ATHEM-3-Studie (IV): Interview mit dem Mediziner Dr. Jörg Schmid (IPPNW)

„Bei Chromosomenaberrationen können ähnliche Erkrankungen wie bei radioaktiver Niedrigststrahlung auftreten.“
Wie sieht ein Mediziner, der Experte für die Auswirkungen der Radioaktivität, also ionisierender Strahlung, ist, das Ergebnis der ATHEM-3 Studie? Die ATHEM-3 Studie weist nach, dass die Langzeit-Bestrahlung durch Mobilfunksendeanlagen zytogenetische Wirkungen auf Chromosomen, sogenannte Chromosomenaberrationen, zur Folge haben kann. Diese Auswirkungen hat auch, schon längst nachgewiesen, radioaktive Strahlung. Dazu fragten wir Dr. Jörg Schmid, der sich seit Jahren bei der IPPNW (Ärzt*innen zur Verhütung des Atomkrieges) mit den medizinischen Folgen von radioaktiver Strahlung beschäftigt.
Der Protest gegen AKWs war erfolgreich, weil die Auswirkungen der Strahlung auf Menschen und die Natur nicht mehr geleugnet werden konntenBild:Wikipedia
Dr. Jörg Schmid bei einer Kundgebung im Jahr 2019Bild: diagnose:funk

KOMPAKT: Herr Dr. Schmid, seit Jahrzehnten beschäftigen Sie sich mit den Auswirkungen ionisierender Strahlung, wie sie insbesondere in Tschernobyl und Fukushima ganze Landstriche und Bewohner verseuchte, auf den Organismus! Sie schreiben dazu für die IPPNW Fachartikel ! Warum wirkt diese radioaktive Strahlung so zerstörerisch auf Organismen?

JÖRG SCHMID: Seitens der radioaktiven Strahlung müssen wir immer die jeweilige Dosis und den jeweils spezifischen Wirkmechanismus auf den Körper unterscheiden. Die sog. deterministischen Schäden beziehen sich auf eine hohe Strahlung und führen innerhalb von Tagen zur akuten Strahlenerkrankung bis hin zum Strahlentod – wie wir es bei den hoch verstrahlten Feuerwehrmännern in Tschernobyl sehen mussten. Der Schädigungsmechanismus hier ist auf zellulärer Ebene der Mitosestopp und damit der Zelltod.

Die sog. stochastischen Schädigungen beziehen sich auf den radioaktiven Niedrigdosisbereich und führen innerhalb von Jahrzehnten u.a. zu Krebs oder Herz-Kreislauferkrankungen. Hierüber sprechen wir, wenn wir die Gefährdung der Bevölkerung um Tschernobyl oder im Distrikt Fukushima medizinisch beurteilen. Der biologische Wirkmechanismus ist hier die durch Strahlung verursachte Zellmutation, die noch eine Zeitlang kompensiert werden kann. Das besondere hierbei ist: Es gibt keine Schwelle, unter der diese Einwirkung nicht stattfindet. Es gibt also keine unschädlichen radioaktiven Strahlendosen. Es gibt nur ein jeweils variables Risiko, eine der möglichen Folgeerkrankungen zu entwickeln.

KOMPAKT: Welche Rolle spielen dabei der oxidative Zellstress und Chromosomenaberrationen? Welche Krankheiten kann dieser Wirkmechanismus auslösen?

JÖRG SCHMID: Oxidativer Stress ist eine Art übergeordnetes Geschehen auf zellulärer Ebene, welches auch zu DNA-Schädigungen führen kann. Für die radioaktive Strahlung sind diese in Form der Chromosomenaberrationen nachgewiesen. Vorgeburtlich führen sie zu Mißbildungs-Syndromen der Neugeborenen, nachgeburtlich zu unterschiedlichen Krebserkrankungen wie Leukämien oder auch zu Herz-Kreislauferkrankungen. Es kommt dabei auch spezifisch auf das jeweilige radioaktive Isotop an, wo es sich im Körper anreichert, wie lange es dort strahlt und welche Strahlungsart von ihm ausgeht. Insbesondere bei Kindern kann Schilddrüsenkrebs durch das bei nuklearen Unfällen anfallende radioaktive Iod hervorgerufen werden, welches in die kindliche Schilddrüse eingebaut wird.

ChromosomenaberrationenBild aus Gulati et al. (2024)

Beispiele für Chromosomenaberrationen aus der Arbeit von Gulati et al. (zum Vergrößern anklicken)

KOMPAKT: Wenn Sie jetzt die ATHEM-3 Studie lesen, welche Gesundheitsrisiken sehen Sie da durch die nicht-ionisierende Strahlung des Mobilfunks?

JÖRG SCHMID: Die Athem 3-Studie hat gezeigt, dass auch durch eine Mobilfunk-Langzeitbelastung ähnliche Chromosomenaberrationen beim Menschen hervorgerufen werden können wie bei der radioaktiven Niedrigstrahlung. Dieses Studienergebnis steht nun statistisch eindeutig fest – zwar bei einer kleinen Untersuchungsgruppe, die aber mindestens 5 Jahre lang der Strahlung ausgesetzt war.

Wenn eine Chromosomenaberration vorliegt, können ähnliche Erkrankungen auftreten, wie sie für die radioaktive Niedrigstrahlung beschrieben sind. Radioaktive oder elektromagnetische Strahlung sind aber nicht die einzigen Auslöser für DNA-Schädigungen: Sie können auch durch eine Vielzahl weiterer Risikostoffe, insbesondere chemische Stoffe, Nikotin oder auch Mikroplastik, ausgelöst werden und sich jeweils wechselseitig in ihrer schädlichen Wirkung verstärken.

KOMPAKT: Überrascht Sie das Ergebnis dieser Studie, immerhin sind die Langzeitwirkungen, so die Autoren, ja ähnlich wie die oft Wirkungen der radioaktiven Niedrigstrahlung?

JÖRG SCHMID: Ehrlich gesagt, nein. Die weltweite Studienlage zur elektromagnetischen Strahlung hat aus meiner Sicht bereits in der Vergangenheit eindeutige Hinweise auf deren Langzeitwirkung auf Mensch und Tier erbracht. Die österreichischen Athem-Studien reihen sich seit 2009 hier ein. Nicht umsonst ist Mobilfunk durch die WHO 2011 bereits als potenziell krebserregend eingestuft - und dabei wird es nicht bleiben können, eine Höherstufung des Krebsrisikos wird aus meiner Sicht kommen müssen.

KOMPAKT: Nun sagen die Autoren der ATHEM-3 Studie, die Schädigungen würden weit unterhalb der IAEO-Grenzwerte eintreten. Schützen diese Grenzwerte vor elektromagnetischer  Strahlung?

JÖRG SCHMID: Die aktuell vorliegenden Mobilfunk-Grenzwerte beziehen sich ja nur auf die anerkannten Wärme-bedingten Wirkungen der Mobilfunk-Strahlung. Es muss also erst noch durchgesetzt werden, dass die Grenzwerte zukünftig auch die nicht-Wärme-bedingten Wirkungen, wie es die jetzt nachgewiesenen chromosomalen Schädigungen sind, berücksichtigt.

Ein Blick auf die Historie der Grenzwert-Festlegung für Radioaktivität durch die IAEO macht deutlich: Man braucht einen langen Atem, bis Grenzwerte korrigiert werden. Denn zunächst steht immer im Vordergrund, dass ein Grenzwert die jeweilige technologische Entwicklung nicht ausbremsen darf.

Das absolute Risiko für die biologische Wirkung von Radioaktivität musste so über die Jahrzehnte seitens der IAEO immer nach oben korrigiert werden. Grenzwerte sind der wissenschaftlichen Entwicklung anzupassen – auch wenn das die jeweilige Industrie nicht hören will und es oft Jahre braucht, bis sich kritische Wissenschaft durchsetzt.

KOMPAKT: Wie würden Sie nach der ATHEM-3 Studie und Ihrer guten Kenntnis der Studienlage der ionisierenden als auch der nicht- ionisierenden Strahlung, von der letzteren wird ja inzwischen jeder Mensch intensiv bestrahlt, das Risikopotential der Mobilfunkstrahlung bewerten?

JÖRG SCHMID: Die Studienautoren, so lese ich es, sind gerade angesichts der explodierenden  Digitalisierung unseres Alltags besorgt über die möglichen Langzeitfolgen der elektromagnetischen Strahlung. Dem schließe ich mich an. Zudem stimmen mich die psychischen Folgen der Digitalisierung auf unsere sozialen Bindungen und auf die seelisch-mentale Entwicklung unserer Kinder sehr nachdenklich.

KOMPAKT: Lieber Dr. Schmid, vielen Dank für dieses Interview

Das Interview führte Peter Hensinger. Seit fast 20 Jahren arbeitet er mit Dr. Jörg Schmid im Klima- und Umweltbündnis Stuttgart (KUS) zusammen, auch im Kampf zur Stilllegung des AKW Neckarwestheim, den Jörg Schmid maßgeblich organisiert, und in der Aufklärung über die Folgen der Digitalisierung und Mobilfunkstrahlung. Dr. Jörg Schmid ist IPPNW-Mitglied und Ansprechpartner für den Arbeitskreis Atomenergie.

Dr. Jörg Schmid, 3.v.R, beim IPPNW Jahrestreffen 2024Bild: IPPNW

Von 1995 bis 2019 erschien der gemeinsame Fachinformationsdienst Strahlentelex / ElektrosmogReport zu den Auswirkungen ionisierender und nicht-ionisierender Strahlung.

Ab 2019 führte diagnose:funk den ElektrosmogReport für nicht-ionisierende Strahlung weiter und richtete ein Digitalarchiv aller Ausgaben auf der Datenbank www.emfdata.org ein. Dort können alle Ausgaben kostenlos heruntergeladen werden. Eine Interview mit der ElektrosmogReport - Redakteurin Dipl.Biol.Isabel Wilke zur Geschichte der Zeitschrift finden Sie >>>hier.

Publikation zum Thema

Format: A4Seitenanzahl: 21 Veröffentlicht am: 21.10.2015 Sprache: DeutschHerausgeber: Kompetenzinitiative zum Schutz von Mensch, Umwelt und Demokratie e.V.

Ist die Unterteilung in ionisierende und nichtionisierende Strahlung noch aktuell?

EMF-Strahlung kann O2- und NO-Radikale im Überschuss im menschlichen Körper generieren
Autor:
Prof. Dr. med. Karl Hecht
Inhalt:
Sowohl die sogenannten ionisierenden Strahlungen als auch die sogenannten nichtionisierenden Strahlungen können freie Radikale im menschlichen Körper generieren. Analoge biologische Schädigungen können also von beiden Arten der Strahlung ausgehen. Aus allem folgt: Da für den Schutz der Bevölkerung die Folgen der Strahlungen auf den menschlichen Körper ausschlaggebend sind, ist eine Unterteilung in ionisierende und nichtionisierende Strahlung nicht mehr angebracht. Das muss aber auch Konsequenzen für den gegenwärtigen Strahlenschutz und entsprechende juristischen Bewertungen haben.
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