In Medien werden viele mögliche Ursachen aufgezählt, doch die gerade in diesem Zeitraum wachsende Mobilfunk-Strahlenbelastung als Faktor, den es vorher nicht gab, fehlt. Und das, obwohl im Jahr 2011 die WHO nicht-ionisierende Strahlung als möglicherweise Krebs erregend eingestuft hat. diagnose:funk hat die Studie im Fachblatt BMJ Oncology (September 2023) zum Anlass genommen, an Experten in Krebsforschungszentren den folgenden Brief zu schreiben.
Krebs weltweit - plus 80%! Was sind die Ursachen?
Brief an Krebsforschungszentren und Krebsgesellschaften
Zunahme von Krebserkrankungen auch bei jüngeren Menschen
Sehr geehrter Herr Professor ... ,
mit großem Interesse und Besorgnis haben wir aktuellen Pressemeldungen entnommen, dass in den letzten 30 Jahren die Zahl der Krebsfälle bei Menschen unter 50 Jahren weltweit um fast 80 Prozent gestiegen sei. Experten aus Krebsforschungszentren kommentierten in TV und Printmedien, dass die Ursache für diesen Anstieg unklar und daher mehr Ursachenforschung vonnöten sei.
Unserem Kenntnisstand nach sollte beim Anstieg der Krebsinzidenz ein entscheidender Parameter berücksichtigt werden: die ubiquitäre Belastung durch hochfrequente elektromagnetische Felder (HF-EMF) des Mobil- und Kommunikationsfunks, welche bereits 2011 von der IARC der WHO als potenziell krebserregend eingestuft worden sind. Die Intensitäten der auf uns einwirkenden HF-EMF haben in den letzten Jahrzehnten stetig und massiv zugenommen und sie unterscheiden sich qualitativ und quantitativ fundamental von den natürlichen Feldbedingungen, denen wir bis Anfang der 1990 Jahre ausgesetzt waren.
Wir erlauben uns, Ihnen einen kurzen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu geben, der bei Ihren Recherchen berücksichtigt werden sollte:
Am 14.02.2023 veröffentlichte der Deutsche Bundestag die Bundestagsdrucksache 20/5646: „Technikfolgenabschätzung (TA) – Mögliche gesundheitliche Auswirkungen verschiedener Frequenzbereiche elektromagnetischer Felder (HF-EMF)“[1]. In diesem TA-Bericht, der Studien zu Mobilfunk und Krebs bewertet, werden mehr als 60 Studien mit signifikanten Ergebnissen dokumentiert. Hier einige Originalausschnitte aus dem Bundestagsbericht:
- „Neuere Erkenntnisse aus Tierstudien weisen auf die Möglichkeit von Effekten durch EMF-Exposition hin. Dabei handelt es sich um die Aspekte Krebspromotion bei Labornagern, Fertilität und Entwicklung.
- Auch gibt es eine Reihe von ernstzunehmenden Hinweisen, dass HF-EMF das Tumorrisiko bei ausgewählten Tumoren (Herz, Lunge, Leber, Lymphe) erhöhen. Diese Befundlage wird aktuell in der Fachwelt und von Bewertungsgremien in vielen Ländern intensiv diskutiert, da 2020 die Ergebnisse zweier großer, qualitativ hochwertiger Studien vorgelegt wurden (Kap. 6).
- Im Hinblick auf Krebsentstehung können neuere Tierstudien erhöhte Inzidenzen zeigen. Danach zeigen sich bei Mäusen, die mit einem karzinogenen Stoff (hier Ethylnitrosoharnstoff) behandelt wurden, mehr Leber- und Lungentumore sowie erhöhte Werte von Lymphomen, wenn die Tiere gegenüber HF-EMF exponiert werden. Allerdings konnte kein klarer Dosis-Wirkungs-Zusammenhang gefunden werden.
2018 erschienen zwei große Langzeit-Tierstudien, die NTP- und die Ramazzini-Studie. Sie weisen nach, dass nicht-ionisierende Strahlung (NIS), wie sie beim Mobilfunk genutzt wird, Krebs auslösen kann. Beide Studien werden im TA-Bericht des Bundestags besonders hervorgehoben, ausführlich diskutiert und als „qualitativ hochwertige“ Studien bezeichnet:
- „Beide Studien kamen zu dem Befund, dass die Exposition mit HF-EMF zu einem erhöhten Auftreten von Herz- und Hirntumoren führt.“ (S. 13)
- „Sodann zeigte sich in zwei aktuellen Studien, die mit einer sehr großen Anzahl an Versuchstieren (Ratten und Mäuse) sowie mit hohem wissenschaftlichem Standard durchgeführt wurden, dass Exposition mit HF-EMF Signalen, wie sie von Mobiltelefonen genutzt werden (GSM und UMTS), zu größeren Inzidenzen bestimmter Tumoren bzw. deren Vorstufen führten. Insgesamt gesehen gehören diese Befunde zu den wichtigsten der letzten Jahre. Da es sich um replizierte Hinweise auf Effekte handelt, sollte ihnen intensiv mit weiterer hochqualitativer Forschung nachgegangen werden. Immerhin stellen sie einen nicht unwesentlichen Aspekt in der Risikobeurteilung für den Menschen dar.“ (S. 117)
Die Beratergruppe der Schweizer Regierung BERENIS[2] schreibt zu vorgenannten Studien:
- „Die NTP- und die Ramazzini-Studien entsprechen dem neuesten Stand der Durchführung von Studien an Tieren, da sie während des gesamten experimentellen Verfahrens sowohl strenge Richtlinien in „Guter Laborpraxis“ (GLP) als auch fortschrittliche Verfahrensweisen der Pathologie und Statistik anwandten. Darüber hinaus wurden in beiden Studien verschiedene Dosisgruppen (SAR oder Feldstärke) verwendet, was eine Bewertung von Dosis-Wirkungs-Trends ermöglicht.“
- „Die Resultate dieser zwei Tierexperimente sind von grosser wissenschaftlicher Relevanz und gesundheitspolitischer Bedeutung, weil gemäss der Einstufung der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) positive Ergebnisse aus Tierversuchen mit lebenslanger Exposition bei der Einstufung des Krebsrisikos eines Wirkstoffes bzw. einer Umweltnoxe ein sehr grosses Gewicht haben [...] Beide neuen Tierstudien zeigten trotz methodischer Unterschiede relativ konsistente Ergebnisse bei Schwannomen und Gliomen, und zudem einen dosisabhängigen Trend in Bezug auf eine Zunahme der Karzinogenität dieser Tumoren.“
Prof. James C. Lin, von 2004 bis 2016 Mitglied der Internationalen Kommission für den Schutz vor nicht-ionisierender Strahlung (ICNIRP) und von 2008 bis 2012 Vorsitzender des Ständigen Ausschusses für Physik und Technik der ICNIRP, bestätigt in seinem Artikel „Carcinogenesis from chronic exposure to radio-frequency radiation“[3] die Relevanz der NTP- und Ramazzini-Studie:
- „Es ist bemerkenswert, dass die NTP/NIEHS- und Ramazzini-Forschung zur HF-Exposition vergleichbare Ergebnisse zu Herzschwannomen und zerebralen Gliomen zeigte. Somit zeigten zwei vergleichsweise gut durchgeführte Tierversuche mit demselben Rattenstamm übereinstimmende Ergebnisse in Bezug auf ein signifikant erhöhtes Krebsrisiko.“
Eine krebspromovierende Wirkung ergaben Studien, die vom Bundesamt für Strahlenschutz als Wiederholungsstudien in Auftrag gegeben wurden, die der TA-Bericht ebenfalls dokumentiert:
- „Neuere Tierstudien zeigen nunmehr erhöhte Inzidenzen. Die DMF-Studie von Lerchl et al. (Lerchl et al. 2015; Lerchl 2018) hat Befunde aus einer früheren Arbeit (Tillmann et al. 2010) bestätigt. Danach zeigen sich bei Mäusen, die mit einem karzinogenen Stoff (hier: Ethylnitrosoharnstoff) behandelt wurden, mehr Leber- und Lungentumore sowie erhöhte Werte von Lymphomen, wenn die Tiere gegenüber HF-EMF exponiert werden.“(S.117)[4]
Neuere Ergebnisse zum Wirkmechanismus nicht-ionisierender Strahlung liefert der Review von Schuermann/Mevissen[5], veröffentlicht am 06.04.2021, finanziert vom Schweizer Umweltbundesamt und publiziert im „International Journal of Molecular Science“. Er schafft Klarheit durch die umfassende Aufarbeitung der vorliegenden Literatur:
- „Die Produktion von reaktiven Sauerstoffspezies (ROS), die möglicherweise zu zellulärem oder systemischem oxidativem Stress führen kann, wurde häufig durch EMF-Exposition in Tieren und Zellen beeinflusst. In dieser Übersicht fassen wir die wichtigsten experimentellen Ergebnisse zu oxidativem Stress im Zusammenhang mit EMF-Exposition aus Tier- und Zellstudien des letzten Jahrzehnts zusammen. Die Beobachtungen werden im Kontext der molekularen Mechanismen und gesundheitsrelevanten Funktionen wie neurologische Funktion, Genomstabilität, Immunantwort und Reproduktion diskutiert. Die meisten Tier- und viele Zellstudien zeigten erhöhten oxidativen Stress, verursacht durch HF-EMF und ELF-MF."
De-Kun Li, ein leitender Epidemiologe und erfahrener EMF-Forscher, vermutet, dass das Tragen von Smartphones (die auch im Standby-Modus ständig strahlen) in der Vorder- oder Gesäßtasche und somit in Nähe des Mast- und Enddarms eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung von Darmkrebs spielen könnte.“[6] Sehr geehrter Herr Professor ... , uns interessiert Ihre Meinung, ob der Faktor hochfrequente elektromagnetische Felder mit in die Ursachenforschung zur vermehrten Krebsentstehung in der Bevölkerung einbezogen werden sollte bzw. ob Sie ihn für relevant halten. Gerne senden wir Ihnen Originalstudien zu.
Wir freuen uns auf Ihre Antwort.
Mit freundlichen Grüßen
Im Auftrag
Michaela Thiele, Sekretariat
Quellen
[1] Download des Technikfolgenberichtes: https://dserver.bundestag.de/btd/20/056/2005646.pdf
[2] Newsletter BERENIS - Sonderausgabe November 2018 (PDF, 767 kB, 13.11.2018). Evaluierung der NTP-Studie und der Ramazzini-Studie.
[3] Lin JC (2022) Carcinogenesis from chronic exposure to radio-frequency radiation. Front. Public Health 10:1042478. doi:10.3389/fpubh.2022.1042478
[4] Lerchl, A. (2018): Synergistische Wirkungen hochfrequenter elektromagnetischer Felder in Kombination mit kanzerogenen Substanzen – Kokanzerogenität oder Tumorpromotion? Vorhaben 3615S82431. Ressortforschungsberichte zum Strahlenschutz. Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) (Hg.), Salzgitter (BfS-RESFOR, 130/18). http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0221-2018011014465 (22.10.2020)
Lerchl, A.; Klose, M.; Grote, K.; Wilhelm, A.; Spathmann, O.; Fiedler, T.; Streckert, J.; Hansen, V.; Clemens, M. (2015): Tumor promotion by exposure to radiofrequency electromagnetic fields below exposure limits for humans. Biochemical and biophysical research communications 459(4), S.585–590
[5] https://www.mdpi.com/1422-0067/22/7/3772
Newsletter BERENIS - Sonderausgabe Januar 2021 (PDF, 688 kB, 21.01.2021)