»Wir machen aus unseren Kindern Psychopathen«
Gespräch mit Prof. Gertraud Teuchert-Noodt
Über Hirnschäden durch digitale Medien, »notreifende« Smartphonejunkies und Schulen als Lernvereitler.
Auszüge aus einem Interview mit Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt [5] von 2019, das die Ursachen der Bildungskatastrophe vorausschauend beim Namen nannte, geführt von Ralf Wurzbacher am 21.2.2019 online für die nachdenkseiten.
Was läuft aus Sicht der Forschung im Gehirn von Kindern schief, wenn sie schon in jungen Jahren mit digitalen Techniken in Berührung kommen?
Gertraud Teuchert-Noodt: Anschaulich gesagt, passiert das gleiche, wie wenn ein Kleinkind an der Milchflasche nuckelt, in die Mama eine Portion Mohn eingemischt hat. Das haben manche Bäuerinnen früher gern getan, um ihr Kind während der schweren Feldarbeit ruhigzustellen. Derart verdummte Kinder liefen dann als Dorftrottel durch ihr Leben. In früheren Zeiten hat es in den Dörfern viele derart behinderte Kinder gegeben, bis man endlich die Ursachen erkannte und es vermied, Kleinkinder mit Mohn zu füttern. Mütter, die mit ihrem Baby digital unterwegs sind, machen entsprechend schwere Fehler. Natürlicherweise schaut der Säugling beim Stillen die Mutter sehr wach an. In diesen Momenten vollzieht sich eine Mutter-Kind-Prägung und eine erste Sozialisation. Wird das Smartphone dazwischen geschoben, depriviert das die jungen Nervenzellen in höchsten Regionen des Gehirns. Kinderpsychologen haben in den 1980er Jahren bereits gezeigt, dass ein mangelnder Mutter-Kind-Blickkontakt im 4. bis 6. Entwicklungsmonat in eine sogenannte Blickkontakt-Verweigerung des Kindes einmündet. „Es mag dich schon nicht mehr“, wurde unwissend kommentiert, sobald das Kind sein Köpfchen wegdrehte. Diese Verhaltensauffälligkeit verfestigte sich zu Lernschwächen im schulpflichtigen Alter und dann zum Drogenkonsum. Warum hat man daraus nichts gelernt? Das Smartphone in der Hand der Mutter nimmt das Kind unaufhaltsam mit in die digitale Abhängigkeit. Kleinkinder lernen durch Nachahmung. Natürlich wollen die kleinen Händchen auch surfen. Und weil das so einfach ist, unterstützen das die verzückten Eltern. Sie merken nicht, dass die Farben und Formen wie ein D-Zug durch das Köpfchen rasen und sie ihr Kind auf das Gleis der Lernbehinderung und Suchtentstehung stellen. Was einst der Mohn-Trottel war, ist heute der postmoderne Digi-Trottel.
Wie also müssten Kinder aufwachsen, um gegen die Gefahren der neuen Techniken gewappnet zu sein?
Gertraud Teuchert-Noodt: Das Tablet im Kinderzimmer versetzt das Kind in eine digitale Zwangsjacke. Elementare Bedürfnisse wie Krabbeln, Laufen, Klettern werden unterdrückt. Diese Bedürfnisse dienen dazu, die Sinne zu schärfen, die Muskeln zu stärken, den Geist und die Freude an körperlicher Ertüchtigung zu wecken. Nur wenn die Nervenzellen der einzelnen Hirnfelder sehr viele Kontakte mit sehr vielen anderen Zellen ausbilden, kann ein intelligentes Gehirn heranreifen. Dagegen setzt eine Kaskade von Behinderungen ein, wenn Schaltkreise des Großhirns von den Lebensadern durch digitale Spielsachen abgeschnitten sind: Das Sprechenlernen verzögert sich, die Händchen können ihre Fähigkeit nicht entfalten, einen Mal- oder Schreibstift zu halten. Kürzlich erreichte uns eine Alarmmeldung aus London, weil Sechsjährige den Stift nur mit dem Fäustchen halten konnten und die Einschulung gefährdet war.
Woraus für Sie folgen muss: Finger weg vom Smartphone!
Gertraud Teuchert-Noodt: Und das nicht nur in den Schulstunden, sondern komplett. Denken wir an die Suchtgefahr. Denken wir an die reifenden Lebensadern, die aus analoger Aktivität gespeist werden. Denken wir an die Neuroplastizität der Hirnrinde, die nur über gezielte Aktivitäten angespornt wird. Das Smartphone ist verschenktes Menschenleben.
Was ist mit den Erwachsenen? Wie und wann ist man gegen die Risiken der digitalen Überschleunigung gerüstet?
Gertraud Teuchert-Noodt: Anknüpfend an die bekannte Formulierung des Volkswirts und Journalisten Ingo Leipner, „eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter,“ will ich darauf so antworten: Eine Kindheit mit digitalen Medien ist der beste Start in einen Burnout – im Erwachsenenalter. Natürlich ist auch der Erwachsene lernfähig, denn er erhält sich eine Reserve an Plastizität bis ins hohe Alter, wenn er vernünftig lebt und im Gehirn flexibel bleibt. Beide Eigenschaften, Vernunft und Flexibilität, lassen sich bewahren und der alternde Mensch mag seinen Körper und Geist durch tägliche Lesestündchen, Bewegung in Haus und Garten fit halten.
In unseren medialen Zeiten ist es indes zu einer ernsten Lebensaufgabe geworden, sich die digitale Überschleunigung vom Leib zu halten. Wie viele Menschen fühlen sich heute aufgrund der Beschleunigung im Beruf und Alltag überfordert! Was bleibt, ist die Privatsphäre möglichst digitalfrei zu gestalten. Natürlich könnte jeder es schaffen, privat ausschließlich analog unterwegs zu sein: Ohne Navi bringt man den Orientierungssinn wieder in Gang und stärkt die Raumverrechnung im hippocampalen Schaltkreis. Ohne Handy und Homebutler der Sorte Alexa wird der Geist für Ideen und Kreativität neu erweckt. Das Leben bekommt dann erst seinen Sinn zurück.
Die Verfechter der Digitalisierung versichern ja gerne wortreich, dass es bei all dem darum gehe, Kindern einen „vernünftigen”, „verantwortungsvollen”und „kompetenten” Umgang mit den Geräten zu vermitteln. Ist das für Sie gar nicht denkbar?
Gertraud Teuchert-Noodt: Der „Digitalpakt” wird in die Geschichte als „digitaler Unmöglichkeitspakt” eingehen. Die Jahrtausendwende war auch eine Offenbarungswende für die Dekade der Hirnforschung. Seitdem liegen die Karten auf dem Tisch: Das kindliche Gehirn kann nicht digital. Erst Studenten können es schaffen, „verantwortungsvoll“ mit Medien umzugehen, wenn sie zuvor einen analogen Schulabschluss hingelegt haben. Gleichwohl vermisst man hinreichende „Kompetenz“ bei Eltern und Lehrpersonal. Das Tippen und Wischen verhindert jegliches Lernen. Rechnen, Lesen, Schreiben bleiben nun einmal Grundkompetenzen, die in Nervennetze real eingeschrieben werden müssen. Zudem ist der schulische und private Umgang mit digitalen Geräten generell für das Kind und den Jugendlichen äußerst suchtgefährdend. „Vernunft, Verantwortung und Medienkompetenz“ erfordern geistige Qualitäten, die zu allerletzt und sehr langsam im Oberstübchen des menschlichen Gehirns zur Reifung kommen und für die über die ersten 16 Lebensjahre hin überwiegend analoge Bauelemente angeliefert werden müssen.
Es ist unmöglich, auf dem Tablet spielerisch über einen Baumstamm zu balancieren, um den Gleichgewichtssinn und die nachgeschalteten Hirnzentren zu trainieren. Unumgänglich ist diese Sinnesqualität das Eintrittstor für kognitive Funktionen. Ebenso wird es dem auf Smartphone und Computer geprägten Jugendlichen in jeder Hinsicht äußerst schwer fallen, den Autoführerschein zu erwerben. Denn die komplexen Anforderungen, denen er sich bei der realen neuronalen Verrechnung von Raum-Zeit stellen muss, sind in seinem Gehirn nur ganz unzulänglich entwickelt. Außerdem ist das digitale Suchtpotential im Straßenverkehr ebenso gefährlich wie eine Drogen- und Alkoholabhängigkeit.
Unsere Politiker wären gut beraten, umgehend von der digitalen Hochrüstung der Schulen Abstand zu nehmen. Verzichten Sie auf den konfuzianischen „bitteren Weg“, Milliarden für technische Geräte an die IT-Industrie zu verschwenden und eine ganze heranwachsende Generation von Kindern krank zu machen.
Beschreiten Sie den „edlen Weg“, mehr Gelder für die Sanierung von Schulgebäuden und kindgerechte Befriedung von Schulhöfen, für Musik-, Kunst-, Theater-Projekte, gut ausgebildete Lehrer und Schulpsychologen auszugeben. Sie sägen sich anderenfalls den Ast ab, auf dem Sie sitzen.
>>> Das ganze Interview auf www.diagnose-funk.org/1340
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"Seit dem 15. Januar 2021 ist in China der Gebrauch von Smartphones an allen Schulen
zum Schutz der Gesundheit der Schüler verboten, und seit dem 1. September 2021 sind Online-Spiele für Personen unter 18 Jahren in China fast völlig verboten. Minderjährige dürfen nur noch an Freitagen, Samstagen sowie Sonn- und Feiertagen jeweils eine Stunde zwischen 20 und 21 Uhr am Computer spielen. Wiederum wurde das Verbot mit dem Schutz der körperlichen und geistigen Gesundheit Minderjähriger begründet. Wann wachen wir auf, nennen die Probleme beim Namen und beginnen damit, die nächste Generation vor den Folgen des Smartphones zu schützen?" (Manfred Spitzer in: Smartphones, Babys, Kleinkinder und Kinder im Jahr 2021, Nervenheilkunde 11/2021)
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Quellen
[1] Homepage Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen: IQB- Bildungstrend: https://www.iqb.hu-berlin.de/bt/BT2021/Bericht
[2] Klaus Zierer: „Zwischen Dichtung und Wahrheit: Möglichkeiten und Grenzen von digitalen Medien im Bildungssystem“ , Pädagogische Rundschau, 4/2021, S. 377 ff, Open Access, s. Downloads
[3] Klaus Zierer: Der Sokratische Eid, 2022, Münster
[4] Der ganze Artikel von Prof. Ralf Lankau auf www.diagnose-funk.org/1904
[5] Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt ist Neurobiologin und Hirnforscherin und war bis zu ihrer Emeritierung Leiterin des Bereichs Neuroanatomie der Fakultät für Biologie an der Universität Bielefeld. Sie befasst sich schwerpunktmäßig mit Entwicklungsbiologie, Lern- und Psychoseforschung sowie den Auswirkungen der Nutzung digitaler Medien auf die Kindesentwicklung. 2016 erschien dazu von ihr der vielbeachtete Aufsatz »Ein Bauherr beginnt auch nicht mit dem Dach. Die digitale Revolution verbaut unseren Kindern die Zukunft.« Teuchert-Noodt hat außerdem das »Bündnis für humane Bildung – aufwach(s)en in einer digitalen Welt« mitbegründet und ist Mitglied bei diagnose:funk.