Prof. Dr. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt leitete an der Universität Bielefeld den Bereich Neuroanatomie und Humanbiologie und forschte über die Folgen der Reizüberflutung, Suchtmechanismen und den Zusammenhang zwischen Bewegung, Lernen und Gehirn. In der Kleinkindzeit geht eine übermäßige Bildschirmnutzung mit "Entwicklungsstörungen, insbesondere der Sprache und Kognition" einher, warnt die Leitlinie Bildschirmmedien. Warum sie sich irreversibel schädlich auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns auswirkt, erläutert G.Teuchert-Noodt im Interview.
Was sagt die Hirnforschung zur Bildungskatastrophe und zur Digitalisierung des Lernens von Kindern und Jugendlichen?
„... auch eine halbe Stunde ist für das Kind eine halbe Stunde zu viel!“
Anm.: Der Begriff „Medien“ wird im Interview im Sinne von digitalen Medien genutzt, auch wenn Medien natürlich viel mehr umfassen.
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KOMPAKT: Frau Prof. Teuchert-Noodt, nun haben Länder wie Schweden und die Niederlande beschlossen, die Digitalisierung der Vorschulen rückgängig zu machen. Stimmt Sie das optimistisch?
TEUCHERT-NOODT: Na ja, wenn es als Weckruf zu verstehen ist, dem weitere Schritte folgen möchten, und zwar auch hierzulande. Diese zaghafte Maßnahme basiert doch auf einer umfassenden wissenschaftlichen Studie, die von Professorinnen und Professoren der Psychologie und kognitiven Neurowissenschaften durchgeführt und mit Stellungnahme von der gesamten Karolinska Universität an die Politik übergeben wurde. Man erwartet also doch entschieden weiterreichende Maßnahmen als dieses banale Zugeständnis „Bildschirme haben in Vorschulen nichts zu suchen“, was sich für jemanden mit fachlichem Hintergrund so anhört wie „morgen früh ist die Nacht vorbei“. Man fragt sich ja nur, wieviel Unverstand dazu gehört, Tablets überhaupt in Vorschulen einzuführen. Über kurz oder lang hätte man diesen Schritt zwangsläufig auch ohne Empfehlung aus einer Universität rückgängig machen müssen, weil ein so abartiger Feldversuch seine Folgen von ganz allein offenbart hätte und dies bereits tut.
KOMPAKT: Die neu erschienene Leitlinie zur Bildschirmmediennutzung spricht sich nun ja allgemein auch dafür aus, möglichst spät in der Schule Tablets einzusetzen, verfolgt aber das Konzept der Medienbegleitung, bis 3 Jahre keine Nutzung, ab 3 Jahren höchstens 30 Minuten, 6-9 Jahren 30-45 Minuten. Wir beurteilen Sie das?
TEUCHERT-NOODT: Wenn Tablets möglichst spät in der Schule eingesetzt werden sollen, wäre das schon ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Es bleibt zu empfehlen, die neuen Leitlinien zuvor mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Lernen im Jugendalter abzugleichen. Bisher hat die Pädagogik das jedenfalls nicht getan, wenngleich die Dekade der Hirnforschung mit wichtigen Botschaften zur Lernentwicklung das doch nahelegt.
- Wie kann man im Medienzeitalter überhaupt noch eine vernünftige Schulpädagogik ohne Kenntnisse desjenigen Gegenstandes betreiben, um den sich alles dreht, das menschliche Gehirn in seiner Entwicklung. Es dürfte sich doch wohl rumgesprochen haben, dass neuronale Entwicklung und Lernen Hand in Hand gehen.
Das Konzept zur Medienbegleitung von Kleinkindern, und dann auch noch mit kleinkarierten Vorschriften ausgetüftelt, das ist ein böser Witz. Es kann sich nur um ein Gefälligkeitskonzept handeln, das den Konzernen in die Hände spielt, die technisches Spielzeug und Kindertablets auf den Markt schaufeln und Kinder, wie in China, systematisch auf eine digitale Überwachung vorbereiten wollen.
- Fakt ist doch, dass das kindliche Gehirn grundsätzlich durch jegliche Mediennutzung überfordert ist, weil ganz unmittelbar das reifende Gehirn geschädigt wird, und das Kind eine digitale Abhängigkeit entwickelt; auch eine halbe Stunde ist für das Kind eine halbe Stunde zu viel.