Herr Lankau, die UNESCO untersuchte die Auswirkungen des Einsatzes digitaler Medien, v.a. von Tablets und Smartphones im Unterricht. Was war die Fragestellung?
RALF LANKAU: Die zentrale Frage des UNESCO-Berichts lautet: „Kann Technologie die wichtigsten Herausforderungen im Bildungswesen lösen?“ Die Antworten darauf sind differenziert, weil die weltweit untersuchten Länder und Bildungskulturen ebenso variantenreich sind wie die lokalen sozialen Bedingungen und technischen Voraussetzungen.
Der englische Guardian, die deutschen Online-Dienste heise und golem berichteten, dass die UNESCO ein Smartphone-Verbot fordert. Wir haben diese Forderung aber im Bericht nicht gefunden.
RALF LANKAU: Die Presseberichterstattung über den UNESCO-Bericht ist zum Teil irritierend, wenn nicht sachlich falsch. Golem titelte „UNESCO fordert weltweites Smartphone-Verbot", relativiert allerdings bereits in der Unterzeile: „In einem neuen Bericht warnt die UNESCO vor möglichen negativen Folgen der übermäßigen Nutzung moderner Technologien im Klassenzimmer.“ Vor übermäßiger Nutzung, steigenden Bildschirmzeiten und den gesundheitlichen und sozialen Folgen müssten sogar die Digitalisten warnen, die Heil und Segen für das „moderne Lernen“ aus dem Netz erwarten und als Lehrkräfte ohne WLAN und Clouddienste „gar nicht mehr unterrichten“ könnten, wie einige behaupten. Verbote sind aber nur ein nachgeordneter Teilaspekt der Diskussion über IT in Schulen.
Dann sind die Presseberichte also komplett falsch?
RALF LANKAU: Eigentlich auch wieder nicht, denn die Redakteure schlussfolgern in ihren Titeln, was jeder verantwortungsvolle Pädagoge und Bildungspolitiker nach den Ergebnissen des UNESCO-Berichts tun müsste: Die Smartphone- und Tablet-Nutzung an den Erziehungseinrichtungen bis zum 14. Lebensjahr zu verbieten.
Was sind die Hauptergebnisse und Aussagen der UNESCO?
RALF LANKAU: In meiner Auswertung (>>> s. Downloads) habe ich die Ergebnisse des UNESCO-Berichts ausführlich dargelegt. Kurz zusammengefasst: Es gibt kaum belastbare Beweise für den Mehrwert der digitalen Technologie im Bildungswesen. Der Einsatz neuer Geräte und Dienste wird von technischen Entwicklungen vorgegeben, anstatt von Anforderungen und Bedürfnissen der Lehrenden und Lernenden bestimmt zu werden. Schulen sind ein Experimentierfeld und Markt für neue Techniken, deren Relevanz nur von den Anbietern behauptet wird.
Aber in der deutschen Bildungspolitik heißt es, der Nutzen sei in Pilotprojekten bewiesen und die Digitalisierung sei ein Ausweg aus der Bildungskatastrophe.
RALF LANKAU: Dazu macht der Bericht eine klare Aussage: Ein Großteil der Nachweise stammt von denjenigen, die versuchen, sie zu verkaufen. Einer der führenden Anbieter von Lernsoftware, Pearson, finanzierte seine eigenen Studien und bestreitet unabhängige Analysen, die zeigten, dass seine Produkte keine Auswirkungen hatten. Der Bericht kritisiert den wachsenden Einfluss der Bildungstechnologie-Industrie auf die Bildungspolitik auf nationaler und internationaler Ebene. Dieser Einfluss ist auch in Deutschland dominant. Kritische Wissenschaftler werden nicht gehört.
Apropos deutsche Bildungskatastrophe. Die Ergebnisse der aktuellen Untersuchungen zu den Fähigkeiten der Viertklässler beim Lesen, Rechnen, Schreiben, Zuhören und ihres Sprachniveaus sind verheerend. Macht der Bericht Aussagen, wie dies mit der Digitalisierung zusammenhängen könnte?
RALF LANKAU: Der am deutlichsten kritisierte Aspekt von IT in Schulen ist die Anpassung der Lernenden und ihrer Lernprozesse an IT-Systeme, mit negativen Auswirkungen. So heißt es im Bericht, dass mehr Bildschirmzeit das Wohlbefinden von Kindern im Alter von 2 bis 17 Jahren beeinträchtigt. Elementar sei daran zu erinnern, dass Lehren und Lernen auf menschlichen Verbindungen beruhe. Technologie dürfe das soziale Miteinander niemals verdrängen. Digitale Technologie könne die persönliche Interaktion mit den Lehrern daher allenfalls ergänzen, aber nicht ersetzen.
Was sind die negativen Auswirkungen?
RALF LANKAU: Der Bericht bestätigt, was viele Studien, z.B. die Metastudie des Kollegen Klaus Zierer ergab: Je länger die Nutzungszeit, desto schlechter die Lernleistungen. Oder die Studie der Kollegin Teuchert-Noodt: Je mehr Handyspielen, desto verzögerter die Gehirnentwicklung (>> engl. Version der Studie). Zwei Kernaussagen im UNESCO-Bericht:
- Die Nutzung von Technologien durch Schüler im Klassenzimmer und zu Hause kann ablenkend wirken und das Lernen stören.
- Und: Das Online-Lernen hängt von der Fähigkeit der Schüler zur Selbstregulierung ab und kann für leistungsschwache und jüngere Lernende ein erhöhtes Risiko der Ablenkung bedeuten.
Die Fähigkeit zur vollen Selbstregulierung und Impulskontrolle haben Kinder bekanntlich zumindest bis zum 14. Lebensjahr noch nicht. Die Einführung digitaler Medien, insbesondere an Kindergärten und Grundschulen ist deshalb eine Maßnahme, um Kinder abhängig, also süchtig zu machen.
Haben Bildungspolitiker in anderen Ländern aus diesen Erkenntnissen schon Konsequenzen gezogen?
RALF LANKAU: In China beschränkte das Bildungsministerium die Zeit, die mit digitalen Geräten als Lehrmittel verbracht wird auf 30 % der gesamten Unterrichtszeit. Zunehmend mehr Länder verbieten die Verwendung von Mobiltelefonen oder anderen privaten digitalen Geräten in Schulen. In Frankreich z.B. gilt bereits seit 2010 ein Handyverbot im Unterricht, 2018 erweitert zum Komplettverbot internetfähiger Geräte wie Handys, Tablets und Smartwatches in allen Räumlichkeiten und bei schulischen Aktivitäten, auch außerhalb des Schulgebäudes. Die Niederlande führen 2024 ein Smartphone-Verbot ein. In Schweden wurden nach dem Bericht des Karolinska-Instituts die Tablets aus Vor- und Grundschulen wieder entfernt. Jedes vierte Land weltweit verbietet aktuell private Geräte in der Schule, damit Kinder und Jugendliche sich wieder auf den Unterricht konzentrieren können und miteinander kommunizieren.
Wir sind in einer Bildungskatastrophe, und die Digitalisierung, so sagen viele Studien, verschärft sie noch. Was sehen Sie als Ausweg?
RALF LANKAU: Die UNESCO ruft mit der Fragestellung "Ein Werkzeug zu wessen Bedingungen?" und der gleichzeitig startenden Kampagne #TechOnOurTerms-Kampagne dazu auf, „bei Entscheidungen über Technologie im Bildungswesen die Bedürfnisse der Lernenden in den Vordergrund zu stellen“ und zu prüfen, ob Anwendungen aus Sicht der Lernenden angemessen, gerecht, evidenzbasiert und nachhaltig seien. Elementar sei daran zu erinnern, dass Lehren und Lernen auf menschlichen Verbindungen beruhe. Technologie dürfe das soziale Miteinander niemals verdrängen. Digitale Technologie könne die persönliche Interaktion mit den Lehrern daher allenfalls ergänzen, aber nicht ersetzen. Das widerspricht vehement den derzeit propagierten Konzepten der IT-Wirtschaft, die das Unterrichten und Testen zunehmend automatisieren will, zuletzt mit Anwendungen der sog. Künstlichen Intelligenz, Avataren und Bots.
Der UNESCO-Bericht ist stattdessen ein Plädoyer für eine dem Menschen dienende Technik, auch und gerade im Bildungsbereich. Da versteht sich von selbst, dass wir mehr und besser bezahlte Lehrer, Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen brauchen, die aber auch ein Bewusstsein über die Risiken digitaler Medien haben und lernen, wie man sie altersgerecht einsetzen bzw. nicht einsetzen kann und soll. Dazu müssen sie über ein fundiertes Wissen in Pädagogik, Entwicklungspsychologie und Didaktik verfügen, um nicht auf die Bequemlichkeiten und Erfolgsversprechungen des Einsatzes von Lernsoftware hereinzufallen. Motivierende Lehrerinnen und Lehrer und der von der qualifizierten Lehrkraft strukturierte Unterricht stehen notwendig im Mittelpunkt von erfolgreichen Bildungsprozessen.
Herr Lankau, danke für dieses Interview und dass Sie uns Ihre Analyse zur Verfügung gestellt haben.
Das Interview führte Peter Hensinger von diagnose:funk; Hyperlinks von diagnose:funk gesetzt.
>>> Homepage von Prof. Ralf Lankau: https://futur-iii.de/
>>> Homepage "Die pädagogische Wende" zum UNESCO-Bericht
>>> Homepage Bündnis für humane Bildung, Sprecher Prof. R. Lankau
>>> diagnose:funk Artikelserie zur Bildungskatastrophe, Ursachen, Auswege
Aktuelle Bücher von Prof. Ralf Lankau, erschienen im renommierten pädagogischen Beltz - Verlag