Prof. Ralf Lankau zum Ende der Digital-Euphorie in Großbritannien

Bildungsausschuss des House of Commons fordert Smartphoneverbot in Schulen und Jugendschutz
Im Mai 2024 hat der Bildungsausschuss des britischen Unterhauses (House of Commons) seinen Bericht „Screen time: impacts on education and wellbeing – Report Summary“ abgegeben, in dem er auf Grund der psycho-sozialen Schädigungen der Kinder und Jugendlichen durch digitale Medien ein Verbot ihrer Nutzung bis zum 16. Lebensjahr empfiehlt. Wir baten den Medienwissenschaftler Ralf Lankau (FH Offenburg) um eine Analyse und Bewertung dieses UK-Berichtes. Deutschland: Grüne fordern Einsatz von KI in der Schule als Nachhilfelehrer. Auch dazu hat R. Lankau einen Artikel verfasst (s.u.).
Prof. Ralf Lankau, Bild: Privat

Der Bildungsausschuss des britischen Unterhauses, ‚House of Commons‘ (HoC), hat am 23. Mai 2024 seinen vierten Bericht der Sitzungsperiode 2023-24 veröffentlicht. Darin analysiert die Kommission Auswirkungen von Bildschirmzeiten auf Bildung und Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren und formuliert konkrete Empfehlungen für Schulträger, Eltern und den Gesetzgeber.

  • Gefordert werden ein vollständiges Smartphoneverbot in Schulen und klare gesetzliche Regelungen zum Schutz der unter 16-Jährigen.

Großbritannien reiht sich damit ein in die Reihe der Länder, für die die kognitive und psychische Gesundheit Minderjähriger wichtiger ist als Geschäftsinteressen der IT-Monopole.

Grundlage dieses Berichts sind 50 schriftliche Stellungnahmen und vier mündliche Anhörungen von Experten unterschiedlicher Profession. Es wurden sowohl der Staatsminister für Schulen befragt als auch Schulen in Frankreich und den Niederlanden besucht, um deren Umgang mit Smartphones und IT zu diskutieren. Der Besuch bei Google diente dazu, die Programme eines führenden IT-Anbieters zur Förderung der digitalen Kompetenz kennenzulernen. Als Ergebnis der Auswertung fordert der Bildungsausschuss strengere formale Beschränkungen und Richtlinien, um Kinder vor der Bildschirmzeit (screen time) zu schützen. Screen Time umfasst dabei alle Geräte mit Bildschirmen (Mobiltelefone, Tablets, Fernseher, Computer) und variable Nutzungen, von Schularbeiten über soziale Medien bis zu Computerspielen.

Stand der Wissenschaft in 32 Empfehlungen formuliert

In 136 Absätzen und 32 Empfehlungen fasst der Bericht den Stand der wissenschaftlichen Studien und Expertenmeinungen zusammen und formuliert für die britische Regierung konkrete Empfehlungen, was von Seiten des Gesetzgebers auch gegen die Geschäftspraktiken der IT-Anbieter zu unternehmen sei. Die schädigende Kombination aus allgegenwärtigen Smartphones mit Internetzugang und irreführenderweise ‚sozial‘ genannten „Social Media Apps“ auf die körperliche, geistige und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sei belegt, ein regierungsamtliches Eingreifen nötig. Das Einstiegsalter sinke. Laut Bericht beginnt die Nutzung von Bildschirmmedien in Großbritannien mit 6 Monaten (Kinderärzte wie Gesundheitsbehörden empfehlen, die ersten drei Lebensjahre von Kindern möglichst bildschirmfrei zu halten). Die vor Bildschirmen verbrachte Zeit der Kinder und Jugendlichen nahm in den letzten zehn Jahren erheblich zu und ist zwischen 2009 und 2018 von 9 Stunden auf 15 Stunden pro Woche gestiegen (die Corona-Pandemie mit erzwungenermaßen höheren Bildschirmzeiten ist nicht berücksichtigt).

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Lesen Sie die Analyse und Kommentar zum Bildungsbericht an das britischen Unterhaus ‚House of Commons‘ (HoC) von Prof. Ralf Lankau (7 Seiten)

Quellen und PDFs:

Der vollständige Bericht (englisch): HoC (2024) House of Commons Education Committee: Screen time: impacts on education and wellbeing. Fourth Report of Session 2023–24. Report, together with formal minutes relating to the report. Ordered by the House of Commons to be printed 23 May 2024, Letzter Abruf: 26.8.2024:
PDF: https://committees.parliament.uk/publications/45128/documents/223543/default/

Übersetzung der Zusammenfassung und der 32 Forderungen (11 Seiten)
Kurzfassung der Forderungen (3 Seiten)
Stellungnahme SEND (Fokus auf sonderpädagogische Förderung und Behinderung, 2 Seiten)

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Auszug aus der Analyse und Kommentar zum Bildungsbericht an das britische Unterhaus ‚House of Commons‘ (HoC) von Prof. Ralf Lankau (7 Seiten)

 

Folgen hoher Bildschirmnutzungszeiten

Als Folgen hoher Bildschirmnutzungszeiten nennt der Bericht:

  • Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten (Ablenkungspotential, Verringerung der Aufmerksamkeitsspanne und Konzentrationsfähigkeit, Verschlechterung des Arbeitsgedächtnisses und geringere Verarbeitungsgeschwindigkeit, schlechtere Sprachkenntnisse);
  • negative Auswirkungen auf die geistige Gesundheit (erhöhtes Risiko für Depression durch fehlende reale Sozialkontakte bis zu erhöhter Gefährdung von Suizidalität);
  • psychischer Anpassungsdruck in Bezug auf Körperbild und Selbstwertgefühl und Angstzustände – von der Angst, ausgeschlossen zu werden über Ängste, etwas zu verpassen (FOMO: fear of missing out);
  • physische Gesundheitsprobleme durch Bewegungsmangel und in der Folge Übergewicht, Schlafmangel und Schlafrhythmusstörungen durch stimulierende wie verstörende Inhalte sowie blaues, aktivierendes Tageslichtspektrum am Abend.

Dazu kommen die Gefahren durch jugendgefährdende Inhalte. Laut Untersuchungen des Children’s Commissioner for England kommen 79 % der Kinder vor ihrem 18. Lebensjahr mit Gewaltpornografie in Berührung, durchschnittlich mit 13 Jahren. Besonders Mädchen und junge Frauen würden durch online publizierte Körperbilder unter Anpassungsdruck gesetzt. Auch bei Jungen und jungen Männern nähmen Körperunzufriedenheit und Essstörungen rapide zu. 81 % der Mädchen im Alter von 7 bis 21 Jahren hätten bedrohliches oder beunruhigendes Verhalten im Internet erlebt. Sexueller Missbrauch von Kindern sei bei der Nutzung von Bildschirmmedien möglich, die Zahl der Sexualstraftaten gegen Kinder im Internet sei seit 2013 um 400 % gestiegen. 19 % der Kinder im Alter von 10 bis 15 Jahren hätten mindestens eine Art von Mobbingverhalten im Internet erlebt, fast drei Viertel (72 %) davon gaben an, derartiges in der Schule oder während der Schulzeit erlebt zu haben.

Soziale Medien und Online-Spiele sind zudem eine Möglichkeit für kriminelle Banden zur Rekrutierung neuer Mitglieder. Kinder und Jugendliche sind ja nicht nur digitalaffin, sondern i.d.R. auch unbedarft und offen für neue Kontakte. Als besonders gefährdet werden Kinder und Jugendliche identifiziert, die in Armut leben und aus sozial schwachen Verhältnissen kommen, Kinder mit besonderen Bedürfnissen und junge Menschen, die selbst Angehörige pflegen und daher sozial oft isoliert sind.

Suchtentwicklung durch Verhaltenssteuerung

Ein besondere Aspekt des Berichts fokussiert auf die Suchtgefahren. Verhaltensabhängigkeiten entstehen durch soziale Interaktionen und Bestätigungen, die unbegrenzte Verfügbarkeit, fehlende Regulierung und Kontrolle und die grafische Gestaltung der Oberflächen der Apps und Spiele. Interaktive, animierte Elemente, farbige Schaltflächen, aufploppende Fenster, endloses Scrollen und kleine, unregelmäßige Belohnungen etc. erzeugen Neugier, gemischt mit einer ständigen Erwartungshaltung.

Die in Apps eingesetzten persuasiven (verhaltensändernden) Technologien sind als Psychotechniken seit über 100 Jahren bekannt, sind Grundlage von Propaganda und Werbepsychologie zur Verhaltenssteuerung und lassen sich bei digitalen Endgeräten mit permanentem Rückkanal für das Probandenverhalten personalisiert und sekundenschnell anwenden. Aida Bikic, Psychologin an der Universität Süddänemark in Odense, erforscht die Auswirkungen von Bildschirmnutzung und sozialen Netzwerken auf Kinder und Jugendliche und benennt auch medienpädagogische Konzepte des „richtigen“ Umgangs mit Online-Medien illusorisch:

  • „Wir wollen digital gebildete Menschen. Aber das geht nicht mit den heutigen sozialen Netzwerken. Deren Technologie schafft Abhängigkeiten, macht süchtig. Kinder und Jugendliche können dem nicht standhalten. (…). Es ist unmöglich die Kinder zu einem bewussten Umgang mit den heutigen sozialen Medien und den Computerspielen zu erziehen. Das geht nicht mit dieser Technologie. Die Plattformbetreiber und Gaminghersteller nutzten Mechanismen, die Abhängigkeiten schufen wie etwa zufällige Belohnungen und endloses Scrolling. Das ist wie ein Casino.“ (Bikic, zit n. Staib, 2024)

Diese Erkenntnis führt mittlerweile weltweit zum Verbot von privaten digitalen Endgeräten in Schulen und benennt die Notwendigkeit klarer gesetzlicher Regelungen, inklusive einer verlässlichen Altersverifizierung:

„Im Vereinigten Königreich liegt das Schutzalter bei 16 Jahren, ein Kind darf erst mit 17 Jahren Auto fahren und in England erst mit 18 Jahren wählen. Wir haben keine Beweise dafür gehört, dass 13 Jahre ein angemessenes Alter für Kinder ist, um zu verstehen, was es bedeutet, wenn Plattformen Zugang zu ihren persönlichen Daten im Internet haben. Wir wissen jedoch, dass selbst das digitale Schutzalter, das derzeit formell auf dem niedrigstmöglichen Niveau festgelegt ist, weitgehend ignoriert und nicht wirksam durchgesetzt wird.“ (HoC 2024)

Schutzalter hochsetzen

Darum fordert der Bericht, dass die nächste Regierung das Zugangsalter auf 16 Jahre als digitales Schutzalter hoch setzen sollte und fordert von den Anbietern zuverlässige Maßnahmen zur Altersverifizierung ...

>>> Lesen Sie weiter in der Analyse und Kommentar zum Bildungsbericht an das britischen Unterhaus ‚House of Commons‘ (HoC) von Prof. Ralf Lankau (7 Seiten)

Andreas Schwarz, Bild: Lena Lux

GRÜNE Fraktion in BaWü will ChatBots als Nachhilfelehrer! Prof. Lankau fragt:

"Ahnungslos begeistert oder jemandem auf den Leim gegangen?"

 

Während die meisten unserer Nachbarländer bei der Digitalisierung der Schulen die Reißleine ziehen und sie rückgängig machen, wird in Deutschland das Gegenteil gemacht: Politiker werben für mehr Digitalisierung. Den Vogel schoss nun der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag von Baden-Württemberg, Andreas Schwarz (s. Bild), ab mit der unreflektierten Forderung nach KI-Einsatz an Schulen. Er empfiehlt Programme wie ChatGPT als Nachhilfelehrer. In einem >>> Artikel haben wir bereits zu ChatGPT Stellung bezogen.

Prof. Ralf Lankau hat einen Kommentar zu der Forderung von MdL Andreas Schwarz verfasst

"Je weniger Ahnung jemand von Technik hat, desto größer ist die Begeisterungsfähigkeit. Diese Beobachtung machte bereits der Computerpionier Joseph Weizenbaum, als er 1966 den ersten ChatBot Eliza publizierte. Begeisterung ohne Fach- und Sachkenntnis zeigt auch die Fraktion der Grünen im Landtag von Baden-Württemberg mit ihrem Fraktionsvorsitzenden Andreas Schwarz bei der unreflektierten Forderung nach KI-Einsatz an Schulen."

Von Ralf Lankau >>> Lesen Sie den ganzen Kommentar

>>> diagnose:funk Artikelserie: Studien weisen nach: Die Digitalisierung ist ein wesentlicher Faktor der Krise im Bildungswesen

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