Schule zuhause V

Volldigitalisierung und WLANisierung von Schule - die richtige Konsequenz aus Corona?
Mit großem Einsatz organisieren unsere LehrerInnen in der Corona-Krise ein digitales Schul-Notprogramm. Digitale Vernetzung macht es möglich. Ein großer Feldversuch. Eltern und Lehrer stoßen an Belastungsgrenzen. Zunehmend vermissen Schüler und Eltern die Lehrer und Erzieher, die Schule und KiTa. Keine Videokonferenz und Software kann sie ersetzen. Die Software- und IT-Branche wittert in der Corona-Krise die Chance, den Absatzmarkt Schule zu erobern. Die gegenwärtigen Probleme und Unzulänglichkeiten lägen daran, dass die Bildungseinrichtungen zu spät und nicht ausreichend digitalisiert und mit WLAN ausgestattet wurden! Nein, sagen dazu kompetente Bildungswissenschaftler.
FOMOGrafik: Christiane Pfohlmann - pfohlmann.de

Eine Lehrerin aus Südtirol schreibt uns:

"Wir werden am Tag 50 der Quarantäne hier schon langsam wahnsinnig … Schulen öffnen definitiv erst im September. Wir unterrichten am PC, mit kleinen Videogesprächen mit den Schülern und schriftlichen Aufgaben, aber alle Inhalte so aufzubereiten ist unglaublich viel Arbeit. Und die Kinder mögen auch nicht mehr ... Die Eltern sind auch schon ganz fertig.  Eltern sind  total entnervt und ich sitze für 12 Klassen täglich 8 Stunden am PC, auf die Dauer unerträglich. Die Kinder haben keine Lust  mehr. Hoffentlich geht der üble Spuk bald vorbei."

Und ein Hochschullehrer berichtet uns:

  • "Geisteruni: jedes Seminar, jede Unterrichtsstunde bildet normalerweise eine Sinngestalt, eine sachliche und menschliche Bedeutungsfigur. Jetzt herrscht Fragmentierung in inhaltlicher und persönlicher Hinsicht, eine jämmerliche Schwundform, eine Karikatur von Bildung. Die Sache wird verstümmelt und die Menschen verkümmern."

Nun überschlagen sich aber selbst Lehrerverbände mit der Forderung nach einer Volldigitalisierung und WLANisierung von Schule. Ist das die richtige Konsequenz? Eine Verklärung der Zustände und Interessen findet statt. Ein Virus dominiert die Welt. Google, Apple, Microsoft, Telekom und Co nutzen ihn als trojanisches Pferd, um ihre bestehende gesellschaftliche Dominanz auch auf das Erziehungswesen auszudehnen.

  • "Der Druck der Krise, der schnelles Handeln erfordert, eröffnet mächtigen Akteuren die Möglichkeit, sich neue Datenquellen zu erschließen und damit ihren bereits beträchtlichen Wissens- und Machtvorsprung noch weiter auszubauen", schreibt Felix Stalder, Professor für Digitale Kultur in Zürich (Le Monde diplomatique 4/2020).

Für die IT-Branche ist die digitale Beschulung keine vorübergehende Notmaßnahme, sondern sie will die Erziehung übernehmen, wie es Google schon teilweise in den USA geschafft hat. Die Googlification der Erziehung droht! Die pädagogische Atmosphäre, geschaffen durch den motivierenden Lehrer und den sozialen Klassenverband soll ersetzt werden durch den von Algorithmen gesteuerten Unterricht am PC. BigData unterrichtet den gläsernen Schüler! Der Lehrer soll zum Lernbegleiter als Anhängsel digitaler Maschinen werden. Die Pläne von Bertelsmann, Microsoft, Apple und Google liegen schon lange ausformuliert vor. Ihre digitalen Heilsversprechungen sind pädagogikfreie, verkaufsfördernde Argumente für einen Frontalunterricht am keimfreien Bildschirm.

Der Vorsitzende des Landesschülerbeirats Baden-Württemberg wurde im Interview gefragt, was unser Bildungssystem aus der Corona Krise lernen müsse? An erster Stelle führte er aus:

  • "Erst einmal müssen die sanitären Anlagen aller Schulen auf einen zeitgemäßen Stand gebracht werden: Wir brauchen warmes Wasser und Seife und moderne, saubere Toiletten. Da müssen die Kommunen investieren" (Stuttgarter Zeitung, 29.04.2020).

Und die Südtiroler Lehrerin sieht diese Konsequenz:

  • "Ohne Kontakt von Mensch zu Mensch geht Schule nicht. Ohne Vermittlung mit Empathie und Authentizität bleibt kein Lerninhalt in Kindern, berührt er sie nicht. Und ohne innere Berührung verkümmern unsere Seelen. Das haben wir alle wohl endgültig aus dieser anstrengenden Zeit in der "Schule" gelernt. Technische Ausstattung, alles ok, aber nur wohldosiert und unterstützend, jedoch nie ersetzend verstanden!"

Der Gesamtzustand des Bildungswesens und der Bildungsplanung muss auf den Prüfstand! Kein Mensch lernt digital: Wir dokumentieren einen Video-Vortrag und aktuelle Veröffentlichungen, die sich mit Konsequenzen aus den letzten Monaten virtueller Beschulung befassen:

  • Die Entzauberung eines Mythos - Was Schulen jetzt (nicht) brauchen. 10 Folgerungen aus der Zeit der Schulschließung und Daheimbeschulung, von Christian Bauer, Pädagogikdozent, Ludwig-Maximilian Universität München. Nachstehend.
  • So funktioniert Journalismus nicht. Medienvertretern fehlt die Sachkompetenz, Kommentar zur medialen Berichterstattung über die Digitalisierung von Schule und Unterricht, von Dr. Matthias Burchardt, Bildungsphilosoph, Universität Köln. Nachstehend.
  • Als PDF unter Downloads: Covid-19 als politischer Virus oder: Die Corona-Welle reiten 03: Abbau von Grundrechten, von Prof. Ralf Lankau, Lehrstuhl für Mediengestaltung und -wissenschaft, FH Offenburg.
  • Als Link: Die Lehren aus der Leere, von Wolfgang Schimpf, Süddeutsche Zeitung vom 27.04.2020.
  • Als PDF unter Downloads: WLAN an Kindertagesstätten und Schulen. Ein Hype verdrängt Risiken, von Peter Hensinger, M.A..
  • Video: Prof. Ralf. Lankau: Über die sogenannte digitale Bildung - und den lernenden Menschen.
StD Christian Bauer, LMU MünchenQuelle: edu.lmu.de

Die Entzauberung eines Mythos - Was Schulen jetzt (nicht) brauchen. 10 Folgerungen aus der Zeit der Schulschließung und Daheimbeschulung

von Christian Bauer, Lehrbeauftragter für Medienpädagogik am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung der LMU München

Digitale Medien sind ein Segen in Zeiten der Schulschließungen.

Ob Email, Austauschplattform, Lernprogramm, Telefon- oder Videokonferenz – all das ermöglicht, die Kommunikation zwischen Lehrkräften und Schülern und die Hoffnung, dass der Unterricht zumindest rudimentär aufrechterhalten werden könne. Wenigstens wenn die entsprechende technische Infrastruktur (Breitband u.v.m.) vorhanden ist.

Da konnten natürlich diejenigen nicht fehlen, die zu Beginn der Coronakrise den Jubelgesang auf das endgültige Ende der „Kreidezeit“, des altmodischen analogen Unterrichts und den Sieg der „Digitalen Bildung“ über die verkrustete „alte Schule“ anstimmten. Fünf Wochen später ist dieser Gesang erstaunlich leise geworden: ein Großteil der Eltern, Lehrer und Schüler singt nämlich nicht mehr mit. Vielen Betroffenen wurde in der realen Corona-Schulsituation klar, dass die Heilsversprechungen, mit denen die Interessenvertreter der Hard- und Softwareindustrie seit Jahren die Öffentlichkeit und Bildungsverantwortlichen vor sich hertreiben, sich in der nunmehr erzwungenen Realität als wenig belastbar erwiesen haben.

1. Egal, wie man zum sog. Digitalpakt steht: Auch die Ausschöpfung der darin vorgesehenen Mittel und die komplette Ausstattung aller Schulen mit interaktiven Whiteboards, Tabletkoffern, Laptopwagen oder WLAN hätte an den Problemen der Daheimbeschulung in Coronazeiten wenig geändert (denn diese Geräte stünden ja in den mit Betretungsverbot belegten Schulen).

2. Die tatsächlichen Schwierigkeiten gründen nämlich in technischer Hinsicht in der privaten Ausstattung der Lehrkräfte und vor allem der der Schülerinnen und Schüler. Technische Mindestvoraussetzungen für eine sinnvolle Fernbeschulung via Internet wären ein ruhiger Einzelarbeitsplatz mit angemessen großem Bildschirm, Tastatur, Maus, hochwertiger Kamera und Tontechnik sowie vor allem eine leistungsfähige Internetanbindung. Gäbe es solche Arbeitsplätze im Wohnzimmer oder der Küche einer Dreizimmerwohnung für z.B. zwei Elternteile (Home Office) und zwei Kinder (Home Schooling), dann wäre es keine Wohnung, sondern ein Großraumbüro oder ein Fernsehstudio.

3. Ein weiteres Narrativ der Schuldigitalisierer wurde durch die Coronaerfahrungen ebenfalls widerlegt: es seien die Lehrkräfte, die durch ihre technik- und zukunftsfeindliche Haltung den Fortschritt in den Schulen hemmten. In der Zeit der Fernbeschulung zeigte sich indes deutlich, dass der größte Teil der Lehrkräfte sehr wohl in der Lage ist, im Rahmen der Möglichkeiten mit Internet, Lernplattformen, Lernprogrammen etc. ein sinnvolles Lernangebot auf digitalem Wege zu machen. Allerdings sind sich die Mehrzahl der Lehrkräfte, Eltern und Schüler mittlerweile einig, dass es sich bei dieser Form der Beschulung um eine der Not geschuldete, allenfalls zweitbeste Lösung handelt.

4. Dem Digitalnarrativ zu Grunde liegt ein fundamentales Unverständnis des Lehr-Lern-Prozesses und der Lehrer-Schüler-Beziehung. Dieses Unverständnis wiederum geht einher mit  der der Digitalisierung inhärenten Reduktion eines äußerst komplexen Gefüges auf binäre Bausteinchen. Ginge es beim Lernen wirklich nur darum, dass irgendein Informationshäppchen auf dem Bildschirm angeboten, womöglich irgendwie animiert und schließlich in einem (letztlich doch binären) pseudointeraktiven (nicht interpersonalen!) Geschehen geübt wird, dann wären „digitales Lernen“ und „digitale Bildung“ tatsächlich einfach.

5. Und ja: Es gibt didaktisch hilfreiche Digitaltechnik, Anschauungsmaterial und Übungsmöglichkeiten, die manchen Schülern das Lernen erleichtern. Es gibt Jugendliche, die mit genau diesen Lernangeboten besonders gut zurechtkommen. Das soll Schule auch zukünftig ermöglichen und nutzen! Aber: Informationspräsentation und Informationsaneignung stellen nur einen winzigen, wiewohl wichtigen Ausschnitt im Lernprozess dar; und auch dieser Ausschnitt wird i.d.R. durch einen digitalen Prozess weniger erfolgreich geleistet als mithilfe einer guten Lehrkraft.

Was daher (allgemeinbildende) Schulen in der Nach-Corona-Zeit sicher nicht brauchen:

6. Immer mehr teure und störungsanfällige, interaktive Hightech-Tafeln, die zwar Symbol technischen Fortschritts sind, aber didaktisch und inhaltlich den Unterricht keinen Schritt weiterbringen, zumal bei Berücksichtigung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses. (Und für einen kulturellen Fortschritt wird man es nicht halten, dass statt mit einem Stift auch mit dem Finger geschrieben werden kann).

7. Weitere BYOD-Kampagnen („Bring your own device”): Den meisten Schülerinnen und Schülern (sog. digital natives) dürfte mittlerweile aufgefallen sein, dass das allgegenwärtige Smartphone zwar ein Wunderwerk der Technik ist, es aber nicht möglich ist, auf dem Display ein halbwegs anspruchsvolles Arbeitsblatt auch nur rein optisch lernförderlich darzustellen, geschweige denn einen inhaltlichen Überblick zu bieten. Das Smartphone ist und bleibt, was Apple-Gründer Steve Jobs gesagt hat: Unterhaltungselektronik für Erwachsene. Für die meisten Lern- und Unterrichtskontexte der allgemeinbildenden Schulen ist es ein untaugliches Gerät.

8. Tablet-/ipad-Klassen: Ganz abgesehen von der Frage, wer den Begriff „ipad-Klasse“ in den Bildungsdiskurs einführt hat – warum gibt es eigentlich keine „Galaxy-Klassen“? (War der Lobbyist von Apple schneller im Bildungsministerium als sein Kollege von Samsung?) Auch für Tablets gilt, dass die Displaygröße für viele Unterrichtsinhalte und tatsächlich sinnvolles Arbeiten eher zu gering ist; ähnliches gilt für die Eingabegeräte (Tastatur, Maus). Das Kosten-Nutzenverhältnis rechtfertigt auch hier die flächendeckende Ausstattung der Schulen nicht. Die meisten Schüler erwarten darüber hinaus zu Recht, dass nach der Coronazeit in der Schule wieder „richtiger“, interpersonaler Unterricht stattfindet und sie nicht mit Geräten abgespeist werden.

9. WLAN und noch breitere Breitbandverbindungen nach der Devise „5G an jedem Federmäppchen“. Wie Lehrer, Eltern und vor allem Schüler gerade unfreiwillig erfahren haben, funktioniert guter Unterricht in erster Linie eben nicht im und durch das Internet und auch nicht über Lernäpps. Für die sinnvolle Unterrichtseinbindung von Inhalten aus dem Netz reicht eine funktionierende (kabelgebundene) Internetanbindung des Lehrerrechners.

Was brauchen Schulen tatsächlich?

10. Zeitgemäße Schulen benötigen ein funktionierendes, digitales AV-Medienensemble in jedem Unterrichtsraum. Dieses beinhaltet u.a. auch professionelle Installation (Verkabelung, Signalmanagement) und entsprechendes Spezialmobiliar. Die Installation und Wartung von Hard- und Software können nicht „nebenbei“ von Lehrkräften erledigt werden. Vielmehr bedarf es dazu zusätzlicher personeller Ressourcen. Lernplattformen und Kommunikationssysteme zwischen Lehrern und Schülern müssen höchsten, europäischen Datenschutzanforderungen genügen. Es ist empörend, dass Lehrern und Schülern seitens etlicher Schulbehörden für die Zeit der Daheimbeschulung Softwarelösungen amerikanischer Anbieter wie MS Teams oder Zoom aufgedrängt wurden, die die europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) massiv unterlaufen.

Nach fester Überzeugung der meisten Lehrenden an allgemeinbildenden Schulen ließe sich der bei weitem positivste Effekt für das Lernen und die Bildung der Schülerinnen und Schüler durch eine grundsätzliche Verkleinerung der Lerngruppen erzielen. Keine Klasse über 20 Schüler! Die Schule als Lernort, an dem sich die Schülerinnen und Schüler wohlfühlen, weil sie in ihrem Klassenraum genügend individuellen Platz haben, dort nicht nur zu Pandemiezeiten für hygienische Verhältnisse gesorgt wird und das Mobiliar nicht sperrmüllverdächtig ist – hier ließen sich die Bildungsmilliarden sinnvoller investieren als in die zweitbeste Lösung!

Es wäre zu wünschen, dass die jetzt zutage getretene Ernüchterung bezüglich der Verheißungen der sog. Digitalen Schule dazu führt, dass wieder die Vorstellung des autonomen, vernünftigen Menschen im Sinne Immanuel Kants in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen und bildungspolitischen Diskurses rückt. Das wäre auch ein wichtiger Baustein für die Zukunft der liberalen Demokratien und der Menschenrechte nach unserem heutigen, westeuropäischen Verständnis. Sapere aude!

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors

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Gottfried Böhme: Wer die Schule ändert, der ändert die Gesellschaft. Schule bisher: Schule ist, wo Schüler auf Lehrer trifft. Nach Corona?: Schule ist, wo Schüler auf Algorithmus trifft?

"Die Stunden und Jahre, die ein Jugendlicher in der Schule verbringt, sind ... gegenwärtig der größte Bereich unserer menschlichen Wirklichkeit, der von den Datenkapitalisten kaum eingesehen wird. Dieses Terrain zu erobern, muss diejenigen fürchterlich jucken, die sich dem Projekt verschrieben haben, über die Akkumulation sämtlichen verfügbaren Wissens, sämtlicher verfügbarer Informationen endgültig zur Macht zu gelangen, denn Wissen ist Macht ... In den Blick geraten sind ... die Daten von Menschen, die den größten Teil ihres Lebens noch vor sich haben. Jetzt also greift Big Data nach der Schule ... Es geht nicht um eine Ergänzung des Unterrichts, es geht um die Neudefinition dessen, was Schule heißt. Die Digitalwirtschaft tritt mit dem Anspruch auf: Wir machen alles neu! Alles muss anders werden. Und sie muss auch keine Mordbuben beauftragen wie der greise Faust, im Gegenteil, es blinkt und ploppt, wenn die Schüler die Lernprogramme nutzen, während ihre Verhaltensdaten abgeschöpft werden." (aus: Gottfried Böhme: Der gesteuerte Mensch? Digitalpakt Bildung-eine Kritik,2020, S.20/21)  ___________________________________________________________________________

Bildungsphilosoph Dr. Matthias Burchardt, Universität KölnQuelle: philosophicum.com

So funktioniert Journalismus nicht. Medienvertretern fehlt die Sachkompetenz

Kommentar zur medialen Berichterstattung über die Digitalisierung von Schule und Unterricht von Dr. Matthias Burchardt, Universität zu Köln, 27.04.2020

Die digitale Fernbeschulung ist ein gewaltiger Reinfall. Wer ist an allem schuld? Die faulen Lehrer mit ihren Berührungsängsten und ihrem Unvermögen, digitale Plattformen zu bedienen. So zumindest sehen es viele Kommentatoren und bedienen damit die üblichen Ressentiments gegen Lehrkräfte. Wer Lehrer-Bashing betreibt, kann stets mit Beifall rechnen, ohne sich die Mühe machen zu müssen, einen Sachverhalt wirklich zu durchdringen. Nach eigener Erfahrung als Vater fernbeschulter Kinder und Erziehungswissenschaftler an der Universität muss ich entschieden widersprechen:

  1. Digitale Plattformen sind – insbesondere diejenigen, welche eigentlich zunächst in Unternehmen als Tools im Projektmanagement dienen sollten, wie etwa Microsoft Teams – völlig ungeeignet, pädagogischen Mehrwert zu generieren.
  2. Mit der Zustellung von Arbeitsblättern und deren anschließender Kontrolle geschieht noch keine Pädagogik. Entscheidend ist doch, was zwischendurch im Unterricht stattfinden müsste: didaktische Sacherschließung, Lehren und Lernen, Erkären, Üben und Verstehen, Einbettung der fachlichen Fragen in die persönlichen Beziehungen der Menschen und in den Kontext der gemeinsamen Lern-Geschichte.
  3. Stattdessen findet digitales Boulevard-Theater statt: Lehrkräfte haben ein schlechtes Gewissen und füllen die Aufgabenslots der Schüler. Schüler geraten in eine Erledigermentalität: Hauptsache, das Aufgabenblatt geht fristgerecht zurück, ob man dabei etwas lernt, ist nachrangig. Eltern verzweifeln, weil sie neben der eigenen Lebensbewältigung plötzlich die Taktungen der Fernbeschulung zum Organisationsprinzip der Familie machen sollen. Wenn sich die Kinder dann als wenig maschinengängig erweisen, wird entweder kapituliert, das Kind drangsaliert oder das Arbeitsblatt elternseits ausgefüllt. Schließlich geht es ja nur um Theater.
  4. Ja, Theater! Eine kollektive Illusion, die verschleiert, dass digitale Fernbeschulung kein Ersatz für, sondern das Gegenteil von schulischer Bildung ist. Wenn jetzt die Digitalisierungsjournaille fordert, die Schauspieler besser zu coachen und mehr Geld für Requisiten auszugeben, mag der schöne Schein das triste Sein trotzdem nicht zu überstrahlen!
  5. Schule und guter Präsenzunterricht sind unersetzbar! Digitale Plattformen sind prinzipiell ungeeignet, Lehren, Lernen und Bildung in einem humanistischen (und sogar in einem funktionalistischen) Sinne zu ermöglichen. Sie suspendieren das essentielle Element und Fundament jeglicher Pädagogik: Die reale Beziehung zwischen Lehrperson und jungen Menschen in geteilter Zuwendung zu einer mehr oder minder anspruchsvollen Sache. Relevanz gewinnt diese Sache nicht durch selbstgesteuerte Arbeitsblattausfüllung oder infantile Lernsoftware, sondern nur im realen Dialog unter pädagogische Führung durch die Lehrkraft, die sich auf das Thema und die Kunst des Unterrichtens versteht.
  6. Es ist ausgesprochen zynisch, wie die Digitalisierungslobby die Sorge der Menschen in den Zeiten der Pandemie ausbeutet, um ihre düstere Agenda im Bildungswesen durchzudrücken.
  7. Das Wesen der kostbaren kulturellen Errungenschaften zeigt sich mitunter erst in ihrem Fehlen. Schule, Unterricht und gebildete Lehrkräfte sind das Rückgrat des Gemeinwesens: Sie gewährleisten das Gedeihen von Wirtschaft, Wissenschaft, Demokratie und Kultur. Es käme uns in jeder Hinsicht teuer zu stehen, wenn wir all das aufgeben würden zugunsten einer digitalen Scheinwelt. Die nächsten Monate werden zeigen, dass unser Essen nicht im Internet wächst, dass Surfen am Bildschirm keine Reise ans Meer oder Youporn nicht den Zauber eines maskenlosen Antlitzes ersetzen kann, dass unsere fernen Facebook-Freunde uns nicht in den Arm nehmen können und dass es Wirtschafts- und Kulturzweige gibt, die der Realität bedürfen.
  8. Das Virus und vielleicht mehr noch die Folgen der Maßnahmen zu seiner »Bekämpfung« werden die nächste Generation vor erhebliche Aufgaben stellen. Digitales Schmierentheater könnte nicht ausreichen, um sie auf dieses harte Leben vorzubereiten.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors, Quelle: www.bildung-wissen.eu

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Video-Vortrag Prof. Ralf Lankau: Über die sogenannte digitale Bildung - und den lernenden Menschen

Publikation zum Thema

Januar 2020Format: DIN A4Seitenanzahl: 100 Veröffentlicht am: 16.03.2020 Bestellnr.: 787, Preis: 9,50 Euro ISBN-10: ISBN 978-3-9820585-1-1Sprache: DeutschHerausgeber: diagnose:funk

Smart City, Digitale Bildung, Elektromagnetische Felder

Informationen zu den Folgen der digitalen Transformation unserer Gesellschaft
Autor:
Dr. Wolfgang Baur, Prof. Karl Hecht, Peter Hensinger M.A., Prof. Wilfried Kühling, Prof. Gertraud Teuchert-Noodt, Dipl. Biol. Isabel Wilke, Dr. Ulrich Warnke
Inhalt:
Sammelband der 100 Argumente - ein Handbuch für Eltern, Erzieher und Pädagogen und die Arbeit von Bürgerinitiativen. Die digitale Transformation der Gesellschaft prägt seit ca. 15 Jahren unsere Epoche.Wir sind Zeitzeugen dieses schnellen Wandels und können ihn noch beeinflussen. Die digitale Transformation hat Folgen für die Demokratie, die Umwelt und die Entwicklung des Individuums, seine Gesundheit und Psyche! Dieser Sammelband enthält 15 Artikel, die v.a. in der Zeitschrift umwelt-medizin-gesellschaft erschienen sind. Jeder Artikel informiert kompakt, kurzweilig und wissenschaftlich fundiert über ein Fachgebiet: • Smart City-die Auswirkungen des digitalen Umbaus der Städte • Forschungsergebnisse über digitale Medien und die Gehirnentwicklung bei Kindern • Interviews zur geplanten digitalen Bildung und ihren Risiken • WLAN an Schulen-was man über die Auswirkungen auf das Gedächtnis und Lernen weiß • Der Forschungsstand zu den Risiken der elektromagnetischen Felder des Mobilfunks und 5G • Die Bedeutung der elektromagnetischen Felder für die Evolution • Wissenschaftsdebatte: mit welchen Theorien wird heute versucht, Erkenntnisse über Risiken wegzudiskutieren • Die Ideologie der Digitalisierung. Umfangreiche Quellenangaben zu jedem Artikel geben dem Leser die Möglichkeit, selbst weiter zu recherchieren.
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