KOMPAKT: Herr Dr. Schmid, seit Jahrzehnten beschäftigen Sie sich mit den Auswirkungen ionisierender Strahlung, wie sie insbesondere in Tschernobyl und Fukushima ganze Landstriche und Bewohner verseuchte, auf den Organismus! Sie schreiben dazu für die IPPNW Fachartikel ! Warum wirkt diese radioaktive Strahlung so zerstörerisch auf Organismen?
JÖRG SCHMID: Seitens der radioaktiven Strahlung müssen wir immer die jeweilige Dosis und den jeweils spezifischen Wirkmechanismus auf den Körper unterscheiden. Die sog. deterministischen Schäden beziehen sich auf eine hohe Strahlung und führen innerhalb von Tagen zur akuten Strahlenerkrankung bis hin zum Strahlentod – wie wir es bei den hoch verstrahlten Feuerwehrmännern in Tschernobyl sehen mussten. Der Schädigungsmechanismus hier ist auf zellulärer Ebene der Mitosestopp und damit der Zelltod.
Die sog. stochastischen Schädigungen beziehen sich auf den radioaktiven Niedrigdosisbereich und führen innerhalb von Jahrzehnten u.a. zu Krebs oder Herz-Kreislauferkrankungen. Hierüber sprechen wir, wenn wir die Gefährdung der Bevölkerung um Tschernobyl oder im Distrikt Fukushima medizinisch beurteilen. Der biologische Wirkmechanismus ist hier die durch Strahlung verursachte Zellmutation, die noch eine Zeitlang kompensiert werden kann. Das besondere hierbei ist: Es gibt keine Schwelle, unter der diese Einwirkung nicht stattfindet. Es gibt also keine unschädlichen radioaktiven Strahlendosen. Es gibt nur ein jeweils variables Risiko, eine der möglichen Folgeerkrankungen zu entwickeln.
KOMPAKT: Welche Rolle spielen dabei der oxidative Zellstress und Chromosomenaberrationen? Welche Krankheiten kann dieser Wirkmechanismus auslösen?
JÖRG SCHMID: Oxidativer Stress ist eine Art übergeordnetes Geschehen auf zellulärer Ebene, welches auch zu DNA-Schädigungen führen kann. Für die radioaktive Strahlung sind diese in Form der Chromosomenaberrationen nachgewiesen. Vorgeburtlich führen sie zu Mißbildungs-Syndromen der Neugeborenen, nachgeburtlich zu unterschiedlichen Krebserkrankungen wie Leukämien oder auch zu Herz-Kreislauferkrankungen. Es kommt dabei auch spezifisch auf das jeweilige radioaktive Isotop an, wo es sich im Körper anreichert, wie lange es dort strahlt und welche Strahlungsart von ihm ausgeht. Insbesondere bei Kindern kann Schilddrüsenkrebs durch das bei nuklearen Unfällen anfallende radioaktive Iod hervorgerufen werden, welches in die kindliche Schilddrüse eingebaut wird.