Kommunalwahlen und Smart City: Wir fordern eine sozial gerechte Digitalisierung

Wahlprogramm von SÖS (Stuttgart Ökologisch Sozial) zur Digitalisierung
Im Jahr 2024 sind in 12 Bundesländern Kommunalwahlen, 8 davon am 9. Juni. Kommunen sollen zu Smart Cities werden. Alle Lebensbereiche sind davon betroffen. Nahezu alle Parteien werben pauschal für mehr Digitalisierung. Sie gilt als Wachstumsmotor Nr.1. „Digital First. Bedenken Second“ – dieser FDP-Spruch naiver Technikgläubigkeit dominiert die Politik. Auch bei Umweltverbänden scheint bei diesem Thema ein kritisches Bewußtsein verschüttet. Das parteifreie Bündnis Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS), seit 2004 im Gemeinderat, zuletzt mit 3 Sitzen, macht diesen unkritischen Digitalisierung- und Wachstumshype nicht mit und unterscheidet sich wohltuend von anderen Parteien. Das ist auch der langjährigen kommunalpolitischen Arbeit der Stuttgarter Bürgerinitiative Mobilfunk zu verdanken. Von der Bürgerinitiative kandidieren Doris und Peter Hensinger (Vorstand diagnose:funk) und Matthias von Herrmann (diagnose:funk Pressesprecher) auf der SÖS-Liste. Das kritische und positive Programm von SÖS zur Digitalisierung könnte für kommunale Umweltbündnisse eine Blaupause sein.
Stuttgart 2019: Protest gegen Glasfasermonopol der Telekomdiagnose:funk

Digitalisierung: Ja, aber bitte gemeinwohlorientiert

Die Digitalisierung unserer Städte bietet Chancen und stellt die Gesellschaft gleichzeitig vor enorme Herausforderungen. „Digital First. Bedenken Second“ – dieser FDP-Spruch naiver Technikgläubigkeit dominiert die Politik. Doch wem gehören die Daten? Wie sieht es mit der Privatsphäre aus? Wir wollen keinen gläsernen Bürger! Woher kommen all die Energie und Ressourcen für die neuen Endgeräte sowie die Datenverarbeitung und ihren Transport? Ist die Digitale Bildung ein Ausweg aus der Bildungskatastrophe? Wie sieht es mit den gesundheitlichen Folgen der Strahlenbelastung aus? Welche Konsequenzen hat die künstliche Intelligenz für unsere Gesellschaft? Darüber braucht es eine breite Debatte!

Gemeinwohlorientierte Digitalisierung

Wir von SÖS (Stuttgart Ökologisch Sozial) wollen die Chance der Digitalisierung nutzen und gleichzeitig deren Risiken vermeiden. Das kann uns nur gelingen, wenn wir die Digitalisierung an Gemeinwohlinteressen ausrichten und nicht an den Gewinnerwartungen von Technologiekonzernen. Stuttgart braucht eine eigene Digitalisierungsstrategie, die sich von Konzerninteressen und ihren Wachstums- und Gewinnphantasien emanzipiert. Nur so können wir dafür sorgen, dass die Digitalisierung nicht zum „Brandbeschleuniger der Klimakrise“ wird, wovor der WBGU (Wissenschaftlicher Beirat globale Umweltveränderungen der Bundesregierung) warnt.

Bild:diagnose:funk

Ein städtisches Netz für alle, und zwar kostenfrei

Wir fordern die Anwendung neuester Technik. Ein lückenloses Glasfasernetz und ein dazugehöriges leistungsfähiges, strahlungsminimiertes Kleinfunkzellennetz gehören in städtische Hand. Schulen, Bibliotheken, Jugendhäuser und Bezirksrathäuser gehören schnellstmöglich an das Glasfasernetz angeschlossen. Der Zugang zu schnellem Internet soll in Stuttgart als Teil der Daseinsvorsorge und kommunaler Dienste kostenfrei sein. Um Ressourcen und Energie zu sparen, wollen wir ein Netz für alle Mobilfunk-Anbieter. Dazu soll ein städtischer Eigenbetrieb gegründet werden. Alle privaten Unternehmen, die diese Infrastruktur nutzen, müssen offenlegen, welche Daten sie erheben.

Da durch Studien WLAN unter dem Verdacht steht, gesundheitsschädlich zu sein, haben die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg LiFi-Pilotprojekte (Lichttechnologie) als Alternative gefördert. Diese fortschrittliche Technologie ist marktreif und WLAN in der Datenübertragsrate überlegen, abhörsicher und gesundheitlich unbedenklich. Sie sollte in allen städtischen Einrichtungen installiert werden. 

Die bürgernahe und transparente Digitalisierung der Verwaltung

Die Digitalisierung der Verwaltung bietet die Chance, verwaltungsinterne Prozesse und Kommunikationswege zu verbessern. Das kann langfristig zu Entlastung der Verwaltung führen. Kurz- bis mittelfristig ist mit einem Mehraufwand zu rechnen. Vor allem in der Kommunikation mit den Bürger*innen biete die Digitalisierung die Chance, Verwaltungsprozesse zu vereinfachen. Diese Chance müssen konsequent genutzt werden. Gleichzeitig sollte die Stadt Prozesse, Entscheidungen und öffentliche Daten der Menschen transparent und einfach zur Verfügung stellen. Wir wollen aber keine anonyme Verwaltung. Es muss das Recht auf ein analoges Leben garantiert werden und für alle Vorgänge müssen persönliche Ansprechpartner in der Verwaltung da sein.

Welche Folgen hat die telefonbasierte Kindheit, was heißt das für KiTa und Schule?Karikatur:Riemann "Devolution"

KiTa, Schule und Digitale Bildung

Wenn die Kinder als Jugendliche die Schule verlassen, müssen sie medienmündig sein. Die Stadt Stuttgart ist für die digitale Ausrüstung der Schulen zuständig und stellt dafür jährlich 30 Millionen Euro bereit. Doch bisher fehlt ein pädagogisches Konzept. Wann sollen Kinder ein Smartphone bekommen, ab wann sollen digitale Medien in Erziehungseinrichtungen eingesetzt werden? Darüber gibt es eine weltweite kontroverse Debatte, die bei uns bisher einseitig geführt wird. Vorreiterländer der Digitalisierung wie Schweden, Finnland, Norwegen, Dänemark und die Niederlande machen aktuell die Digitalisierung bis einschließlich der Grundschulen rückgängig. Frankreich will als Folge eines Regierungsgutachtens (April 2024) ein Smartphone-Verbot bis zum 12. Lebensjahr und die Social Media Nutzung erst ab dem 18. Lebensjahr erlauben. Ist das realistisch und notwendig angesichts wachsender psycho-sozialer Schäden durch zu frühe Smartphonenutzung, Internetsucht, Mobbing und Cybergrooming oder gibt es andere Wege als Verbote? Darüber braucht es dringend eine öffentliche Debatte.

Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS) fordert:

  • Ein Opendata Portal
  • Glasfaser- und Kleinfunkzellennetz in städtischer Hand
  • Kostenloser Zugang zu schnellem Internet
  • Einsatz von Visible Light Kommunikation (LiFi, Lichttechnik) zur Datenübertragung in Schulen, Krankenhäusern und anderen städtischen Einrichtungen
  • Unterstützung von Hackerspace zur digitalen Emanzipation
  • Keine Video Überwachung
  • Das Recht auf ein analoges Leben
  • Erstellung eines ökologischen Fußabdrucks der städtischen Digitalisierung

>>> Zur Originalquelle: https://s-oe-s.de/positionen/digitalisierung/

SÖS / diagnose:funk
Harald Welzer, Wikipedia

Der Soziologe Harald Welzer über die Digitalisierung: "Neben- und Fernwirkungen tun wieder einmal nichts zur Sache."

„Führt man sich das alles vor Augen, hat man eine Kaskade von Problemen vor sich, von denen nicht ein einziges mit den Mitteln der Digitalisierung zu lösen ist. Nehmen wir Umweltzerstörung, Klimawandel, Landraub und all die anderen Folgen eines in seiner Steigerungslogik ungebremsten Hyperkonsums dazu, wird im Gegenteil etwas ganz anderes deutlich:

 

  • Die Digitalisierung ist in ihrer unmittelbaren Verschwisterung mit dem Konsum von Gütern und Dienstleistungen nichts anderes als die radi­kalisierte Fortschreibung des wachstumswirtschaftlichen Programms,

das weder an der vernünf­tigen Einrichtung von Gesellschaften noch an einem zukunftstauglichen Naturverhältnis interessiert ist. Hier zählt nur die reine Gegenwart und wie ihre Gegebenheiten auszuschöpfen sind. Auch in dieser Hinsicht ist das Digitale fossil. Es verbrennt Zukunft. Radikal". (Harald Welzer: Die smarte Diktatur, 2016, Fischer Verlag, S.287)

„Es ist übrigens interessant, dass diese unheimliche invasive Herrschaftstechnik der Algorithmisierung des Lebens und der Vereinzelung der Menschen keine Protestbewegung gegen sich erzeugt, obwohl sie in vielerlei Hinsicht lebensfeindlich und entwürdigend ist. Stattdessen wird die Ausstattung der Lebenswelt mit Sensoren und Überwachungstechnologien aller Art unbeschadet von jeder politischen Debatte zu ihrem erstens demokratiefeindlichen und zweitens gesundheitsschädlichen Potenzial flächendeckend exekutiert …

  • Hierhin gehört etwa das Phänomen, dass man die – wie neuere Studien durchaus nahelegen – Gesundheitsbeeinträchtigungen durch Funkzellen in den Bereich der Esoterik und Spinnerei abdrängt, um in aller Selbstverständlichkeit und ohne jede öffentliche Begründung in der Mobilfunktechnik permanent aufzurüsten. Neben- und Fernwirkungen tun wieder einmal nichts zur Sache.

Im Namen der Wettbewerbs- und Konkurrenzfähigkeit lassen sich hier wirtschaftliche Chancen unauffällig und gleichsam nebenbei realisieren, ohne dass nach einer Folgenabschätzung auch nur gefragt würde.“ (Harald Welzer: ZeitenEnde, 2023, Fischer Verlag, S.268)

Prof. Harald Welzer hat den >>> Rat für digitale Ökologie gegründet, besetzt mit bekannten Umweltwissenschaftlern.

 

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