
KOMPAKT: Sehr geehrte Frau Sautter, Sie arbeiten als Sozialpädagogin bei der „Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung“ (EUTB) Allgäu in Kempten. Welche Aufgaben hat die EUTB?
STEFANIE SAUTTER: Wir sind Lotse und helfen Ratsuchenden, sich im „Sozialdschungel“ zurecht zu finden. Wir sind oft Erstanlaufstelle, informieren über Möglichkeiten des Sozialstaats und zeigen, wo die richtigen Ansprechpartner, Ämter sind, wo Sozialleistungen beantragt werden können. Wir beraten vorrangig zum Thema Teilhabe von Menschen mit (drohender) Behinderung am gesellschaftlichen Leben. Es geht um Teilhabe an Arbeit, Bildung, Freizeit, Alltagsbewältigung, sozialem Leben. Dazu gehören beispielsweise Informationen zu:
Wir beraten unabhängig, kostenlos und ergänzend zu anderen Beratungsangeboten zu den Rehabilitations- und Teilhabeleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Neun (SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) und dem Bundesteilhabegesetz (BTHG).
KOMPAKT: Kann Elektrohypersensibilität (EHS) als eine Behinderung gesehen werden?
STEFANIE SAUTTER: Meines Erachtens kann das definitiv mit „ja“ beantworten. Der Behindertenbegriff, der mit der Behindertenrechtskonvention und dem Bundesteilhabegesetz neu gefasst wurde, lautet wie folgt:
Neu daran ist der Teil „in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren“. Mit dieser Definition wird nicht der Mensch selbst als behindert betrachtet, sondern der Mensch wird durch seine Umwelt behindert. Übertragen auf Menschen mit EHS zeigt sich die Behinderung durch das Umfeld deutlich. Diese sind mehr gehindert als behindert, an der Gesellschaft teilzuhaben, da sie aufgrund der Strahlenbelastung von der Teilhabe in extrem hohem Maße ausgeschlossen sind.
EHS kann als Schwerbehinderung anerkannt werden. Es gibt in Deutschland einzelne Fälle, die einen Grad der Behinderung bis zu 80 % erreichten. Diese Entscheidungen sind aber sehr abhängig vom Sachbearbeiter und benötigen eine sehr anschauliche Darstellung der Beeinträchtigungen bei der Antragsstellung.
KOMPAKT: Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen ließ in einem Schreiben durch eine Mitarbeiterin erklären: „Stellt ein*e Gutachter*in der Versorgungsverwaltung fest, dass sich jemand durch Mobilfunkstrahlung stark in seiner Teilhabe eingeschränkt sieht, kann daraus schon heute die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) erfolgen, auch wenn Elektrohypersensibilität nicht ausdrücklich in der Versorgungsmedizin-Verordnung genannt ist.“ Wozu raten Sie, wenn Antragsstellende einen ablehnenden Bescheid erhalten?
STEFANIE SAUTTER: Die EUTB selbst darf keine Rechtsberatung machen, aber wir raten zu Widerspruch und gegebenenfalls Klage. Allerdings ist es hier gut, eine Rechtsschutzversicherung mit hoher sozialrechtlicher Absicherung zu haben. Bei finanziellem Engpass kann Prozesskostenhilfe bei Gericht beantragen werden. Eine weitere rechtliche Unterstützungsmöglichkeit sind Sozialverbände. Sie bieten ihren Mitgliedern sozialrechtliche Beratung und Vertretung in Klageverfahren vor Sozialgerichten. Größte Sozialverbände sind der VdK und der Sozialverband Deutschland e. V. (SoVD). Widerspruch und Klage schrecken viele ab, der EUTB Allgäu wurden aber auch positive Ergebnisse bekannt. Bei erfolgreicher Klage kann die Gerichtsentscheidung auch für andere hilfreich sein.
KOMPAKT: Was sagt das Bundesteilhabegesetz (BTHG) aus?
STEFANIE SAUTTER: Das BTHG setzt – gemeinsam mit dem SGB IX - die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen in Deutschland um. Es ist ein Artikelgesetz, das das SGB IX ergänzt. Hier geht es vorrangig um die Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit (drohender) Behinderung. Im BTHG (§ 32) wurde auch die EUTB installiert.
KOMPAKT: Welche Hilfsmöglichkeiten hat die EUTB?
STEFANIE SAUTTER: Die EUTB hat die Aufgabe zu beraten. Ich persönlich sehe meine Aufgabe aber auch darin, über Missstände aufzuklären. Dazu gehört für mich, dass EHS und MCS nicht gesehen und nicht gekannt werden. Seit ich mich selbst mehr damit auseinandersetze, erfahre ich erst, dass die wenigsten Menschen schon von MCS und EHS gehört haben. Hier sehe ich Aufklärung als vorderste Aufgabe der EUTB. Dann auch wieder die Lotsenfunktion zu Selbsthilfeverbänden, Betroffenen, Fachstellen, wie z.B. Baubiologen, Umweltmedizinern (von denen es leider viel zu wenige gibt).
KOMPAKT: Gibt es die EUTB bundesweit?
STEFANIE SAUTTER: Die EUTB gibt es in ganz Deutschland. Es sind über 500 EUTB Beratungsstellen, die für alle Menschen mit (drohender) Behinderung, Angehörige und Interessierte da sind. Es sind vorrangig selbst Betroffene und Angehörige von Menschen mit Behinderung als Berater*innen tätig, um aus der eigenen Erfahrung heraus zu beraten.
KOMPAKT: Wodurch wurden Sie auf das Thema EHS aufmerksam?
STEFANIE SAUTTER: In Kempten gibt es eine Selbsthilfegruppe von Menschen mit Multipler Chemikaliensensitivität (MCS), die auch häufig von EHS betroffen sind. Sie haben sich schon zu Beginn der EUTB Allgäu 2018 an uns gewandt und auf ihre Thematik aufmerksam gemacht. Dann haben wir zusammen mit der Selbsthilfe – auch aus Regionen Bayerns – eine Art „Erstinformation“ zu MCS erstellt, die wir an Ratsuchende und andere EUTBs herausgeben. Wir engagieren uns auch für MCS-Betroffen mit dieser Internetseite:
https://www.teilhabeberatung.de/artikel/multiple-chemikaliensensitivitaet-was-ist-das
So nahm diese Thematik immer mehr Fahrt auf und inzwischen wenden sich viele Menschen mit MCS und einige mit EHS an uns.
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Elektrohypersensibilität: Ärztenetzwerk gewachsen auf über 70 Ärztinnen und Ärzte
Auf über 70 Ärztinnen und Ärzte ist unser Netzwerk angewachsen – mit Ärzten und Ärztinnen für Menschen, die von Elektrohypersensibilität (EHS) betroffen sind. Alle sich beteiligenden Ärztinnen und Ärzte haben unterschrieben, dass sie EHS nicht als ursächlich psychisch verstehen und die Erfahrungen der Betroffenen ernst nehmen. Wir freuen uns, dass wir damit bundesweit Ärzte vermitteln können. Das Ärztenetzwerk finden Sie als PDF und als interaktive Karte auf www.diagnose-ehs.org.
Wir stellen diese Ärzteliste kostenlos auch Nicht-Mitgliedern zur Verfügung und sind uns sicher, dass diese das mit einer >>> Spende honorieren.
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KOMPAKT: Die EHS-Selbsthilfegruppe Allgäu, Ihre Beratungsstelle EUTB Allgäu und diagnose:funk erarbeiteten zusammen die dreiseitige Informationsschrift zu EHS.
STEFANIE SAUTTER: Dieses Infoblatt kann bundesweit von den EUTB-Beratungsstellen bei uns angefragt werden. EHS-Betroffenen erleichtert das den Schritt in die EUTB-Beratung.
KOMPAKT: MCS und EHS sind beides Erkrankungen, die in der universitären Umweltmedizin in der Regel als psychisch verursacht aufgefasst werden. Mit Ihrer Haltung, bei MCS und EHS als Ursache diverse Chemikalien bzw. elektromagnetische Felder anzuerkennen, helfen Sie Betroffenen sehr.
STEFANIE SAUTTER: Dies ist auch meine Wahrnehmung. Vielen Betroffenen hilft es schon mit ihrer Thematik ernst genommen zu werden. Die Einordnung in die Gruppe der Menschen mit psychischer Erkrankung hilft hier nicht weiter, sondern stigmatisiert nur. Ich sehe mit der Eingruppierung in „psychisch krank“ aber noch ein anderes Problem. Die Menschen mit EHS und MCS müssen das so sehr von sich weisen, um ernst genommen zu werden, dass sie oftmals hilfreiche Wege, wie z.B. Therapie, für sich ausschließen. Dabei kann Therapie so hilfreich sein, um Strategien zu entwickeln, mit der eigenen Erkrankung umzugehen.
KOMPAKT: Wollen Sie ein paar abschließende Worte an die kompakt-Lesenden richten?
STEFANIE SAUTTER: Wir EUTB Berater*innen sind für alle Menschen ansprechbar. Wir hören uns in aller Ruhe an, um was es geht. Zeit und ein Ohr für die Menschen, das wollen wir als EUTB Allgäu unseren Ratsuchenden geben. Gerne ermutige ich EHS-Betroffene bundesweit, sich an die EUTB zu wenden.
KOMPAKT: Frau Sautter, wir bedanken uns für Ihr Engagement und dieses Interview!
Die Fragen stellte Renate Haidlauf, Mitarbeiterin bei diagnose:funk