Schlusslicht Lobbyland Deutschland - die Fortschritts-Narrative der IT-Industrie haben sich festgesetzt. Wann hört die Politik endlich auf die Wissenschaft?
In Deutschland gibt es seit Jahren fundierte Kritiken an den Digitalisierungsplänen. Es lagen Publikationen von Neurobiologen, Ärzten, Psychologen und Medienwissenschaftler wie Spitzer (Smartphone Epidemie), Bleckmann (Medienmündig), Lankau (Kein Mensch lernt digital), Lembke/Leipner (Die Lüge der digitalen Bildung), Teuchert-Noodt (Ein Bauherr beginnt auch nicht mit dem Dach), Krautz (Ware Bildung), Münch (Der bildungsindustrielle Komplex), Zierer (Pädagogik vor Technik) u.v.a.m. vor, die rechtzeitig und fundiert auf Folgen hingewiesen haben.
Doch in skandalöser Weise dominieren bis heute die IT-Konzerne die Beratungsgremien die Bundesregierung (s.u. den d:f-Brennpunkt zum Lobbyismus). Der im Jahr 2017 von der damaligen Bundesbildungsministerin Wanka abgeschlossene Digitalpakt war ein Schaulaufen der IT-Industrie. Im Zwischenbericht der Plattform „Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft“ (2016),[1] ist dokumentiert, wer das Bundeswissenschaftsministerium beraten hatte – nämlich Akteure der IT-Wirtschaft: Von Bitkom, der Gesellschaft für Informatik (GI) über Microsoft, VW, SAP bis zur Telekom waren alle vertreten. Nicht vertreten dagegen waren Kinderärzte, Pädagogen, Lernpsychologen oder Neurowissenschaftler, die sich mit den Folgen der Nutzung von Bildschirmmedien bei Kindern und Jugendlichen beschäftigen.
Aus Sorge um die Folgen schlossen sich 2017 Wissenschaftler zum Bündnis für humane Bildung zusammen mit dem Ziel, bei der Politik Gehör zu finden. Doch die IT-Branche setzte sich durch, mit ihrem geschäftsfördernden Fortschrittsnarrativ "Nur wenn wir die Kreidezeit durch die Digitalisierung der Schulen hinter uns lassen, haben die Kinder und die Wirtschaft eine Zukunft". Die CDU-, SPD-, Grünen- und FDP-geführten Bildungsministerien folgten dem Narrativ und den Plänen des Bertelsmann-Konzerns und der IT-Branche, die Schulen und Kitas als profitable Geschäftsfelder zu erschließen. Das beschleunigte die Bildungskatastrophe.
Aktuelle Studien dokumentieren die Schädigungen
Die Nutzungsdauer von digitalen Medien in Freizeit und Schule explodierte mit dem Smartphone, das 2007 auf den Markt kam. Nach der Postbankstudie 2023 kommen die unter 40-Jährigen auf 86 Stunden Intenetnutzung in der Woche! Der Kernsatz der Meta-Studie des Erziehungswissenschaftlers Klaus Zierer (Universität Augsburg):
- „Je länger sich Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit mit ihren Smartphones beschäftigen und je mehr Zeit sie in sozialen Medien verbringen, desto geringer ist die schulische Lernleistung.“[2]
Die Schulen bieten keinen Ausgleich mehr zur Smartphone-Epidemie, sondern die Erziehungseinrichtungen haben sich inzwischen den Drogen Smartphone und Tablet konzeptionslos geöffnet. Schon lange ist bekannt, dass sie auf Sucht designt und programmiert sind - eine ARTE-Sendung hat dies eindrucksvoll dokumentiert - und dass sie Konzentrationskiller sind.
Die aktuelle DAK-Studie dokumentiert die steigende Zahl smartphone- & internetsüchtiger Jugendlicher, die Schulleistungen in Lesen, Schreiben, Rechnen und Zuhören sinken dramatisch, das zeigen der aktuelle IQB-Bildungsbericht, die KKH-Sprach- und IFS-Lesestudie. Und ganz aktuell stellt der BARMER Kinderatlas 2023 vermehrte Defizite bei Spracherwerb und Motorik fest. Beratungsresistent fahren die Kultusministerien derzeit noch ihren Digitalisierungskurs weiter.
Nicht nur die Schulleistungen sind beeinflusst, die Rektorin Silke Müller schrieb ein aufrüttelndes Buch über die psycho-sozialen Folgen:
- „Ich denke, wir verlieren unsere Kinder und vor allem die Seelen und ihre psychische Unversehrtheit deswegen in den Tiefen der Netzwerke, weil wir nicht hinschauen.“
Und sie hält der deutschen Politik den Spiegel vor:
- „Statt uns den Gefahren im Netz bewusst zu stellen, sie anzunehmen und zu einem Mittelpunkt der Erziehungs- und Bildungsarbeit zu machen, blenden wir sie im Sinne von „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“ oder durch ein komplettes Verharmlosen aus.“
Wurde Prof. Manfred Spitzer nach seinen Büchern "Digitale Demenz" und "Smartphone Epidemie" noch Alarmismus vorgeworfen, so schlagen heute selbst die Krankenkassen Alarm. In der Presseerklärung zur DAK-Sucht-Studie heißt es:
- „Wenn jetzt nicht schnell gehandelt wird, rutschen immer mehr Kinder und Jugendliche in die Mediensucht und der negative Trend kann nicht mehr gestoppt werden. So würden Familien zerstört und die Zukunft vieler junger Menschen bedroht.“
Das Handeln der Regierungen in Schweden, Frankreich, Niederlande und Finnland müsste auch Politiker in Deutschland zum Nachdenken bringen.
Es ist jetzt die Aufgabe von Eltern, Erziehern, Lehrern und Ärzten, in ihrem Umfeld diese dramatische Entwicklung zu thematisieren und Lösungen einzufordern, damit wir unsere Kinder nicht verlieren.
Argumente dafür finden Sie in der diagnose:funk - Artikelserie „Bildungskatastrophe und Digitalisierung (I-VIII) Studien weisen nach: Die Digitalisierung ist ein wesentlicher Faktor der Krise im Bildungswesen“ und Konzepte für eine humane Pädagogik und Erziehung zur Medienmündigkeit.
Quellen
[1] BUNDESMINISTERIUM für Bildung und Forschung (2016): Digitale Chancen nutzen. Die Zukunft gestalten, Berlin; S.23
[2] Klaus Zierer: „Zwischen Dichtung und Wahrheit: Möglichkeiten und Grenzen von digitalen Medien im Bildungssystem“ , Pädagogische Rundschau, 4/2021, S. 377 ff