Die Neurobiologie hat nachgewiesen, wie die Reizüberflutung durch digitale Medien den Gehirnstoffwechsel beeinflusst, die Entwicklung des Stirnhirns (präfrontaler Kortex) hemmt und auch zur Sucht führen kann. Das erläutert Prof. Gertraud Teuchert-Noodt in ihrem Video -Vortrag. Die Studie von Kim et al. (2024) „Hochfrequenz-Exposition induziert synaptische Dysfunktion in kortikalen Neuronen, die Lern- und Gedächtnisveränderungen in frühen postnatalen Mäusen verursacht“ weist nun auch auf molekularer Ebene pathologische Wirkungen der hochfrequenten Strahlung auf die Gehirnentwicklung im präfrontalen Kortex (Stirnhirn) nach. Mobilfunkstrahlung hemmt die Entwicklung der synaptischen Struktur und ihrer Dichte sowie das Neuritenwachstum mit negativen Folgen auf das Verhalten, das räumliche Lernen und Gedächtnis.
Negative Auswirkungen der Strahlung von Handys auf das Gedächtnis wurden nicht nur in Tierversuchen nachgewiesen. Eine Studie mit dem Titel „Eine prospektive Kohortenstudie zur Gedächtnisleistung von Jugendlichen und die individuelle Hirndosis der Mikrowellenfelder durch Funkkommunikation“ mit 700 Jugendlichen in der Schweiz ergab, dass hochfrequente elektromagnetische Felder von Mobiltelefonen sich nachteilig auf die Entwicklung der Gedächtnisleistung im figuralen und verbalen Gedächtnis auswirken. Sie wurde vom Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut durchgeführt (Förster et al. 2018, Schoeni et al.2015). Ein Jahr lang wurde die Handynutzung von Zwölf- bis Siebzehnjährigen ausgewertet. Wie zu erwarten, wiesen Vieltelefonierer eine erhöhte Strahlenbelastung des Gehirns auf. Die spannende Erkenntnis: Je mehr Telefonate geführt werden, desto schlechter fällt die Leistung im figuralen Gedächtnistest aus. Auch das verbale Gedächtnis zeigte schlechtere Ergebnisse.
Haben Kim et al. nun eine neurobiologische Erklärung für die Ergebnisse von Förster et al. geliefert? Welche Relevanz haben diese Studienergebnisse? Dazu befragten wir die Neurobiologin Dr. Keren Grafen.
Hippocampus – Zentrum für effektives Lernen
DIAGNOSE:FUNK: Frau Dr. Grafen, wir möchten Sie um eine Beurteilung der Ergebnisse der zwei Studien von Kim und Förster bitten, die beide die Auswirkungen von Handystrahlung auf das Gehirn untersuchten. Zuerst für unsere Leser, die keine Biologen sind, die Frage: Welche Funktion hat der Hippocampus? Welche Rolle spielen Synapsen und Neuriten im Gehirn?
KEREN GRAFEN: Sehr gern! Der Hippocampus ist eine faszinierende Struktur des Gehirns, der eine entscheidende Rolle für das Kurzzeitgedächtnis, den Transfer von Informationen ins Langzeitgedächtnis, sowie für Emotionen, Motivation und die räumliche Orientierung spielt. Der Name „Hippocampus“ leitet sich von seiner Form ab, die an ein Seepferdchen erinnert.
Ein bemerkenswertes Merkmal des Hippocampus ist seine Fähigkeit zur lebenslangen Neubildung von Nervenzellen. Diese erfolgt in einem embryonalen Keimlager, das sich im Hippocampus befindet und eine kontinuierliche Neurogenese ermöglicht. Dieser Prozess trägt maßgeblich zur neuronalen Plastizität bei, indem er die Anpassungsfähigkeit des neuronalen Netzwerks erhält und die Entstehung starrer Strukturen verhindert. Da der Hippocampus fortlaufend neue Informationen speichern muss, bleibt das System gezwungenermaßen empfänglich für Umweltreize. Dieses Phänomen, bekannt als hippocampale Neurogenese, stellt einen zentralen Forschungsbereich dar, mit dem ich mich über viele Jahre intensiv beschäftigt habe. Wichtig ist zu wissen, dass die Bildung neuer Nervenzellen im Hippocampus bis ins hohe Erwachsenenalter bestehen bleibt, als essentielle Voraussetzung für Lernprozesse, emotionale Regulation und kognitive Flexibilität.
Eine weitere zentrale Funktion des Hippocampus ist seine Beteiligung an der Erstellung kognitiver Landkarten. Die Entdeckung der Place Cells („Ortszellen“) im Hippocampus und der Grid Cells („Gitterzellen“) im angrenzenden entorhinalen Kortex wurde 2014 mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet. Diese spezialisierten Nervenzellen sind essenziell für die Kodierung räumlicher Informationen und ermöglichen die Berechnung interner Karten zur Navigation.
Die neuroanatomische Grundlage all dieser Prozesse bilden Neuriten, also Axone und Dendriten, die eine umfassende Vernetzung zwischen den Nervenzellen gewährleisten. Synapsen spielen eine entscheidende Rolle für die Signalübertragung und ermöglichen den Informationsaustausch innerhalb neuronaler Netzwerke.
Eine Schädigung des Hippocampus hat weitreichende Folgen für kognitive und räumliche Prozesse. Experimentelle Studien an Nagetieren zeigen, dass ohne diese Struktur kein effektives Lernen mehr möglich ist – ein Befund, der auch beim Menschen bestätigt wurde. Der Fall des Patienten H.M., dem in den 1950er-Jahren beidseitig der Hippocampus entfernt wurde, verdeutlicht eindrucksvoll die zentrale Bedeutung dieser Region: Nach dem Eingriff war er weder in der Lage, neue Erinnerungen zu bilden, noch konnte er sich räumlich orientieren.