Jonathan Haidt: "Generation Angst. Wie wir unsere Kinder verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen"
Das Buch von Jonathan Haidt: "Generation Angst", in den USA ein Bestseller, war in Deutschland drei Wochen nach dem Erscheinen vergriffen. Haidt ist Professor für Sozialpsychologie in New York. Er untersuchte mit einem Expertenteam die Veränderungen bei Kindern und Jugendlichen, die mit dem Smartphone aufwachsen. Das Buch ist eine Pflichtlektüre für alle Erziehenden!
Haidt:Generation Angst, Titel Verlag
Im Jahr 2007 kam das Smartphone auf den Markt – ein Produkt, so Haidt, mit „suchterzeugenden Inhalten“, das „körperliches Spielen und eine Sozialisierung durch persönlichen Kontakt in den Hintergrund drängt“, „die Kindheit neu verdrahtet und die menschliche Entwicklung in einem fast unvorstellbaren Ausmaß verändert“.
Haidt spricht von einer Zeitenwende, die sich gravierend auf Familien, Kinder, Kitas und Schulen auswirkt. Diese „historische und beispiellose Transformation“ beschreibt er als „die vollständige Umstellung von einer spielerischen Kindheit, die wir seit Millionen von Jahren hatten, auf eine telefonbasierte Kindheit.“ Dadurch würden die Kinder fast alles verpassen, während sich ihre Online-Stunden anhäufen. Sie sind physisch hier, aber gleichzeitig „für immer anderswo“ mit gravierenden Folgen: „Um das Jahr 2012 stürzte die geistige Gesundheit junger Menschen eine Klippe hinunter“(Haidt, NZZ vom 08.04.2024).
Grafiken:diagnose:funk, Datengrundlage anxiousgeneration.comGrafiken durch Klick vergrößern!
Seither schießen bei Angstzuständen, Depressionen, Selbstverletzungen, Selbstmord, Einsamkeitsgefühlen und Stress die Kurven nach oben (s.Grafiken)*. „Ich glaube, das ist die Ursache für diese globale Krise der psychischen Gesundheit … Durch Smartphones und soziale Netzwerke sehen Kinder ihre Freunde nicht mehr so oft ... Sie schlafen nicht mehr so viel. Sie haben weniger Erfahrungen mit der Natur und sitzen nur vor ihrem Bildschirm. So verpassen sie das breite Spektrum der Erfahrungen, das für eine gesunde Entwicklung notwendig ist. Ihr Gehirn wird auf ein Leben am Bildschirm eingestellt. Das macht sie kaputt.“
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Sie sind der Reizüberflutung und den oft verstörenden Inhalten der sozialen Medien nicht gewachsen, sind ihnen ausgeliefert bis hin zur Sucht, da sie noch nicht über eine Impulskontrolle verfügen. Schon Grundschüler schauen Porno- und Gewaltvideos mit gravierenden Folgen und Mobbing über das Smartphone wurde zum Massenproblem. Diese Auswirkungen waren erwartbar und bestätigen die Forschungen und frühen Warnungen des Neurowissenschaftlers Manfred Spitzer.
Gemeinsam spielen statt einsam daddelnBild: alexandr podvalny, unsplash
„Der Mensch ist nur da Mensch, wo er spielt“ (Friedrich Schiller)
Haidt betont die Wichtigkeit des kindlichen, „wilden“ und freien Spieles in der Kindheit. Hunderte von Studien bestätigten, dass alle Kinder spielen wollen und spielen müssen, Haidt schreibt:
„Freies Spiel ist die Arbeit der Kindheit, und alle jungen Säugetiere haben dieselbe Aufgabe: ihr Gehirn zu verdrahten, indem sie wild und möglichst oft spielten. Hunderte von Studien mit jungen Ratten, Tieraffen und Menschen zeigen, dass junge Säuger spielen wollen, spielen müssen und sozial, kognitiv und emotional Schaden nehmen, wenn sie nicht spielen können.“
Im virtuellen Raum sind die Interaktionen „entkörperlicht, bis auf das Wischen und Tippen sind keine Muskeln im Spiel“. Die Abkehr vom Spiel in der Gemeinschaft, der „Verlust der affektiven Abstimmung“ lasse die Empathie verkümmern, ja, mache lebensunfähig. Das frühe Auseinanderfallen von Bewegung und Wahrnehmung stelle sich als eine der gravierendsten Auswirkungen der Digitalisierung heraus. Was v.a. verloren gehe, ist die Fähigkeit, eigenständig Wissen zu konstruieren, selbst Fragen zu stellen und Zusammenhänge erkunden. Werde das physische Explorationsbedürfnis der Kinder nicht befriedigt, entstehe – insbesondere im Verein mit überbesorgten Helikoptereltern – eine ängstliche Generation. Jonathan Haidt:
„Es ist, als gäben wir unseren Kleinkindern Tablets mit Filmen übers Laufen, doch diese Filme sind so fesselnd, dass sich die Kids nie die Zeit nehmen oder die Mühe machen, tatsächlich Laufen zu lernen“ (S. 73).
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Smartphones ab 14 Jahre, Social Media ab 16 - Bildschirmfrei aufwachsen!
Das Buch ist eine Pflichtlektüre für alle Erziehenden. Es macht bewusst, welchen Risiken unsere Kinder ausgesetzt sind, was die Gründe dafür sind, aber auch, dass es Lösungen gibt. Haidt schlägt für unsere Ohren radikale Lösungen vor: Smartphones erst ab 14 Jahre, Social Media ab 16, Schulen Smartphone-frei und weit mehr unüberwachtes Spiel und Unabhängigkeit in der Kindheit. Aber wie soll dies durchgesetzt werden? Haidt fordert staatliche Regulierungen. Aber den Schlüssel haben KiTas, Schulen und Eltern in der Hand und sollten Vereinbarungen für ein smartphonefreies Aufwachsen ihrer Kinder treffen. Kein leichtes Unterfangen – doch nach der Lektüre dieses Buches lässt es Eltern und Lehrenden keine Alternative.
* Die Grafiken sind von diagnose:funk, erstellt auf der Datengrundlage und den Einzelgrafiken von Jonathan Haidt auf www.anxiousgeneration.com.
Jonathan Haidt, Bild privat
Jonathan Haidt: Generation Angst. Wie wir unsere Kinder verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen, 448 S., geb. EUR 26,–, Rowohlt Verlag, Hamburg 2024
Diese Buchrezension von Peter Hensinger erscheint in der Zeitschrift Erziehungskunst.Frühe Kindheit und auf deren Homepage.
Als hätte er Jonathan Haidt gelesen! Der Song von Rapper Edu Swarley: Unsocial Life
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Artikel veröffentlicht:
18.07.2024
Autor:
Peter Hensinger / Zeitschrift Erziehungskunst früheKindheit
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