Pisa-Schock: Was sagt die Hirnforschung zur Bildungskatastrophe und zur Digitalisierung des Lernens von Kindern und Jugendlichen?

Interview mit Prof. G. Teuchert-Noodt: „... auch eine halbe Stunde ist für das Kind eine halbe Stunde zu viel!“
Deutschland ist im Pisa-Schock. Die schulischen Lernleistungen sacken ab, nach der Statistik liegt der Kipppunkt des Leistungsabfalls im Jahr 2012. Ab dieser Zeit stieg aber auch die Smartphonenutzung rasant. „Je länger sich Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit mit ihren Smartphones beschäftigen und je mehr Zeit sie in sozialen Medien verbringen, desto geringer ist die schulische Lernleistung,“ das ist das Ergebnis der Metastudie von Prof. Klaus Zierer. Mit der Smartphonenutzung kam die Bewegungsarmut, Vorlesen durch die Eltern und eigenes Lesen gingen zurück, das Sprechen miteinander wich bei vielen virtueller Facebook-, TikTok-, Instagram- und WhatsApp-Kommunikation. Zusammenhänge, die wieder einmal nicht thematisiert werden. Zu ihnen führte diagnose:funk mit der Neurobiologin Prof. Gertraud Teuchert-Noodt ein ausführliches Interview. Warum die Wechselwirkung zwischen der außerschulischen und schulischen Nutzung digitaler Medien zur Intelligenzminderung führt, das erläutert Prof. Teuchert-Noodt im Interview.
Prof. Gertraud Teuchert-Noodt, Bild:Sarah Jones

Prof. Dr. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt leitete an der Universität Bielefeld den Bereich Neuroanatomie und Humanbiologie und forschte über die Folgen der Reizüberflutung, Suchtmechanismen und den Zusammenhang zwischen Bewegung, Lernen und Gehirn. In der Kleinkindzeit geht eine übermäßige Bildschirmnutzung mit "Entwicklungsstörungen, insbesondere der Sprache und Kognition" einher, warnt die Leitlinie Bildschirmmedien. Warum sie sich irreversibel schädlich auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns auswirkt, erläutert G.Teuchert-Noodt im Interview.

 

Was sagt die Hirnforschung zur Bildungskatastrophe und zur Digitalisierung des Lernens von Kindern und Jugendlichen?

„... auch eine halbe Stunde ist für das Kind eine halbe Stunde zu viel!

Anm.: Der Begriff „Medien“ wird im Interview im Sinne von digitalen Medien genutzt, auch wenn Medien natürlich viel mehr umfassen.

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KOMPAKT: Frau Prof. Teuchert-Noodt, nun haben Länder wie Schweden und die Niederlande beschlossen, die Digitalisierung der Vorschulen rückgängig zu machen. Stimmt Sie das optimistisch?

TEUCHERT-NOODT: Na ja, wenn es als Weckruf zu verstehen ist, dem weitere Schritte folgen möchten, und zwar auch hierzulande. Diese zaghafte Maßnahme basiert doch auf einer umfassenden wissenschaftlichen Studie, die von Professorinnen und Professoren der Psychologie und kognitiven Neurowissenschaften durchgeführt und mit Stellungnahme von der gesamten Karolinska Universität an die Politik übergeben wurde. Man erwartet also doch entschieden weiterreichende Maßnahmen als dieses banale Zugeständnis „Bildschirme haben in Vorschulen nichts zu suchen“, was sich für jemanden mit fachlichem Hintergrund so anhört wie „morgen früh ist die Nacht vorbei“. Man fragt sich ja nur, wieviel Unverstand dazu gehört, Tablets überhaupt in Vorschulen einzuführen. Über kurz oder lang hätte man diesen Schritt zwangsläufig auch ohne Empfehlung aus einer Universität rückgängig machen müssen, weil ein so abartiger Feldversuch seine Folgen von ganz allein offenbart hätte und dies bereits tut.

KOMPAKT: Die neu erschienene Leitlinie zur Bildschirmmediennutzung spricht sich nun ja allgemein auch dafür aus, möglichst spät in der Schule Tablets einzusetzen, verfolgt aber das Konzept der Medienbegleitung, bis 3 Jahre keine Nutzung, ab 3 Jahren höchstens 30 Minuten, 6-9 Jahren 30-45 Minuten. Wir beurteilen Sie das?

TEUCHERT-NOODT: Wenn Tablets möglichst spät in der Schule eingesetzt werden sollen, wäre das schon ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Es bleibt zu empfehlen, die neuen Leitlinien zuvor mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Lernen im Jugendalter abzugleichen. Bisher hat die Pädagogik das jedenfalls nicht getan, wenngleich die Dekade der Hirnforschung mit wichtigen Botschaften zur Lernentwicklung das doch nahelegt.

  • Wie kann man im Medienzeitalter überhaupt noch eine vernünftige Schulpädagogik ohne Kenntnisse desjenigen Gegenstandes betreiben, um den sich alles dreht, das menschliche Gehirn in seiner Entwicklung. Es dürfte sich doch wohl rumgesprochen haben, dass neuronale Entwicklung und Lernen Hand in Hand gehen.

Das Konzept zur Medienbegleitung von Kleinkindern, und dann auch noch mit kleinkarierten Vorschriften ausgetüftelt, das ist ein böser Witz. Es kann sich nur um ein Gefälligkeitskonzept handeln, das den Konzernen in die Hände spielt, die technisches Spielzeug und Kindertablets auf den Markt schaufeln und Kinder, wie in China, systematisch auf eine digitale Überwachung vorbereiten wollen.

  • Fakt ist doch, dass das kindliche Gehirn grundsätzlich durch jegliche Mediennutzung überfordert ist, weil ganz unmittelbar das reifende Gehirn geschädigt wird, und das Kind eine digitale Abhängigkeit entwickelt; auch eine halbe Stunde ist für das Kind eine halbe Stunde zu viel.
Bewegung ist eine Grundlage für die Reifung des GehirnsFoto: Jochen van Wylick, unsplash

KOMPAKT: Welche Grundfertigkeiten werden diese Kinder dann nicht entwickeln?

TEUCHERT-NOODT: Bereits bei kurzer Bildschirmnutzung wird die soziale Kommunikation vernachlässigt und folglich das Sprechen nur schwer erlernbar. Und es wird der unaufhaltsame kindliche Drang blockiert, sich körperlich vielseitig zu betätigen, um für ein ganzes Leben davon zu profitieren. Das alles auf Grund der Tatsache, dass im kindlichen Gehirn senso-motorische und emotional-limbische Schaltkreise in den Startlöchern liegen, aber im digitalen Umfeld - selbst wenn Mama surft während sie das Kleinkind ernährt - die unzählig vielen Nervenzellen nicht hinreichend verschaltet werden können.

  • Nur analoge Aktivitäten können die Reifung synaptischer Verschaltungen anstoßen und fördern. Wozu bringt der Mensch so komplexe Kopfsinnesorgane mit auf die Welt, wenn sie medienbedingt daran gehindert werden, die Welt in die weiten Gefilde des Großhirns einzubauen?

Speziell der alles dominierende Gleichgewichtssinn vermittelt frühkindlich einen größten Anteil einflussnehmender Aktivitäten für eine raumbezogene und intelligente Hirnentwicklung durch k k k, also krabbeln, klettern, kommunizieren. Aber er verliert diese vitalisierenden Kräfte sofort beim Starren der Kinderaugen auf einen Bildschirm. Dann steuert die Verhaltensentwicklung des Kindes in eine falsche Richtung. Abhängigkeit und Lernbehinderung sind die ersten Antworten, und unverschuldet wird das eigentlich wunderbar veranlagte Kind zum Therapiefall.

KOMPAKT: Sie postulieren, dass es kein digitales Lernen geben kann. Warum bleibt im Kopf nichts hängen, wenn man mit dem Finger über ein Display wischt?

TEUCHERT-NOODT: „Digitales Lernen“ gibt es ebenso wenig wie die viel gepriesene sogenannte „künstliche Intelligenz“, und beides wird es auch niemals geben, selbst wenn sich gewisse Strategen erhoffen, die Kleinkinder über halbstündige Tagesangebote für die digitalen Techniken einzufangen. Das wird ihnen zwar tatsächlich gelingen, aber mit bösen Folgen für die mentale Entwicklung des Kindes.

  • Denn technische Geräte funktionieren eindimensional, aber biologische Systeme werden raumdimensional angelegt.

Das heißt nicht, dass sich das Nervengerüst im embryonalen Gehirn automatisch raumbezogen entwickelt. Sondern das genetisch angelegte Gerüst wird nur unter Einsatz aller verfügbaren Sinne auch wirklich räumlich ausgebaut und auf Leistung gebracht. Wenn Kinder mit dem Finger über einen Display wischen, bedienen sie lediglich eine Schaltebene im angelegten Gerüst der Möglichkeiten, eine umfängliche Reifung von Kontakten bleibt in der Klein- und Großhirnrinde ausgespart. Das schlägt sich unwiederbringlich in Verhaltensdefiziten nieder.

KOMPAKT: Erläutern Sie uns das doch genauer, und warum das zu weiteren irreversiblen Schädigungen führen kann, und zu welchen!

TEUCHERT-NOODT: Das Stichwort heißt „adaptive Neuroplastizität“: Bereits Ende der 90iger Jahre haben Bremer Neurowissenschaftler mit Hilfe der bildgebenden Analysetechnik gezeigt, dass bei Studierenden mit viel Handynutzung die Repräsentanz für den Daumen in der motorischen Großhirnrinde neuroplastisch vergrößert wurde. Das geschieht natürlich auf Kosten benachbarter Felder, die eigentlich für andere motorisch-assoziative Fähigkeiten verfügbar sein sollten - vielleicht für Klavierspielen.

  • Dieses Experiment hat bewiesen, dass Nervennetze, ebenso wie die körperlichen Bewegungsmuskeln, auf aktives sensorisch-motorisches Training mit strukturellem Ausbau reagieren.

Umgekehrt, ebenso wie ein gebrochener Arm in Gips alsbald seine Muskeln verdünnt, wird „digitales Lernen“ kognitive Vernetzungen im Kortex der Studierenden nur ausgedünnt organisieren. Auch wer sich im privaten Leben über digitale Lebens- und Haushaltshilfen bedient, wird bald unter allgemeinen kognitiven Defiziten leiden. Navi-abhängige Autofahrer bekommen es direkt zu spüren, sobald die Verbindung mal nicht funktioniert.

KOMPAKT: ... und bei Kindern?

TEUCHERT-NOODT: Im Kindesalter hat eine digitale Beanspruchung reifender Rindenfelder generell noch schwerwiegendere Folgen als im Erwachsenen. Wenn das Wischen und Tippen in sensorisch-motorischen Feldern der Klein- und Großhirnrinde nur einseitig ausgerichtete Kontakte reifen lässt, führt das gleichzeitig zur Unterversorgung assoziativer Areale.

  • Es ist doch vorhersagbar, dass sich dadurch das Sprechen- und Schreibenlernen nur schwerfällig entwickeln und ein Zugang zum mathematischen Denken gänzlich versperrt bleiben wird. Die Schäden werden umso dramatischer ausfallen, je früher das Kind mit der Technik vertraut gemacht wird.

Und noch etwas ist dazu zu sagen: Allgemein wird gefordert, jedenfalls in den fortgeschrittenen Schuljahren, das Lernen auf E-Learning und Tablets umzustellen. Auch dies widerspricht den wissenschaftlichen Erkenntnissen zur neuroplastischen Hirnreifung: Der jugendliche Kortex befindet sich noch in einem ganz spezifischen Um- und Ausbau von kognitiven Faserzügen. Frühkindlich arbeitet das Stirnhirn verstärkt über tiefe und kurze assoziative Faserzüge, ab der Adoleszenz werden diese von ausreifenden langen Horizontalbahnen in der höheren Hirnrinde abgelöst. Dieser späte und bedeutsame Um- und Ausbau macht es gleichzeitig möglich, die Gedächtnisspeicher auszubauen und das Denkvermögen zu schulen. Herkömmlicherweise wird eben solches im Unterricht der Oberstufenklassen geschult, wie in Philosophie und höherer Mathematik. Und ein Verständnislernen beherrscht praktisch auch alle anderen Schulfächer, jedenfalls war das Pauken in unserer fortgeschrittenen Schulzeit verpönt.

  • Es bleibt dabei, Lernen und Entwicklung gehen Hand in Hand. Ein generell digital organisierter Unterricht von Mittel- und Oberstufe wird den notwendigen neuroplastischen Um- und Ausbau der Großhirnrinde erheblich behindern.

Das bis dahin überwiegend kindlich geprägte Konditionierungslernen kann nicht hinreichend von einsichtsbezogenem Lernen abgelöst werden, Langzeitgedächtnis und vertiefte Denkfähigkeiten bleiben auf der Strecke.

Grafik: Supper / Teuchert-Noodt (2021)

KOMPAKT: Sie haben in einer Studie mit der Psychologin Angelika Supper untersucht, wie sich das räumliche Vorstellungsvermögen bei Kindern entwickelt, die nicht mit dem Smartphone spielen, im Vergleich zu denen, die es viel nutzen. Was war, kurzgefasst, das Ergebnis?

TEUCHERT-NOODT: Diese Studie (>>> s. Downloads) hat sich für mich aus unserer langjährigen Plastizitäts- und Kognitionsforschung an der Universität Bielefeld ergeben, wo ich mit einem Team von fortgeschrittenen Studierenden über 25 Jahre hin zur Lern- und Psychoseentstehung im frühen Kindesalter geforscht habe. Von daher wusste ich, das dem Stirnhirn eine höchste Bedeutung in Bezug auf die Entwicklung des räumlichen Vorstellungsvermögens zukommt, und Preteens hirnphysiologisch bereits alle Voraussetzungen für den Ausbau eines Raumgedächtnisses haben. Deshalb haben Frau Supper und ich für diese Studie gezielt Drittklässler im Alter von 9 Jahren ausgewählt.

  • Unsere Studie hat ergeben, dass die Kinder ohne Umgang mit dem Smartphone ein solides und gut angelegtes räumliches Vorstellungsvermögen, Zeitgefühl und Erinnerungsvermögen besitzen. Aber diese Fähigkeiten sind bei Drittklässlern, die intensiven Umgang mit dem Gerät haben, bereits signifikant schlecht entwickelt. Das birgt weitere Gefahren für die Intelligenzentwicklung in sich.
  • Es wundert doch gar nicht, wenn öffentliche Medien neuerdings beklagen, dass bei Grundschulkindern die Aufmerksamkeit und Konzentration so nachlassen. Unsere Studie möchte ein Alarmsignal für Eltern und Lehrer sein.

Einige der benutzten Tests (Anm. publiziert in Neurology & Neuroscience, 2021, 1 (3): 1-9) könnten schulisch etabliert werden, um Reifungsrückstände digitalisierter Kinder therapeutisch zu bekämpfen. Grundsätzlich sollte das Kinder-Handy verboten werden. Dann würden sich viele Lernschwierigkeiten von allein beheben.

KOMPAKT: Welche Bedeutung für die Entwicklung der Persönlichkeit hat denn die mangelnde Ausreifung der Raum-Zeit-Verrechnung?

TEUCHERT-NOODT: Das war über die letzten 70 Jahre hin weltweit in Forschungseinrichtungen eine zentrale Frage in der humanen Kognitions- und Psychoseforschung. Raum-zeitliches Verhalten wird mit verlässlichen Tests – wie wir in obiger Studie angewendet haben – auch in der industriellen Entwicklung von Psychopharmaka eingesetzt, um bei Erwachsenen psychische Defizite zu detektieren und pharmakologisch zu behandeln. Psychologen und Verhaltensforscher wie Jean Piaget und Konrad Lorenz hatten in der Mitte des letzten Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum zuerst erkannt, dass kognitive Funktionen über Stirnhirn und limbischen Kortex gesteuert werden, und psychische Funktionen raum-zeitlich organisiert sind. Daraufhin kamen viele Teildisziplinen, wie die Entwicklungspsychologie und Neurowissenschaft in Fahrt und erkannten, dass dies auch die Willensbildung, Konfliktbewältigung, Kontrolle über Emotionen und das Arbeitsgedächtnis einschließt. Letzteres steuert Aufmerksamkeit, Konzentration und Motivation. Bei diesen enorm hohen Ansprüchen an das Stirnhirn versteht man, warum es fast 20 Lebensjahre braucht, bis alle diese Teilfunktionen annähernd gereift sind. Das macht dann eine Persönlichkeit aus.

  • Wir fanden in unserem Labor heraus, dass durch frühkindliche Deprivation eine mangelhafte räumliche Reifung einzelner Neuronenfelder in den weiten Gefilden des Stirnhirns erfolgt, und solches Funktionsstörungen zur Folge hat, die sich – abhängig vom Schweregrad der Deprivation – als Hyperaktivität, Angststörung und Verlust der raum-zeitlichen Gedächtnisbildung zu erkennen gaben.

Man bedenke also, was von einer soliden kindlichen Stirnhirnreifung abhängt, und wie nahezu unmöglich es für Kinder mit Handy in der Tasche oder in erreichbarer Nähe ist, sich auf Wesentliches zu konzentrieren. Die physiologisch instabilen Nervennetze im kindlichen Stirnhirn wollen natürlich viel lieber ohne Anforderungen – also digital – Freundschaften schließen, um die sozialen Bedürfnisse und die immanente kindliche Neugierde zu befriedigen. Und sie nehmen das Tablet gern an, um sich konditionieren zu lassen und Lerninhalte ahnungslos wegzuwischen. Deswegen, Hände weg vom Handy und Tablet, nicht nur im Kindesalter, sondern über die gesamte Hirnreifung hin, die sich bis in die Adoleszenz fortsetzt.

Doof gebor´n wird keiner, doof wird man gemacht! Und wer behauptet, doof bleibt doof, der wird nur ausgelacht! (Grips-Theater)Bild:diagnose:funk

KOMPAKT: Das müssen Sie jetzt doch noch etwas näher erklären. Noch Mitte letzten Jahrhunderts hat man die Konditionierung gemäß dem Skinner-Box-Lernen als Einsatz des sogenannten Nürnberger Trichters disqualifiziert. Wo befindet sich denn dieser Trichter und was macht er mit dem Gehirn?

TEUCHERT-NOODT: Dieser Trichter sitzt in den unterschwelligen Gefilden unseres Gehirns, also in Schaltkreisen von Hirnstamm, Thalamus und limbischem System, die alle unüberschaubar vielfältig miteinander vernetzt sind. Sie leisten im Unbewusstsein die Vorarbeit für Stirnhirn und assoziative Rindenfelder. Man bedenke, dieser Trichter ist ab der Geburt voll verfügbar und konditioniert natürlicherseits frühkindliches Verhalten. Der Thalamus ist das Tor zu dem erst langsam erwachenden Bewusstsein, und der limbische Hippocampus ist der neuronale Sekretär für das ebenso langsam reifende Stirnhirn. Bis der Verstand greift, wird das kindliche Verhalten durch konditioniertes Lernen überbrückt. Deswegen fahren Kinder auf die digitale Technik so ab und können sich als Jugendliche dann nicht mehr abnabeln.

Biologisch betrachtet ist dieser Stufenausbau des Gehirns äußerst sinnvoll. Das Stirnhirn würde vor Überbeanspruchung durch die uns ständig flutenden Sinnesreize bersten, wenn ihm nicht ein Sekretär vorgeschaltet wäre, der zusätzlich auch mit einer räumlichen Vorverarbeitung aller ihn passierenden Sinnesreize beauftragt ist. Die dafür zuständigen neuronalen Grids wurden erst vor kurzem an der hippocampalen Eintrittspforte entdeckt und beschrieben. Die Pforte selbst ist mit der sogenannten Hebb’schen Lernsynapse ausgestattet, die man zuvor über 3 Jahrzehnte wegen ihrer genialen Plastizität molekular und elektrophysiologisch beforscht hatte. Beide Strukturen spielen sich am Eingang als sehr flexible Pförtner auf, um auch einer hohen Reizflut gegenüber standzuhalten. Digitale Beschleuniger sind geradezu perfekte Dienstleister, um den Durchfluss vieler Sinnesaktivitäten nahezu gleichzeitig zu akzeptieren und angeschlossene Schaltelemente reflexhaft zu konditionieren.

  • Kinder werden durch die digitale Technik buchstäblich daran gehindert, sich um Lernerfahrungen zu bemühen und in ihrem Großhirn solide zu verankern. Deswegen stellen privater Handy-Gebrauch und Tablet-Beschulung von Kindern und Jugendlichen überhaupt die größte Gefahr für die Zukunft unserer Gesellschaft dar.

KOMPAKT: Woraus leiten Sie ihre These ab, dass das Smartphone eine Droge ist, die mit stofflichen Drogen gleichgesetzt werden kann?

TEUCHERT-NOODT: Diese Frage ergibt sich geradewegs aus vorherigen Ausführungen, denn die strukturelle Ursache verbirgt sich in den Katakomben des limbischen Systems. Das Wischen über die smarte Platte ermöglicht es dem menschlichen Auge, den hippocampalen Schaltapparat hochzutouren. Das allein führt zwar noch nicht in eine Sucht, sondern das eigentliche Problem verbirgt sich in weiteren Verschaltungen des hippocampalen Turbators, der bekanntlich das Kurzzeitgedächtnis anlegt. Er wird üblicherweise von zwei Seiten bespielt, einem Bypass aus der Amygdala mit emotionalem Zufluss, und einem zweiten Bypass, der solches über eine Dopamin-Opiat-Achse heftig unterstützt, indem er eigenständig ein gewisses Langzeitgedächtnis anlegen kann; die rezeptiven und strukturellen Eigenschaften dieses besonderen Speichers sind uns seit einem Vierteljahrhundert gut bekannt, auch in unserem Labor haben wir dazu und zu den weiteren Folgen intensiv geforscht. Dieser subkortikale Speicher, das sogenannte Belohnungssystem, ist einerseits genial, denn er erhöht die Leistungsstärke für stumpfsinnige Routinearbeiten, denen wir im Berufsleben allenthalben ausgesetzt sind. Man denkt gar nicht nach, sondern macht den Unsinn einfach, vielleicht sogar sehr gern und jahrelang. Selbst Wissenschaftler sind nicht davor gefeit, eine sinnlose Forschung ohne nachzudenken langfristig zu verfolgen.

Gleichzeitig hat uns die Evolution damit in eine böse Falle gelockt. Eine Designerdroge – wir haben das in unserem Labor für die Amphetamin-Droge Ecstasy untersucht – bindet sich an die Dopamin-Opiat-Achse an, und diese baut daraus ein pathologisches Langzeitgedächtnis auf. Eine Drogen-Sucht entsteht.

  • Auf gleiche Weise kann ein überschleunigter hippocampaler Pförtner von langer Hand eine Handy-Sucht anstoßen. Egal, an welcher Stelle auch immer der hippocampale Schaltapparat sein eigentliches Kurzzeitgedächtnis überfordert, um es buchstäblich für diesen teuflischen Langzeitspeicher preiszugeben, er verbraucht dabei den kostbaren verfügbaren Transmitterhaushalt. Dann wird das Stirnhirn speziell durch Dopaminmangel unterversorgt, was die lokalen Transmitter wie GABA und Glutamat in Mitleidenschaft zieht und sie zu dysfunktionaler Strukturanpassung zwingt.

Arbeitsgedächtnis und andere Stirnhirnleistungen können den jugendlich wachsenden Anforderungen unter Drogeneinfluss nicht mehr nachkommen, und die funktionellen Fehlsteuerungen können sich im psychotischen Verhaltensspektrum niederschlagen. Die derzeitige Zunahme psychischer Störungen im jugendlichen Alter kann mit großer Wahrscheinlichkeit überwiegend auf mediale Überforderungen zurückgeführt werden, denen der limbische hippocampale Komplex wie beim Genuss einer Designer-Droge ausgesetzt ist. Bei zusätzlich digitalen Vorerfahrungen aus der Kindheit wird ein Zurück umso schwieriger.

Standardwerk mit Grundsatzartikel von G. Teuchert-NoodtHandbuch Internet-und Computersucht, Verlag Kohlhammer

KOMPAKT: Warum sollen sich denn vor allem Pädagogen diese neurobiologischen Grundlagen zu eigen machen?

TEUCHERT-NOODT: Man muss wissenschaftliche Erkenntnisse unbedingt vor Erlass neuer Richtlinien in Rechnung stellen.

  • Denn ohne diese Erkenntnisse aus der Sucht- und Lernforschung können Erzieherinnen und Verantwortungsträger für neue Richtlinien zur Digitalisierung von Schulen, die fundamentalen Gefahren eines generellen Computerlernens kaum wirklich verstehen.

 

Der zurzeit stattfindende ungeheuerliche und naive Feldversuch der Beschulung mit Tablets wird Misserfolge erst dann zeitigen, wenn es für diese Generation zu spät ist. Verantwortungsträger sind also verpflichtet, sich an den wissenschaftlich erarbeiteten Erkenntnissen zu orientieren. Sie sollten verstehen, warum die Digitalisierung für Kinder und Jugendliche so außerordentlich gefährlich ist und möglichst zügig wieder abgeschafft werden sollte! Es wäre viel angemessener, zum Ende einer Schulzeit einen Medienkurs anzubieten, wie ihn meine Studenten in den 90er Jahren in Anspruch genommen hatten, als an den Universitäten die Computer erstmalig in Betrieb genommen wurden. Nach wenigen Wochen waren sie so perfekt mit der Medientechnik vertraut, dass ich selbst es im Alter von 50 Jahren von ihnen ganz schnell auch gelernt hatte.

KOMPAKT: Warum ist digitale Medienabstinenz im Kindes- und Jugendalter die beste Vorbereitung auf die digitalisierte Umwelt ? Das klingt doch eigentlich paradox.

TEUCHERT-NOODT: Ja, das klingt eigentlich paradox, weil wir in der Erziehung immer davon ausgehen können, dass die natürliche hohe Lernbegabung von Kindern genutzt werden sollte, möglichst viele Fertigkeiten anzubieten und erlernbar zu machen; nur dann sind Kinder für ihre Zukunft gut vorbereitet. Aber geben wir es doch zu, die Zukunft steht für jede heranwachsende Generation in den Sternen.

  • Was Kinder also immer wieder in erster Linie auf ihren Lebensweg mitbekommen müssen, das sind allgemeine praktische und mentale Fähigkeiten, um eine kluge Lebensstrategie entwickeln zu können und die immer notwendigen individuellen Eigenschaften wie Neugierde, Mut und Kreativität in sich zu stärken.

Das lernt man alles wie von ungefähr im Alltag, aber auch in der Schule. Aber der Umgang mit digitalen Medien stellt die herkömmlichen Lebenserfahrungen, die mit wissenschaftlichen Ergebnissen fabelhaft übereinstimmen, komplett auf den Kopf.

Wenn man also heute die Botschaft verkünden muss, dass „eine Kindheit ohne Medien der beste Start ins digitale Zeitalter ist“, dann deswegen, weil Mut und Kreativität die beste Mitgift für eine immer wieder ungewisse Zukunft bleiben, eine Mitgift, die durch Digitalisierung nicht entzogen, sondern geradewegs aberzogen wird. Kindern und Jugendlichen, die digital unterwegs sind, wird nicht nur der körperliche sondern auch der geistige Sportunterricht versagt. Das ist die eigentliche Paradoxie im Zeitalter der Digitalisierung.

KOMPAKT: Der soziale Druck, dass Kinder ab dem 9. Lebensjahr oder noch früher ein Smartphone wollen, ist groß. Wie können Eltern hier gegensteuern?

TEUCHERT-NOODT: Es war nie anders, Erziehung erfordert einen vollen elterlichen Einsatz. Wahrhaft liebevolle Eltern müssen sich darum bemühen, dem Kind zu erklären, warum ein Smartphone in diesem Alter überhaupt nicht infrage kommen kann. Warum das Kind sogar stolz sein kann, dieses nicht haben zu müssen, weil das auf Kosten seiner Intelligenzentwicklung geht. Kinder verstehen das nicht? Ich glaube sie können es verstehen. Die Frage ist, wie man es ihnen erklärt und was ihnen zum Ausgleich angeboten wird. Attraktive Angebote außerhalb der Schulzeit, wie körperliche und geistige Ertüchtigungen in sportlichen und musischen Bildungsstätten, sind in digitalen Zeiten besonders hilfreich, sozialen Druck abzubauen und gleichzeitig die Entwicklung wunderbar zu fördern.

KOMPAKT: Noch mal zurück: Man dürfe die Kinder nicht alleine lassen, deshalb sei ein früher begleitender Umgang mit digitalen Medien eine verantwortungsvolle Lösung. Die Verfechter der Digitalisierung versichern ja gerne wortreich, dass es bei all dem darum gehe, Kindern einen „vernünftigen”, „verantwortungsvollen” und „kompetenten” Umgang mit den Geräten zu vermitteln. Ist das für Sie gar nicht denkbar?

TEUCHERT-NOODT: „Vernunft, Verantwortung und Kompetenz“, das sind die drei Eigenschaften des Menschen, die seine Persönlichkeit prägen, aber zuallerletzt reifen. Wie oben dargelegt, benötigt es nahezu die ersten 20 Lebensjahre, um diese Fähigkeiten zu erwerben. Seit Anbeginn aller Zeiten verlangt es Eltern ihren ganzen Einsatz ab. Vieles, aber genau das nehmen die zahlreichen digitalen Helfershelfer ihnen nicht ab. In diesem Sinn erzogene Kinder werden die Rechnung für die elterlichen Bemühungen später dankbar begleichen.

  • Wenn allerdings die goldenen Regeln der Kindeserziehung krass vernachlässigt werden, indem das Smartphone als Elternersatz eingesetzt wird, werden diese sehr bald von schwersten Sorgen eingeholt.

Den Verfechtern der Digitalisierung könnte man vielleicht empfehlen, ihren Beruf zu wechseln und dem dramatischen Lehrermangel Abhilfe zu leisten. Allerdings sollten sie vorab bekehrt sein und dann das fast Unmögliche leisten wollen, Kindern diese Geräte aus den Händen zu nehmen, um Schulen wieder auf Niveau zu bringen.

Monkey Business - stock.adobe.com, Montage:diagnose:funk

KOMPAKT: Wie also müssten Kinder aufwachsen, um gegen die Gefahren der neuen Techniken gewappnet zu sein? Können Eltern diese Herausforderung überhaupt alleine bewältigen?

TEUCHERT-NOODT: Wenn Eltern dazu bereit sind, sich mit der heutzutage sehr schwierigen Materie einer medienfreien Erziehung auseinanderzusetzen, und ihre Feierabende, Wochenenden und Ferien gemeinsam mit den Kindern in sozialer Eintracht medienfrei verbringen, dann können sie ihnen die notwendige Intelligenz mit auf den Weg geben. Denn Fakt ist, Kinder lieben am allermeisten ihre Eltern und können von ihnen lernen, auf das Handy zu verzichten. Wie in der irischen Stadt Greystones das Problem gelöst wurde, ist vorbildlich: Grundschulen, Eltern und Stadtverwaltung haben sich auf einen Smartphoneverzicht für die Kinder geeinigt. Was noch dazu gehört, um die enormen Herausforderungen des Medienzeitalters zu bewältigen, dazu können Soziologen und Pädagogen noch viele weitere Ratschläge geben.

KOMPAKT: Wir haben eine Bildungskatastrophe. Die Grundfertigkeiten Lesen, Rechnen, Schreiben und Zuhören gehen immer mehr zurück. Die Bildungspolitik setzt als Ausweg auf noch mehr Digitalisierung. Gibt es eigentlich irgendwelche belastbaren Untersuchungen dafür, dass die Digitalisierung der Schule eine erfolgversprechende Unternehmung sein kann?

TEUCHERT-NOODT: Befragen wir die Wissenschaft des zurückliegenden Jahrhunderts, dann lautet die Antwort n e i n. Alle Erkenntnisse sprechen dafür, dass eine Digitalisierung der Schulen nur ein totaler Reinfall werden kann! Aus der Hirnforschung wissen wir, dass Kinder bis in die neuronale und geistige Ebene hinein biologische und nicht technische Individuen sind, die zur Reifung von geistiger und sozialer Intelligenz den höchsten Einsatz von Familie und Schule benötigen. Die Pädagogik, Entwicklungspsychologie und Neurowissenschaft haben gemeinsam dazu beigetragen, die Grundlagen für eine allgemein fundierte Lernentwicklung von Kindern zu erarbeiten und in Schulkonzepte einfließen zu lassen. Schließlich hat sogar der Begründer der Kybernetik, Norbert Wiener, vor mehr als einem halben Jahrhundert schon davor gewarnt, dass die Entwicklung technischer Regelkreise, die, ebenso wie biologische Regelkreise, vermutlich alsbald auch plastisch gesteuert würden, zur größten Gefahr für die Menschheit werden könnten. Das sind sie inzwischen geworden.

Befragen wir die Schulpraxis von heute, inwiefern eine Digitalisierung der Schulen erfolgversprechend ist, dann stößt man auf Enthaltungen oder ebenfalls auf ein Nein. Alle jüngsten Erkenntnisse belegen doch, dass es sich wahrhaftig um eine Bildungskatastrophe handelt.

  • Wenn dennoch hartnäckige Befürworter der Digitalisierung von Schulen sogar noch mehr Digitalisierung verlangen und der Auffassung sind, die Lehrer dafür besser ausbilden zu müssen, dann haben sie etwas Grundsätzliches nicht verstanden.

Man müsste ihnen selbst zunächst eine Fortbildung auf diesem Sektor anempfehlen. Wenn ein Verantwortungsbewusstsein weder bei den KI-Produzenten noch global in der Gesellschaft nicht endlich in Sicht kommt, dann holt uns die Geschichte ein.

KOMPAKT: Liebe Kollegin Teuchert-Noodt, vielen Dank für diese bedeutenden Ausführungen.

Das Interview führte Peter Hensinger im November 2023 / >>> Druckversion des Interviews

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Fachartikel von Prof. G. Teuchert-Noodt stehen zum freien Download auf www.diagnose-funk.org/1674

Ihre Arbeiten zur Grundlagenforschung auf: https://www.researchgate.net/scientific-contributions/Gertraud-Teuchert-Noodt-34091346

Publikation zum Thema

Format: DVDSeitenanzahl: 40 Min. Hauptfilm, 75 Min. Bonustracks Veröffentlicht am: 23.02.2021 Bestellnr.: 954, Preis 17,90 EuroSprache: DeutschHerausgeber: diagnose:funk

Aufwach(s)en im Umgang mit digitalen Medien

Was Eltern und Erzieher wissen sollten: Wie der Gebrauch digitaler Medien die Gehirnentwicklung beeinflusst
Inhalt:
Regie: Klaus Scheidsteger / Drehbuch: Gertraud Teuchert-Noodt, Peter Hensinger, Klaus Scheidsteger / Musik: Markus Stockhausen / Länge: 40 Minuten. Bonustracks: Vortrag Prof. G. Teuchert-Noodt zum Stand der Forschung (30 min) / Video über die Bedeutung des Stirnhirns (15 min) / Vortrag Peter Hensinger zum Forschungsstand WLAN (30 min). Diagnose:funk will Eltern und ErzieherInnen mit diesem Film darin unterstützen, die Entwicklung ihrer Kinder unter dem Einfluss digi­taler Medien bestmöglich zu verstehen. Ihr Kind soll zu einem gesunden, selbstsicheren und intelligenten Menschen he­ranwachsen, um später mit den komplexen Anforderungen des Lebens gut zu­rechtkommen zu können. Wie kann das gelingen, wenn Kinder heutzutage im Alltag unzähligen digitalen Medien ausgesetzt sind, die ihren Bewegungsdrang einschränken und ihre sinnli­chen Erfahrungen verkümmern lassen? Hier müssen Eltern und Erzieher die rich­tigen Entscheidungen treffen. Dieser Film vermittelt Wissen von berufener Seite, der Hirnforschung. Prof. Gertraud Teuchert-Noodt forschte an ihrem Institut über 25 Jahre über das Ler­nen und die Gehirnentwicklung. Ihre Erkenntnisse über die Wirkungen digitaler Medien auf die Gehirnentwicklung werden im Film verständlich dargestellt.
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