„Nach dreißig Jahren Auswertung der Studienlage kann ich sagen: Die nicht-ionisierende Strahlung ist gesundheitsschädlich, auch im nicht-thermischen Bereich“

Interview mit der Diplom Biologin Isabel Wilke, Redakteurin des ElektrosmogReport
Isabel Wilke, Diplom-Biologin, Redakteurin des ElektrosmogReport, wertet seit mehr als 30 Jahren die Studienlage zur nicht-ionisierenden Strahlung aus. Sie ist eine der fachkundigsten Naturwissenschaftlerinnen auf diesem Gebiet. Sie gehört zu den 180 Ärzten und Wissenschaftlern, die in 2017 in einem Appell an die EU vor potenziell schweren gesundheitlichen Auswirkungen der 5G-Mobilfunktechnologie gewarnt haben. Michaela Thiele traf sich in Kassel zum Interview für unser Magazin Kompakt mit der engagierten Biologin.
Isabel Wilke, Bild:diagnose:funk

KOMPAKT: Isabel, wie kamst du zum Thema elektromagnetische Felder, kurz EMF?

ISABEL WILKE: Das Katalyse Institut für angewandte Umweltforschung e.V., ein unabhängiges Forschungsinstitut für den Schutz von Umwelt und Gesundheit in Köln, suchte 1994 Mitarbeiter für den Bereich elektromagnetische Felder (Elektrosmog), nachdem das Buch „Elektrosmog – Grundlagen, Grenzwerte, Verbraucherschutz“ 1994 erschienen war. Die Verbraucherberatung spielte eine große Rolle im Katalyse-Institut und zu Elektrosmog kamen immer mehr Anfragen. Da ich durch meine Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin und mein Biologiestudium erfahren war in Toxikologie, bewarb ich mich erfolgreich. Bis 2005 arbeitete ich für das Institut, die letzten Jahre in freier Mitarbeit.

KOMPAKT: Und wie entdecktest Du speziell die Strahlungsproblematik?

ISABEL WILKE: Das Thema Strahlung zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Bereits als Kind wusste ich von meinem Vater, einem hohen Tier bei der Luftwaffe, dass radioaktive Strahlung schädlich ist, dass energiereiche, ionisierende Strahlung Schäden im Gewebe anrichten kann. Während meiner MTA-Ausbildung erfuhr ich von der Schädlichkeit der Röntgenstrahlung für Lebewesen und später im Studium lernte ich genauer, was ionisierende Strahlung bei der DNA für Schäden hervorrufen kann, nämlich die Bildung z. B. von Thymin-Dimeren im DNA-Strang, wodurch die DNA nicht mehr korrekt abgelesen werden kann. Im Fach Genetik wird ionisierende Strahlung gezielt genutzt, um für bestimmte Fragestellungen die passenden Mutationen zu selektionieren. Hängen geblieben ist mir ein Zitat aus der Medizin, das in etwa so lautet „Es reicht im Prinzip ein Strahl aus, um eine Mutation hervorzurufen, die zur Entwicklung von Krebs führen kann“.

KOMPAKT: Kannst du kurz etwas zur Geschichte des Institutes sagen?

ISABEL Wilke: Das Katalyse Institut ging aus einer Gruppe von Chemikern hervor, die Anfang der 1980er Jahre das Buch ‚Chemie in Lebensmitteln‘, das in über 30 Auflagen erschien, herausbrachten und von dem Erlös das Katalyse-Labor einrichteten. Das Labor untersuchte auf gesundheitsschädliche Chemikalien, mit denen Verbraucher in Berührung kamen.

Ein wesentlicher Arbeitsbereich war später am mittlerweile umbenannten und um Physiker und Baubiologen erweiterten Katalyse Institut für angewandte Umweltforschung das Thema umweltfreundliche Baustoffe und schließlich, als 1986 der Atomreaktor in Tschernobyl explodierte, sehr schnell eine Messstelle für Radioaktivität. Nach ersten Studien in den 1970er Jahren zum krebsauslösenden Potenzial von Hochspannungsleitungen, Magnetfeldern durch Trafos und Haushaltsstrom wandten sich die Physiker und Baubiologen dem Thema nicht-ionisierende Strahlung zu, eben dem sogenannten Elektrosmog; die Arbeitsgruppe brachte das erste deutschsprachige Buch dazu heraus.

KOMPAKT: Wie sah deine Arbeit beim Katalyse Institut genau aus?

ISABEL WILKE: Die Arbeit war sehr interessant und umfangreich. Ich hielt Vorträge und Seminare, führte Messungen durch, aktualisierte und erweiterte das Buch ‚Elektrosmog‘ (5. Auflage 2002), schrieb Beiträge für die Katalyse-Nachrichten und wertete die immer umfangreicher werdende Studienlage aus. Außerdem war ich auch für den Bereich Trinkwasser zuständig. Als die Wasserfilter für die Haushalte aufkamen, war die Frage „wie gut ist unser Trinkwasser“ ein kontroverses Thema.

30 Jahre Auswertung der Studienlage, Publikationen von Isabel Wilke: Ihr Buch von 2002, ElektrosmogReport 2013, ElektosmogReport 2023 Publikationen von Isabel Wilke

>>> Hier können Sie den ElektrosmogReport auf www.EMFData.org herunterladen

______________________________________________________________________________

KOMPAKT: Was sind für dich die wichtigsten Studien zum Thema EMF, welche Forschungsfortschritte gab es im Laufe der Jahre? 

ISABEL WILKE: Außer den ersten oft zitierten Studien von Wertheimer/Leeper 1979 und 1982 sowie Feychting/Ahlbom zu Hochspannungsleitungen und Krebs wurde nach weiteren Untersuchungen anderer Arbeitsgruppen in den 1990er Jahren deutlich, dass bei Familien, die in der Nähe von Hochspannungsleitungen wohnen und Magnetfeldern von 0,3 oder 0,4 Mikrotesla (µT) ausgesetzt sind, das Risiko für Kinderkrebs erhöht ist. Mehrere Studien zu beruflich exponierten Personen fanden ebenfalls erhöhte Erkrankungsrisiken. Eine Schweizer Studie zu Krebs - Leukämie und Hirntumoren - bei Zugpersonal 2001 fand ich ebenfalls bemerkenswert. Minder und Pfluger fanden dosisabhängig signifikant steigende Fallzahlen von Leukämie; bei Hirntumoren waren die Ergebnisse nicht so deutlich. In den 1990er Jahren bekam der Mobilfunk mehr und mehr Bedeutung. Auch die Anfragen bei der Verbraucherberatung dazu stiegen signifikant an.

Vor allem in den frühen 1990er Jahren begannen weltweit verschiedene Arbeitsgruppen wissenschaftliche Arbeiten mit nieder- und hochfrequenten Magnetfeldern durchzuführen. Sie arbeiten z. T. bis heute. Forschungsinhalte waren zunächst Auswirkungen auf Melatonin, Biorhythmus, Krebsentwicklung und Verhaltensänderungen bei Tieren. Später kamen andere physiologische Veränderungen - EEG, Hormone, Fruchtbarkeit u. a. - und Schädigungen von Geweben verschiedener Organe - Nerven-, Herz-, Hodenzellen u.a. - hinzu. Zu nennen sind z. B. die Professoren Löscher von der Tiermedizinischen Hochschule Hannover, Rüdiger, Hutter, Kundi und Mosgöller von der Medizinischen Universität Wien, Lai und Singh von der University of Washington u.v.a.

KOMPAKT: Stichwort Mobilfunklobby – Welche Erfahrungen hast du mit Vertuschungen, Wissenschaftskorruption und Gefälligkeitsstudien gemacht?

ISABEL WILKE: Einige namhafte Wissenschaftler und Studienautoren haben im Laufe der Zeit die Seite gewechselt. Manche Forscher landen direkt in der Industrie. Haben unabhängige Wissenschaftler Belege für Gesundheitsschädigungen durch EMF gefunden, lässt die Industrie Gegengutachten erstellen oder verunglimpft die Studien und die Wissenschaftler samt Personal. Der leider schon verstorbene Professor Adlkofer, Koordinator der von der EU in Auftrag gegebenen REFLEX-Studie 2004, sowie Henry C. Lai und Narendra P. Singh, die schon in 1996 DNA-Strangbrüche in Gehirnzellen von Ratten nach Befeldung mit Hochfrequenzstrahlung feststellten, wurden solche Opfer. Einige brisante Studienergebnisse werden von der Industrie falsch zitiert oder man drückt sich missverständlich aus, um ein industriefreundlich formuliertes Studienergebnis zu präsentieren. Das geschah zum Beispiel mit der Studie des ECOLOG Institutes für die Telekom. An der privaten Uni Witten/Herdecke verharmloste ein Professor die Mobilfunktechnik. Echte Forschung gab es früher vor allem in Russland, in der Ukraine und der Tschechoslowakei, dort gibt es die auch heute noch. Darüber hinaus gibt es in vielen Ländern unabhängige Forschung, so etwa in Schweden, Belgien, Italien, in der Türkei, den USA, Kanada, Indien, um einige zu nennen.

KOMPAKT: Könntest Du uns einige sozusagen Meilensteine der Forschung nennen?

ISABEL WILKE: Nach meiner nun über dreißigjährigen Auswertung der Studienlage kann ich sagen: In der Zusammenschau von hunderten Ergebnissen aus Zellstudien im Labor, Tierstudien und epidemiologischen Studien haben wir ein klares Ergebnis: Die nicht-ionisierende Strahlung ist gesundheitsschädlich, auch im nicht-thermischen Bereich. Von vielen Studienergebnissen, die hohe wissenschaftliche Standards erfüllen, ragen da u.a. besonders heraus die Studien der türkischen Arbeitsgruppe um Prof. Naziroglu zu WLAN, der Griechen um Prof. Panagopoulos zu Fliegen und Fruchtbarkeit. Die Fruchtfliege Drosophila ist ja dafür der Referenzorganismus. Und zum Krebspotential sind die nach dem Goldstandard durchgeführten NTP- und Ramazzini-Studien Meilensteine. Und dabei nicht zu vergessen die Reflex-Studie von 2004, gegen deren Ergebnisse die Industrie Sturm gelaufen, aber zum Glück gescheitert ist. Die Vorfälle um diese Studie zeigen, mit welchen harten Bandagen bis zum Rufmord unangenehme Ergebnisse und aufrechte Wissenschaftler bekämpft werden.

Isabel Wilke im Interview mit Michaela Thiele (diagnose:funk)Bild:diagnose:funk

KOMPAKT: Welche persönlichen Erlebnisse und Erkenntnisse sind dir besonders in Erinnerung geblieben?

ISABEL WILKE: Die Industrie scheint alles mitzubekommen bzw. hat überall ihre Spitzel (lacht). Als ich einmal an der Uni Karlsruhe für das Katalyse Institut einen Vortrag hielt, saßen ‚Agitatoren‘, wie man sie vom Fernsehen kennt, in den vorderen Reihen und störten den Vortrag bzw. provozierten mit Fragen. In Köln betreute ich einmal während der Umwelttage einen Stand, an dem man mit einem Spektrumanalysator seine Handystrahlung messen lassen konnte. Ein Herr von Viag Interkom (jetzt Telefónica) ließ sein Mobiltelefon messen. Ein Techniker der Telekom sagte mal zu mir, er würde niemals an einem aktiven Funkmast arbeiten, wie seine Kollegen das taten, und kaufte mir sogar unser Buch ‚Elektrosmog‘ ab. Ein Mitarbeiter der Mobilfunkindustrie ließ mich wissen, er würde beim Einschalten seines Mobiltelefons das Gerät immer vom Körper weghalten, das Einloggen geschieht ja mit maximaler Leistung, nach der Verbindung zur Basisstation wird je nach Güte der Verbindung heruntergeregelt. Das alles ereignete sich bereits in den 1990er Jahren. Ich bin mir sicher, viele Mitarbeiter bei Industrie und Behörden wussten und wissen über die Risiken der Mobilfunkstrahlung und Niederfrequenz Bescheid und sind insgeheim eher kritisch eingestellt.

KOMPAKT: Wie arbeitet das Bundesamt für Strahlenschutz, welche Erfahrungen hast du mit ihm gemacht?

ISABEL WILKE: Tja, das ist ein trauriges Kapitel. Als ich 1994 in diesem Bereich begann zu arbeiten, war die Leitung des BfS nicht so strikt auf der Seite der Industrie, da konnte man mit den Leuten reden. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Vielleicht nur ein Punkt sei erwähnt: Diese Behörde hat angeblich genaue Vorgaben, wie Forschungsarbeiten zu sein haben, um anerkannt zu werden; das heißt, nach welchen Kriterien sie durchzuführen sind. Bei der Vergabe eigener Projektarbeiten spielen diese Kriterien nicht unbedingt eine Rolle.

KOMPAKT: Wir sind besonders auf Veranstaltungen permanent mit dem Bundesamt konfrontiert und Abgeordnete glauben seinen Entwarnungen nahezu kritiklos.

ISABEL WILKE: Das Bundesamt, dessen Publikationen ich seit seiner Gründung verfolge, ist zu einer Legitimations- und Dienstleistungsbehörde für die Industrie mutiert, zumindest im Bereich nicht-ionisierende Strahlung. Die Distanzlosigkeit und enge Zusammenarbeit ohne jegliches Unrechtsbewusstsein zeigt das letzte Protokoll des Runden Tisches beim Bundesamt. Auf die Frage, wie man auf Sorgen von Eltern zur Smartphonenutzung von Kindern beschwichtigend eingehen solle, steht dort, ich zitiere: „Hinsichtlich der praktischen Kommunikationsarbeit werden Informationsmaterialien insbesondere für jüngere Menschen, Eltern und Lehrpersonal entwickelt. Aktuell stimmt sich das BfS hierzu intern und mit dem BMUV ab. Auch mit dem Informationszentrum Mobilfunk (IZMF) findet ein Austausch zu bereits bestehenden Materialien statt.“ Das IZMF ist die Interessensvertretung und PR-Zentrale der Mobilfunkbetreiber. Muss man so viel Interessenübereinstimmung noch kommentieren?

KOMPAKT: Ich habe Dich als Redakteurin des ElektrosmogReports kennengelernt. Wie kamst du zu dieser anspruchsvollen Tätigkeit und in Kontakt zu diagnose:funk?

ISABEL WILKE: In 1987, ein Jahr nach der Katastrophe von Tschernobyl, wurde ein unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität (ionisierender Strahlung) und Gesundheit ins Leben gerufen – das Strahlentelex. Die redaktionelle Verantwortung lag bei dem Ingenieur und Wissenschaftsjournalisten Thomas Dersee. Seit 1995 enthielt das Strahlentelex zusätzlich die Rubrik ElektrosmogReport, als unabhängigen Fachinformationsdienst zur Bedeutung elektrischer und magnetischer Felder für Gesundheit und Umwelt. Als die Redaktion um den Physiker Michael Karus Ende 2005 aufhörte und eine Anfrage an das Katalyse Institut gerichtet wurde, ob sie jemanden kennen würden, der ab 2006 die Redaktion des ElektrosmogReports übernehmen könnte, wurde ich empfohlen und sagte gleich zu. Einige Jahre erstellte ich den 4 Seiten umfassenden ElektrosmogReport allein, später, im März 2018, nahm ich den jungen Biologen Roman Heeren mit ins Team. Kontakt zu diagnose:funk bekam ich, glaube ich mich zu erinnern, durch eine Anfrage von Peter Hensinger von diagnose:funk zur Interpretation einer Studie. Peter Hensinger ist es auch zu verdanken, dass der Biologe Alain Thill nun als Dritter mit im Redaktionsteam ist. Seit März 2019 erscheint der ElektrosmogReport ohne das Strahlentelex und wird seitdem dankenswerterweise von Diagnose-Funk e.V. herausgegeben. Er gilt als deutsches Pendant zu den renommierten Microwave News aus den USA.

KOMPAKT: Liebe Isabel, danke für diesen Insider-Blick in die Geschichte der Forschung.

Das Interview führte Michaela Thiele im Juni 2023 in Kassel.

____________________________________________________________________________

Ein historisches Video von 1995: 3Sat - Wissenschaft im Kreuzverhör-Elektrosmog.

Isabel Wilke vom Katalyse Institut und Dr. Ulrich Warnke (Univ. Saarbrücken) diskutieren mit dem Moderator über die Risiken (ab Min. 22:15).

Ab Min.17:30 werden die WLAN-Versuche von Prof. Lebrecht von Klitzing zu den Einwirkungen der Strahlung auf das Gehirn dokumentiert.

Publikation zum Thema

Sonderbeilage in Ausgabe 1-2018 / ISSN 1437-2606 / 31. JahrgangFormat: A4Seitenanzahl: 32 Veröffentlicht am: 19.02.2018 Sprache: DeutschHerausgeber: umwelt • medizin • gesellschaft

Biologische und pathologische Wirkungen der Strahlung von 2,45 GHz auf Zellen, Fruchtbarkeit, Gehirn und Verhalten

Review veröffentlicht in umwelt • medizin • gesellschaft
Autor:
Isabel Wilke
Inhalt:
Dieser Artikel ist ein systematischer Review von Studien zu den Wirkungen nicht-ionisierender Strahlung in der Mikrowellen (MW)-Frequenz 2,45 GHz (2.450 MHz), die hauptsächlich für WLAN / WiFi-Anwendungen (Wireless Local Area Network) und den Mikrowellenherd genutzt wird.
Artikel veröffentlicht:
24.08.2023
Artikel aktualisiert:
22.05.2024
Autor:
diagnose:funk / Michaela Thiele

Downloads

Ja, ich möchte etwas spenden!