diagnose:funk: Frau Killinger, wie kam es zu dem Urteil?
SIBYLLE KILLINGER: Im August 2021 erteilte die Bundesnetzagentur der Telekom eine Standortbescheinigung für einen Mobilfunkmasten in Bodenheim bei Mainz. Gegen diese Standortbescheinigung legte dann ein Ehepaar Widerspruch und Klage ein. Das Ehepaar ist direkt betroffen, die beiden wohnen nur 430 Meter vom geplanten Mast entfernt. Diese Klage wurde wegen angeblicher Fristfehler vom Verwaltungsgericht Mainz als unzulässig abgewiesen. Daraufhin ging das Ehepaar in Berufung – und hatte Erfolg. Und um noch eins draufzusetzen: Es handelt sich um ein bahnbrechendes Berufungsurteil!
diagnose:funk: Was ist an diesem Berufungsurteil denn bahnbrechend?
KILLINGER: Entscheidend ist, dass das Oberverwaltungsgericht (OVG) Koblenz eine Sachverhaltsaufklärung zu den Mobilfunk-Grenzwerten angeordnet hat, um die Rechtmäßigkeit der Standortbescheinigung des Mobilfunkmasten zu überprüfen. Das Verwaltungsgericht (VG) Mainz muss also die Klage neu verhandeln – und zwar mit einer inhaltlichen Klärung, ob die für Mobilfunkstrahlung geltenden Grenzwerte die körperliche Unversehrtheit der Menschen gewährleisten. Diese wird durch das Grundgesetz, genauer durch Artikel 2 Absatz 2 geschützt. Dies stellt ein Novum seit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2002 dar.
diagnose:funk: Zunächst einmal: Was hat das Verfassungsgericht 2002 gesagt?
KILLINGER: In dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde eine Verfassungsbeschwerde eines Klägers nicht zur Entscheidung angenommen, das Gericht lehnte sie also ab. Auch damals schon hatte der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner körperlichen Unversehrtheit durch einen Mobilfunkmasten in der Nähe seines Wohnhauses geltend gemacht. Die Beschwerde wurde damals vom Verfassungsgericht mit der Begründung abgelehnt, dass der Bundesregierung ein sehr weit gefasster Einschätzungsspielraum hinsichtlich der Richtigkeit der Grenzwerte zustünde. Daher fand in den letzten 22 Jahren bei den Gerichten sozusagen keine inhaltliche Auseinandersetzung mehr statt zur möglichen Gesundheitsschädlichkeit von Mobilfunkstrahlung.
diagnose:funk: Jetzt bin ich auf das Novum gespannt.
KILLINGER: Ja, nun haben wir eine neue Lage, die das OVG aufgegriffen hat: Am 14.2.2023 veröffentlichte der Bundestagsausschuss für Technikfolgenabschätzung seinen Bericht, aus dem sich Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Mobilfunkgrenzwerte ergeben. Außerdem hat das VG Mainz in seinem klageabweisenden Urteil festgestellt, dass es die geltenden Mobilfunkgrenzwerte ggf. als „völlig unzureichend zum Schutz der menschlichen Gesundheit“ ansehe. Diese beiden Tatsachen nimmt das OVG wohl zum Anlass, einen Richtungswechsel vorzunehmen. Vor dem VG Mainz soll nun über die Notwendigkeit einer Überprüfung der Grenzwerte neu verhandelt werden.