Bildungsappell der 75 ExpertInnen (II): Hintergründe und Material

Für eine pädagogische Wende: Investitionen in natürliche statt in künstliche Intelligenz!
Der Experten-Appell "Humane und emanzipierende Bildungspolitik vs. digitale Transformation" basiert auf den Erkenntnissen der Pädagogik und der Entwicklungspsychologie und stellt sich gegen eine Bildungspolitik, die von der Industrie initiiert wurde. Als erste Maßnahmen fordert er bildschirmfreie Schulen bis einschließlich der Grundschule und Smartphoneverbote an Schulen. In diesem Artikel dokumentieren wir Publikationen der Wissenschaftler, die seit Jahrzehnten Wege aus der Bildungskatastrophe zeigen.
Welche Folgen hat die telefonbasierte Kindheit, was heißt das für KiTa und Schule?Karikatur:Riemann "Devolution"

75 Bildungs-Expertinnen und Experten fordern in ihrem Aufruf "Humane und emanzipierende Bildungspolitik vs. digitale Transformation" von der Bundesregierung und den Abgeordneten des Deutschen Bundestages, dass sie die Digitalisierung an KiTas und Schulen stoppen, weil sie die Bildungskrise beschleunigt und Kinder und Jugendliche krank gemacht hat. Sie fordern altersbedingte Smartphone-Verbote und bildschirmfreie Kitas und Schulen bis einschließlich der Grundschulen als Auftakt für eine pädagogische Wende in der Bildungspolitik.

Die Unterzeichner des Appells sind Schulpraktiker und Wissenschaftler, darunter bekannte Lehrstuhlinhaber u.a. aus der Neuorobiologie Prof. Martin Korte und Prof. Gertraud Teuchert-Noodt, die Psychiater und Psychologen Prof. Manfred Spitzer, Prof. Christoph Möller und Prof. Christian Montag, der Soziologe Prof. Richard Münch, die Pädagogen Prof. Klaus Zierer, Prof. Ralf Lankau und Dr. Mario Gerwig, der Jugend- und Kinderarzt Dr. Uwe Büsching. In der Einleitung des Appells heisst es:

  • "Der Bildungsnotstand in Deutschland vertieft sich. Vor 10 Jahren versprach die Kultus-ministerkonferenz eine Wende durch die Digitalisierung des Erziehungswesens. Die Wende scheiterte. Mindeststandards in Lesen, Rechnen, Schreiben und Sprachkompetenz werden immer weniger erreicht. Heute stellt die Erziehungswissenschaft fest: Die Digitalisierung ist nicht die Lösung, sondern ein zentrales Problem. Schon Kleinkinder beherrschen zwar die Bedienung von Touchscreens, geraten aber dabei in die Abhängigkeit der Tech-Konzerne. Kinder und Jugendliche leben in TikTok-Parallelwelten und werden in Filterblasen indoktriniert. Immer mehr sind gefangen im Netz. Die psychische und körperliche Gesundheit unserer Kinder leidet, das Bildungsniveau sinkt, das demokratische Bewusstsein erodiert. So hilfreich Digitaltechnik in vielen Lebensbereichen sein kann, so kritisch muss sie beim Einsatz in Bildungseinrichtungen reflektiert werden. Gefordert sind politische Entscheidungen für eine an den Bedürfnissen des Menschen orientierte Bildungspolitik."

Grafik: Die Korrelationen von Digitalisierung und Kompetenzverlusten

Grafik:diagnose

Das Bündnis für humane Bildung kritisiert seit 2017, als die damalige Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) den Digitalpakt-Schule mit der Industrie vereinbarte, dass dies lediglich den Profiten der Industrie nützt. Die Warnungen des Bündnisses vor den Schäden für die Kinder bestätigten sich (s. Grafik). Die UNESCO-Analyse, Gutachten in vielen Ländern und nicht zuletzt die Untersuchung von Jonathan Haidt (s. Grafik unten) führten dazu, dass in immer mehr Ländern die Digitalisierung rückgängig gemacht wird. In der Pressemitteilung des Expertenappells heißt:

  • „Die Digitalisierung in Schulen hat nicht zu besseren Bildungsergebnissen geführt – im Gegenteil,“ analysiert der Medienwissenschaftler Prof. Ralf Lankau, einer der Initiatoren des Appells. „Kinder geraten immer früher in die Abhängigkeit von digitalen Endgeräten und sozialen Netzwerken, was nicht nur ihre Bildung und das demokratische Bewusstsein, sondern auch ihre Gesundheit und die Sozialkompetenz beeinträchtigt. So hilfreich Digitaltechnik in vielen Lebensbereichen sein kann, so kritisch muss sie beim Einsatz in Bildungseinrichtungen reflektiert werden: Die Digitalisierung macht unsere Kinder dümmer. Daher fordern wir, dass sich die Bildungspolitik wieder an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientiert.“

Weiter heißt es in der Pressemitteilung:

  • „Die 70 Expert:innen fordern ein Umdenken: Schulen sollen sich wieder auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren – die Vermittlung einer ganzheitlichen Bildung, die kritisches Denken, soziale Kompetenzen und kulturelle Bildung in den Mittelpunkt stellt – kurz: natürliche Intelligenz.“

Appell fordert pädagogische Zeitenwende

Bildschirmfreie Kindergärten und Grundschulen und Smartphoneverbote sind ein erster Schritt. Der Mitinitiator des Appells, Prof. Klaus Zierer, publizierte eine weltweit beachtete Metastudie mit dem Nachweis, dass ein begleitetes Smartphoneverbot sofort das Schul- und Lernklima verbessert. Diesen Verboten muss eine Neuausrichtung des Bildungswesens folgen. Harald Lesch / Klaus Zierer schreiben in ihrem aktuellen Buch:

  • "Es ist also Zeit, Bildung anders zu denken ... wir brauchen eine Revolution im Bildungssystem ... Wir fordern nicht weniger als eine pädagogische Zeitenwende." (S. 8/10)

Der Appell, den Prof. Zierer mit initiiert hat, skizziert die Richtung.

Der Appell Teil I mit Unterzeichnern

Der Appell Teil II mit Hintergründen und Alternativen

Literaturliste zum Appell

Zu den Internetseiten der Initiatoren: Die pädagogische Wende, Bündnis für humane Bildung

Grafiken: diagnose:funk

Schluss mit der Ökonomisierung der Bildung für den verwertbaren Untertan! Investitionen in natürliche statt in künstliche Intelligenz!

Damit die bildungspolitische Wende gelingt, sind insbesondere Elternbeiräte, Erzieher, Lehrer und ihre Gewerkschaften aufgefordert, aktiv zu werden. Der Appell entwirft ein positives Bild, in welche Richtung sich die Bildungspolitik entwickeln muss. Er wird nur Wirkung zeigen, wenn v.a. Eltern, Lehrer und Erzieher vor Ort ihn aufgreifen. Schreiben Sie an Ihre Abgeordneten und die Kultusbehörden! Leiten Sie den Appell weiter mit der Bitte um Stellungnahme.

Die Literatur zur Kritik an der "Digitalen Bildung" hat eine Kernaussage: Kein Mensch lernt digital!

Es muss jeden Pädagogen herausfordern, die Hintergründe der Bildungskatastrophe und Lösungsmöglichkeiten zu kennen, um zur Veränderung beizutragen. "Raus aus der Kreidezeit"- mit diesem Narrativ, das im Kern eine Diffamierung bisheriger Pädagogik bedeutet, wurde die Digitale Bildung vermarktet. Tim Engartner (Raus aus der Bildungsfalle, 2024) beschreibt den Irrweg und Ausweg:

  • "So dominiert in Bildungspolitik und Administration derzeit ein Verständnis von Bildung, das auf ökonomische Verwertbarkeit ausgerichtet ist und damit einen warenförmigen Charakter annimmt. Bildungseinrichtungen sollen das liefern, was der Arbeitmarkt verlangt: Employability statt Mündigkeit und Reflexion lautet das Credo." (S.34). Dem setzt Engartner die Aufgabe von Schule entgegen:
  • "Aber herrscht nicht Einigkeit, dass Bildung es Lernenden ermöglichen soll herauszufinden, was in ihnen steckt, und zwar alles, - sprich eine ganze Welt, nicht nur die Berufswelt? Dieser bewährte Gedanke steht im Widerspruch zu den jüngeren Entwicklungen unseres Bildungssystems." (S.35)

Spätestens seit 2012, der Publikation des Buches „Die digitale Demenz“ von Prof. Manfred Spitzer und den Analysen des Pädagogen Jürgen Krautz (2007) und des Soziologen Richard Münch (2009, 2018, 2025), die den industriellen Hintergrund der „Digitalen Bildung“ aufdeckten, hätten v.a. die Lehrerverbände diese digitale "Reform" verhindern müssen. Stattdessen sangen viele von ihnen das hohe Lied der Digitalisierung mit und trugen damit zur Vertiefung der Bildungskatastrophe bei. Bemerkenswerte Ausnahme war das Positionspapier des Philologenverbandes Baden-Württemberg "Digitalisierung im Bildungsbereich" (2019). Spätestens jetzt, wo die Schädigungen durch die Digitalisierung messbar eingetreten sind, sollten die Lehrerverbände umsteuern und aktiv werden.

Wir dokumentieren hier Fachartikel und Bücher, die verantwortungsvolle Pädagogen, Elternvertreter, aber v.a. die Verbandsfunktionäre und Entscheider, kennen sollten. Die aktuellen Bücher von Harald Lesch / Klaus Zierer "Gute Bildung sieht anders aus. Welche Schulen unsere Kinder jetzt brauchen" (2024) und Tim Engartners "Raus aus der Bildungsfalle. Warum wir die Zukunft unserer Kinder gefährden. Digitalisierung ist nicht die Lösung, sondern das Problem" (2024) stellen der Digitalisierung ausführlich schulpolitische und pädagogische Alternativen gegenüber.

Zusammenfassende Fachartikel von Förschler, Hensinger, Lankau, Spitzer, Teuchert-Noodt und Zierer können Sie in der rechten Download - Spalte kostenlos herunterladen!

  • Hinweis: Welcher Zusammenhang zwischen den psycho-sozialen Folgen, den Lernschädigungen und den Einwirkungen der Strahlenbelastung durch Smartphones und Tablets auf das Gehirn besteht, analysiert anhand neuester Studien die Neurobiolgin Dr. Keren Grafen in einem >>> Interview.
Pädagogische Literatur, Titel: Verlage
Pädagogische Literatur, Titel: Verlage

Die Ökonomisierung der Bildung, verkauft als Digitale Bildung, ging von der OECD und der PISA-Organisation aus mit dem Ziel, der Industrie das Geschäftsfeld Schule zu erschließen. Das analysieren die Bücher des Soziologen Richard Münch und des Medienpädagogen Jochen Krautz. 

Das Lobbynetzwerk in Deutschland wird im Artikel und der Grafik von Förschler dargestellt ( Förschler, A. (2018). Das ‚Who is who?‘ der deutschen Bildungs-Digitalisierungsagenda – eine kritische Politiknetzwerk-Analyse. Pädagogische Korrespondenz, 58(2), S. 31-52)

Das Netzwerk der DigitalisierungslobbyGrafik: Förschler 2018

Publikation zum Thema

diagnose:funk
Stand: 08.10.2024Format: DIN A4Seitenanzahl: 37 Veröffentlicht am: 29.08.2024 Sprache: deutschHerausgeber: diagnose:funk

Überblick Nr. 7: Kinder und digitale Medien – Eine pädagogische Herausforderung!


Autor:
diagnose:funk
Inhalt:
Überblick Nr. 7 dokumentiert, warum eine zu frühe und unregulierte Nutzung des Smartphones und anderer digitaler Medien zu negativen Auswirkungen führen kann. Schwerpunktmäßig werden Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und Neurobiologie behandelt. Es werden Lösungsmöglichkeiten für Eltern, Erziehende und die Politik aufgezeigt, um Kinder und Jugendliche vor einer Smartphonesucht zu bewahren.
Januar 2022Format: A4Seitenanzahl: 12 Veröffentlicht am: 18.01.2022 Bestellnr.: 247Sprache: deutschHerausgeber: diagnose:funk

Wie die Telekommunikationsindustrie die Politik im Griff hat


Autor:
diagnose:funk
Inhalt:
diagnose:funk legt in diesem Brennpunkt eine Recherche zur Lobbyarbeit der Mobilfunkindustrie und BITKOM-Branche zur Digitalisierung vor, basierend auf der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE „Beziehungen von Telekommunikationsunternehmen zur Bundesregierung“ (Bundestagsdrucksache 18/9620, 13.09.2016). Sechs Grafiken verbildlichen die Verflechtungen. Politisch eingeordnet wird diese Analyse auf Grund eigener Erfahrungen mit Besuchen bei Bundestagsabgeordneten und dem neuen Buch „Lobbyland. Wie die Wirtschaft unsere Demokratie kauft“ (2021) des ehemaligen Dortmunder SPD-Abgeordneten Marco Bülow über seine 18-jährigen Erfahrungen im Bundestag und weiteren Literaturrecherchen.
Artikel veröffentlicht:
12.03.2025
Autor:
diagnose:funk
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