Es geht um die Verteidigung der Menschlichkeit und des Analogen

Neue Bücher zu den Folgen der digitalen Transformation der Gesellschaft
Seit ChatGPT gibt es eine heftige Debatte darüber, wohin sich die Gesellschaft angesichts der Digitalisierung und KI (Künstliche Intelligenz) entwickeln wird. Dabei sollte man nicht ausblenden, was sich bereits seit der Einführung des Internets und vor allem der Smartphones verändert hat. Mit ihnen kam Big Data, alles wird seither gemessen und gespeichert. Die ungeheuren Datenmengen, die die Nutzer meist freiwillig liefern, werden von Algorithmen verarbeitet, um dann wieder gesellschaftliche Prozesse zu steuern und optimieren. Kostenlose Dienste wie Facebook, Twitter, Whatsapp bezahlen wir in Wirklichkeit mit unseren Daten. Die Digitalisierung hat bereits die Gesellschaft verändert, das soziale Zusammenleben, den Konsum, die Psyche der Menschen, die Art, zu regieren bis hin zur Kriegsführung. Von welcher Weltanschauung und welchem Menschenbild wird die Digitalisierung geleitet? Wie kommt es, dass sie als alternativloser Fortschritt gilt, der nicht hinterfragt wird: Digital first, Bedenken second? Neue Bücher analysieren das.

Das Bild des Menschen, das hinter der Digitalisierungspolitik steht, zu erkennen, ist oft nicht einfach. Welches Welt- und Menschenbild hinter der Digitalisierung steht, welche politischen und ökonomischen Ziele mit seiner Ideologie legitimiert werden, das analysieren neue Bücher auf unterschiedlichen Ebenen.

Wie und wer kommt auf die Idee, dass in der sogenannten "Digitalen Bildung" ein Computer das Lernen von Schülern steuern soll, auf Grund der Daten, die Software-Programme im Sekundentakt an einen Avatar des Schülers und einen virtuellen Lehrer in der Schulcloud liefern? Dass dies die Zukunft der „Bildung“ sei? Dieses Menschenbild des Dataismus, das Menschen berechenbar macht, steht auch hinter der Smart City, der von Daten gesteuerten Stadt, oder einer Justiz, in der Algorithmen Urteile fällen sollen, bis hin zu Phantasien transhumanistischer digitaler Mystik und einer künstlichen Intelligenz, die den fehlbaren Menschen komplett ersetzen soll. Die Dehumanisierung des Sozialen reduziert den Menschen auf einen steuerbaren Datensatz!

Bauer: Realitätsverlust, Titel:Verlag

Den gesamtgesellschaftlichen Zustand, der sich v.a. seit der Smartphone-Einführung im Jahr 2007 entwickelte, beschreibt der Neurowissenschaftler Joachim Bauer in seinem Buch „Realitätsverlust. Wie KI und virtuelle Welten von uns Besitz ergreifen - und die Menschlichkeit bedrohen“. Dieses Buch ist als Einstieg wärmstens zu empfehlen. Man versteht, welche Umstände dazu führten, dass große Teile der Gesellschaft smartphonesüchtig sind und sich aus der Realität der analogen Welt in das Digitale flüchten. Und mit Süchtigen kann man nur schwer rational Argumente austauschen.

Nymoen / Schmitt, Titel: Verlag

Eine Form der Realitätsflucht und Geschäftemacherei beschreiben Nymoen / Schmitt in ihrem Buch „Influencer. Die Ideologie der Werbekörper“. Millionen Kinder und Jugendliche folgen Influencern auf TikTok und Instagram, die dort rückwärtsgewandte Rollenbilder, Konsumismus und rigide Körpernormen propagieren. Erwachsene, denen diese Welten fremd sind, erfahren und verstehen nach der Lektüre dieses Buches, mit welchen Methoden heute Jugendliche und ihre Wertvorstellungen massenhaft manipuliert werden.

Martin Korte, Titel: Verlag

Der Neurowissenschaftler Martin Korte beschreibt in seinem Buch „Frisch im Kopf“ die Risiken der Digitalisierung und will beim Gegensteuern helfen. In 6 Kapiteln: Überleben im Daten-Dschungel; Unsere digitalen Lebensphase; Das digitale Klassenzimmer. Ende der Kreidezeit?; Kluge Maschinen erfordern kluge Nutzer; Kann man das Gehirn knacken? und Wie fit sind wir für die digitale Zukunft? beschreibt er, was die Reizüberflutung mit unseren Gehirnen macht. Er deckt auf, wie Smartphones auf Sucht programmiert sind, begründet, warum sie nicht in Kinderhände gehören und wie Eltern handeln können.

Thomas Fuchs, Titel: Verlag

Seinem Buch „Verteidigung des Menschen“ stellt Thomas Fuchs, Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie, ein Zitat des Philosophen Karl Jaspers voran: „Denn das Bild des Menschen, das wir für wahr halten, wird selbst ein Faktor unseres Lebens. Er entscheidet über die Weisen unseres Umgangs mit uns selbst und mit den Mitmenschen, über Lebensstimmung und Wahl der Aufgaben“. In seinen Aufsätzen stellt Fuchs dar, wie das technokratische Welt- und Menschenbild der Digitalisierung bereits zu inhumanen Methoden in Psychiatrie und Medizin führte. Der Mensch ist kein körperlich - sinnliches Wesen mehr, sondern eine Summe messbarer Vorgänge, die man mit Apparaten erfassen und mit Sozialtechnologien steuern kann. Die Texte von Fuchs sind anspruchsvoll, führen aber tief in die philosophischen und ideologischen Hintergründe gegenwärtiger inhumaner Entwicklungen ein, die man auf den ersten Blick nicht erkennt.

Fabian Scheidler, Titel: Verlag

Fabian Scheidler beschreibt in „Der Stoff, aus dem wir sind“ die Historie der Entwicklung der gegenwärtigen Krisen, die eine Ursache in der Ausbeutung der Natur durch den Menschen haben. Das wurde seit Descartes Dualismus philosophisch gerechtfertigt. Natur bestand seither „aus vom Menschen getrennten Objekten, die sich beliebig zerlegen, analysieren, neu zusammensetzen und kontrollieren ließen“. Die Digitalisierung ist die Fortsetzung: „Inzwischen bewegen wir uns die meiste wache Zeit in einer digitalen Technosphäre, in der die menschengemachte Welt nur noch als Bild, als Datensatz vorkommt“, schreibt Scheidler. In seiner Reise durch die Geschichte der Wissenschaften zeigt er, dass diese Auffassung von Natur, die Eroberungen, zerstörerisches Wachstum und schrankenlosen Konsum legitimierte, ein tödlicher Irrtum ist. „Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“, das beantwortet Scheidler.

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Kostenlos herunterladen können Sie den Artikel:

"Die Ideologie der Digitalisierung. Auf dem Weg ins Digi -tal: der Hype der digitalen Selbstentmündigung und einige Auswirkungen auf die Psyche"

von Peter Hensinger, erschienen in umwelt-medizin-gesellschaft.

Textauszug

Die neue  Religion Dataismus

Betrachten wir diese Veränderungen aus einer historischen Perspektive. Jahrhundertelang bestimmte ein Gott, der alles sieht und hört, verkörpert durch dogmatische Kirchenlehren, was der Mensch zu tun hat, weil er unvollkommen, ja sündig sei. Das durfte nicht hinterfragt werden. Die wissen­schaftlich-technische Revolution erforderte eine neue Ideologie, den Humanismus. Der Mensch und seine Erkenntnisse, sein freier Wille, auch Bedürfnisse und Gefühle standen nun im Mittelpunkt. Das wird nun durch eine Dehumanisierung abgelöst.

Die Googlification und Digitalisierung aller Lebensbereiche wird von einer neuen Fortschrittsideologie begleitet, einer neuen Religion, dem Dataismus und Transhumanismus. Die Silikon-Valley Digitalisten postulieren, wie einst die Kirche: der Mensch ist unvollkommen, fehlerbe­haftet. Sie streben Vollkommenheit durch künstliche Intelligenz an. Die künstliche Intelligenz basiere auf objektiven Daten und Algorithmen und müsse deshalb Grundlage der Steuerung aller gesellschaft­lichen Prozesse werden. Der allwissende Gott wird durch BigData und unfehlbare Algorithmen ersetzt.

Der digitale Schutzengel weist den Weg

Diese Silicon-Valley Ideologie als Überbau rechtfertigt die Digitalisierung: menschliche Arbeit soll von Robotern über­nommen werden, der Autofahrer wird ersetzt durch das autonome Auto, die SmartCity übernimmt die Organisierung des Alltages, im SmartHome übernimmt das die Stimme von Alexa und GoogleHome. Die Lernfabrik 4.0, die SmartSchool, macht den "unvollkommenen" Lehrer überflüssig. BigData macht den Nutzer gläsern. Die Algorithmen, die die Konzerne programmieren, um gesellschaft­liche Prozesse zu steuern, sind jedoch ein Geschäfts­geheimnis. Das Daten-Ich wird zum Avatar, zum lebenslangen Über-Ich. Der Schweizer Think Tank Gottlieb-Duttweiler Institut (GDI) sieht die Entwicklung so:

  • "Algorithmen nehmen uns immer öfter das Suchen, Denken und Entsche­iden ab. Sie analysieren die Datenspuren, die wir erzeugen, entschlüsseln Verhaltens­muster, messen Stimmungen und leiten daraus ab, was gut für uns ist und was nicht. Algorithmen werden eine Art digitaler Schutzengel, der uns durch den Alltag leitet und aufpasst, dass wir nicht vom guten Weg abkommen" (GDI 2014:38).

Das GDI benutzt religiöse Analogien. Das Smartphone ersetzt die Bibel und überbringt Botschaften für "gutes" Verhalten. Das ist das Gesellschaftsmodell, das der Behaviorist B.F. Skinner in seinem Roman "Futurum II" vorschlägt. Weil die bürgerliche Demokratie eine Fehlentwicklung sei, die im letzten Jahrhundert ins Chaos führte, soll eine technokratische Managerelite die Menschen zu ihrem Glück konditionieren und die Gesellschaft steuern. Dies wird gegenwärtig Zug um Zug Realität, mit Smart City und Smart Home, Digitaler Bildung und Smart School. Smarte Lautsprecher wie Alexa, millionenfach verkauft, übernehmen in jeder Wohnung die Dauerüberwachung und Beeinflussung. Die Erfassung wird immer niederschwelliger und massentauglicher.

  • "Eigentlich ist es digital betreutes Wünschen mit einer Konsumfee, die jeden Tag selbst­ver­ständlicher, klüger, machtvoller wird ... Die Plattformkonzerne, die heute für so viele das Netz sind, erobern die älteste Kommunikationsform der Menschheit: das Gespräch. Und alle machen mit. Alexa regiert Deutschland," schreibt der Blogger Sascha Lobo (LOBO 2018).   

Publikation zum Thema

Format: DIN B5Seitenanzahl: 156 Veröffentlicht am: 30.10.2018 Bestellnr.: 111Sprache: DeutschHerausgeber: diagnose:media

Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt

Orientierungshilfe für Eltern und alle, die Kinder und Jugendliche begleiten.
Autor:
Autorenteam diagnose:media
Inhalt:
Viele Beobachtungen und Studien von Experten zeigen, dass der zu frühe Kontakt von Kindern und Jugendlichen mit den neuen Medien mit erheblichen Risiken für ihre Entwicklung und ihre Gesundheit verbunden ist. Wir wissen heute: Erst wenn das Kind seine biologisch notwendigen Entwicklungsschritte in den verschiedenen Lebensabschnitten gut bewältigt hat, kann es die Fähigkeit zu einem kompetenten und selbstbestimmten Medienumgang entwickeln. Das Buch nimmt die übergeordnete Fragestellung auf, was Kinder bzw. Jugendliche für ihre gesunde Entwicklung in verschiedenen Entwicklungsphasen brauchen. Der pädagogische Standpunkt der Autoren versucht eine Balance aufzuzeigen zwischen den Wünschen der Kinder und Jugendlichen und den Einschränkungen, die als Vorsorgemaßnahmen zur Abwendung von Gefahren erforderlich sind.
Artikel veröffentlicht:
20.07.2023
Autor:
diagnose:funk
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