Prof. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg und Associated Research Fellow an der University of Oxford, nahm zu diesem Bildungsprotest und dem Irrweg der Digitalisierung des Schulwesens in der TAZ Stellung. Zierer leitet seinen Artikel „Bildung auf Talfahrt“ (30.09.2023) mit der Feststellung ein:
- „Mehr Digitalisierung ist keine Lösung in der Bildungskatastrophe. Was es braucht, ist mehr Raum für Mitgestaltung, Interdisziplinarität und musische Fächer.“
Zierer beschreibt den maroden Zustand des Schulsystems und die Auswirkungen auf die Kinder:
- „Deutschlandweit fehlen Lehrpersonen, immer mehr Kinder erreichen die Mindeststandards in Kernkompetenzen wie dem Lesen nicht, die Zahl der Schulabbrecher ist und bleibt hoch, die Bildungsschere geht immer weiter auseinander. Hinzu kommen desaströse Tendenzen in der psychosozialen Entwicklung. Immer mehr Jugendliche leiden unter Depressionen. Und auch die körperliche Verfassung der nachwachsenden Generation ist beeinträchtigt, wie die hohe Quote an Nichtschwimmern vor Augen führt.“
Seit Jahrzehnten drückt sich die Politik um eine konsequente, wissenschaftsbasierte Schulreform. Stattdessen folgte sie den Vorschlägen der Industrie für eine „Digitale Bildung“, Zierer kritisiert:
- „Bis heute gibt es keine evidenzbasierten Konzepte, die den Lehrermangel beseitigen helfen, die Wege einer individuellen Förderung im Schulsystem aufzeigen, die Kinder und Jugendliche in einem umfassenden Sinn in ihren Bildungsprozessen unterstützen.“ Stattdessen „berauscht man sich an einer Digitalisierungseuphorie, die in anderen Ländern Europas bereits verflogen ist, weil man erkannt hat, dass digitale Medien im Bildungsbereich nicht die Lösung, sondern das Problem sind.“
Weltweit wächst die Kritik an der Digitalisierung von Schule
Die Kritik an der Digitalisierung der Schulen wächst weltweit. Der U.S. Surgeon General, Chef einer obersten US-Bundesgesundheitsbehörde, intervenierte aktuell mit einem Gutachten zur Gefährdung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen durch digitale Medien.[1] Der neue UNESCO-Bildungsbericht untermauert die Notwendigkeit einer Korrektur des digitalen Hypes. In Ländern, die Vorreiter der Digitalisierung waren, wie Schweden, Finnland, Niederlande, Frankreich und China werden bereits Konsequenzen gezogen und in den Vorschulen die Digitalisierung eingeschränkt oder sogar rückgängig gemacht.[2] Im Juni 2023 wurde die „Leitlinie zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend“ als gemeinsame Empfehlung von elf deutschen Fachverbänden aus Medizin und Psychologie publiziert, federführend ist die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ).[3] Die Leitlinie empfiehlt eine drastische Einschränkung der Nutzung von Bildschirmmedien bei Kindern, v.a. in Schulen bis zur Sekundarstufe. Auch der Neurobiologe Prof. Martin Korte hält einen Einsatz digitaler Medien erst ab der 7. Klasse für angebracht:
- „Im Kindergarten und in der Grundschule sollte meines Erachtens weitgehend auf digitale Medien verzichtet werden ... weil es wichtig ist, Schutzräume zu schaffen“ und „kompensatorisch Gegenwelten aufzubauen“.[4]
Zierer entwickelt in seinem TAZ-Artikel Grundpositionen für eine pädagogische Wende:
- „So wichtig die Pisa-Studien waren, so stark hat man sich in der Vergangenheit darauf beschränkt, nur naturwissenschaftliche, mathematische und muttersprachliche Kompetenzen in den Blick zu nehmen. Bildung umfasst aber mehr, und Themen werden zu isoliert betrachtet. Unterm Strich kommen Demokratiebildung und Wertevermittlung zu kurz ... Eine Lehrplanreform, die einerseits in den Kernfächern entrümpelt und andererseits zugunsten der musischen Fächer neu gewichtet, ist längst überfällig.“
Abschied vom "Digitalisierungswahn" gefordert
Diese Wende erfordert einen Bruch mit dem von der Industrielobby durchgesetzten Konzept der „Digitalen Bildung“, einen Abschied vom „Digitalisierungswahn“, Zierer schreibt:
- „All dies kann nur gelingen, wenn aus bildungspolitischer Sicht endlich die Zeichen der Zeit erkannt werden und die Bildungskatastrophe angegangen wird. Aber nicht mit einem weiteren Digitalisierungswahn, wie ihn die Bildungspolitik flächendeckend betreibt: Digitales Lernen sei modernes Lernen und damit gut. So soll denn auch alles digitalisiert werden, was digitalisiert werden kann: Smartboards statt Tafeln, Tablets statt Hefte, Erklärvideos statt Texte und wischen, statt zu blättern. Dass es für all das aber keine Evidenz gibt, sondern im Gegenteil viele Studien Zweifel am Nutzen einer solchen Digitalisierung aufkommen lassen, wird ausgeblendet. Digitale Medien müssen klug in den Unterricht integriert werden.“
Die „Digitale Bildung“ ist ein Geschäftsmodell der IT-Branche. Der Abschied von ihr muss auch ein Abschied von der Ausrüstung der Schulen mit gesundheitsschädlichem WLAN sein. Mehr als 100 Studien weisen seine Toxizität, u.a. Auswirkungen auf das Gehirn und das Lernen, nach (Naziroglu 2015, Wilke 2018, Hensinger 2023).[5] Daraus folgt: Strahlende Geräte und WLAN dürfen an Kitas und Schulen nicht eingesetzt werden.
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