„Menschen trainieren ihren Geist nicht mehr!“
Interview mit Ingo Leipner
Warum ChatGPT und Co. das menschliche Bewusstsein bedrohen, hat Ingo Leipner in seinem kleinen, sehr lesenswerten Buch aufgeschrieben. Hier ein Gespräch mit dem Autor (>>> am Ende des Artikels: Video-Vortrag zur KI von I. Leipner).
Interview: Peter Hensinger von diagnose:funk
Diagnose:funk: „KI-Angriff auf das Bewusstsein“ – das hört sich an wie Roboter-Armeen aus düsteren Dystopien …
INGO LEIPNER: Nein, so ist der Titel meines Essays gerade nicht gemeint. Es geht mir um einen viel subtileren Angriff auf unser Denken, wenn wir immer mehr das Schreiben an eine KI delegieren. Ich habe natürlich ChatGPT und ähnliche Programme wie Gemini selbst ausprobiert und gemerkt: Wow, echt stark, wie die KI mir kreative Grübelei abnimmt, mir blitzschnell gute Alternativen für Überschriften liefert und Routine-Texte schnell runterspult. Und genau in diesen Erfahrungen spiegelt sich in meinen Augen der KI-Angriff …
Diagnose:funk: Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
INGO LEIPNER: Schauen Sie sich das Phänomen genau an: Klar, scheinbar entlastet mich die KI. Doch in Wirklichkeit verliere ich mit jedem Knopfdruck-Text eine Gelegenheit, kognitive Fähigkeiten zu trainieren. Ich suche selbst nicht mehr nach den richtigen Worten; ich versuche nicht mehr selbst den guten Rhythmus einer Überschrift zu finden, ich bin selbst nicht mehr positiv identifiziert mit Texten, die maschinell entstehen. Auch wenn ich über Prompts (Anweisungen) scheinbar dialogisch Texte mit der KI entwickle.
Doch tatsächlich rutscht der eigentliche Prozess des Schreibens hinter die KI-Fassade. Ich erhalte zwar Resultate, die an der Oberfläche funkeln. Aber meine emotionale Beteiligung am Schreibvorgang leidet, was ich selbst gespürt habe, weil intrinsische Motivation verloren geht. Außerdem neigt jede KI zu Halluzinationen, sie jubelt dem Nutzer erfundene „Fakten“ unter, formal sauber formuliert, aber inhaltlich Quatsch.
Diagnose:funk: Warum halten Sie das Schreiben für so wichtig? Vielen Menschen freuen sich über ChatGPT.
INGO LEIPNER: Kaum ein Schreibprozess verläuft völlig linear! Werden Sätze revidiert und durch neue Formulierungen ersetzt, ist das ein rekursiver Ablauf. Das bedeutet, Formulierungen werden ständig überarbeitet, was an andere Stelle neue Formulierungen nach sich zieht. Das zeigt die Komplexität des Schreibens: Einzelne Tätigkeiten überlappen sich, alle Prozesse lassen sich beliebig wiederholen, frühere Aktivitäten vermischen sich mit späteren, jedes neue Wort kann den Anstoß für weitere Worte geben – und alle diese Prozesse können gleichzeitig erfolgen!
Diagnose:funk: Der menschliche Geist ist auf komplexen Wegen unterwegs, um sich anderen Menschen in Texten mitzuteilen.
INGO LEIPNER: Eine großartige Leistung voller Faszination, die bereits bei Alltagstexten zu spüren ist – und in wenigen Fällen mit dem Literatur-Nobelpreis geehrt wird. Vielfältig sind dazu die Fähigkeiten: Kreatives Denken, Offenheit für Inspirationen, Zähigkeit und Durchhaltekraft, Konzentration, kritisches Hinterfragen, Empathie … Alle diese Kompetenzen scheinen mir bedroht zu sein, wenn wir ChatGPT so selbstverständlich in unserem Arbeitsalltag integrieren.
Diagnose:funk: Sie schreiben auch über den Muskelaufbau im Sport. Warum?
INGO LEIPNER: Da gibt es die Regel: „Use it, or lose it“ – Nutze, oder verliere es. Das ist auf die Muskulatur der Athleten gemünzt, die durch hartes Training ihre Form bewahren. Dasselbe Phänomen hat die Neurobiologie im Gehirn erkannt. Das Stichwort lautet „Neuroplastizität“. Mit ChatGPT trainieren wahrscheinlich Menschen ihren Geist weniger; im Gehirn könnten neuronale Verbindungen schwinden. Daher ist intensives Schreiben und Lesen so wichtig, gerade für Kinder und Jugendliche, deren Gehirn sich besonders stark entwickelt. Auf Deutsch könnte ich auch sagen: „Wer rastet der rostet“.