakt von Kindern und Jugendlichen mit den neuen Medien mit erheblichen Risiken für ihre Entwicklung und ihre Gesundheit verbunden ist. Wir wissen heute: Erst wenn das Kind seine biologisch notwendigen Entwicklungsschritte in den verschiedenen Lebensabschnitten gut bewältigt hat, kann es die Fähigkeit zu einem kompetenten und selbstbestimmten Medienumgang entwickeln. Das Buch nimmt die übergeordnete Fragestellung auf, was Kinder bzw. Jugendliche für ihre gesunde Entwicklung in verschiedenen Entwicklungsphasen brauchen. Der pädagogische Standpunkt der Autoren versucht eine Balance aufzuzeigen zwischen den Wünschen der Kinder und Jugendlichen und den Einschränkungen, die als Vorsorgemaßnahmen zur Abwendung von Gefahren erforderlich sind.
Format: DVDSeitenanzahl: 40 Min. Hauptfilm, 75 Min. Bonustracks Veröffentlicht am: 23.02.2021 Bestellnr.: 954, Preis 17,90 EuroSprache: DeutschHerausgeber: diagnose:funk

Aufwach(s)en im Umgang mit digitalen Medien

Was Eltern und Erzieher wissen sollten: Wie der Gebrauch digitaler Medien die Gehirnentwicklung beeinflusst
Inhalt:
Regie: Klaus Scheidsteger / Drehbuch: Gertraud Teuchert-Noodt, Peter Hensinger, Klaus Scheidsteger / Musik: Markus Stockhausen / Länge: 40 Minuten. Bonustracks: Vortrag Prof. G. Teuchert-Noodt zum Stand der Forschung (30 min) / Video über die Bedeutung des Stirnhirns (15 min) / Vortrag Peter Hensinger zum Forschungsstand WLAN (30 min). Diagnose:funk will Eltern und ErzieherInnen mit diesem Film darin unterstützen, die Entwicklung ihrer Kinder unter dem Einfluss digi­taler Medien bestmöglich zu verstehen. Ihr Kind soll zu einem gesunden, selbstsicheren und intelligenten Menschen he­ranwachsen, um später mit den komplexen Anforderungen des Lebens gut zu­rechtkommen zu können. Wie kann das gelingen, wenn Kinder heutzutage im Alltag unzähligen digitalen Medien ausgesetzt sind, die ihren Bewegungsdrang einschränken und ihre sinnli­chen Erfahrungen verkümmern lassen? Hier müssen Eltern und Erzieher die rich­tigen Entscheidungen treffen. Dieser Film vermittelt Wissen von berufener Seite, der Hirnforschung. Prof. Gertraud Teuchert-Noodt forschte an ihrem Institut über 25 Jahre über das Ler­nen und die Gehirnentwicklung. Ihre Erkenntnisse über die Wirkungen digitaler Medien auf die Gehirnentwicklung werden im Film verständlich dargestellt.
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