Lobbyverband der Mobilfunkindustrie durfte die gesundheitlichen Folgen von Mobilfunkstrahlung bewerten
Für den zentralen Teil des Berichtes, nämlich die Dokumentation und Interpretation des wissenschaftlichen Forschungsstandes zu Gesundheitsrisiken der Mobilfunkstrahlung, beauftragte das Büro für Technikfolgenabschätzung des Bundestags (TAB) die Stiftung der Schweizer Mobilfunkindustrie‚ die Forschungsstiftung Strom und Mobilfunkkommunikation (FSM).[1] Dies ging schon 2019 aus einer Anmerkung in einer Broschüre der FSM hervor: „Diese Broschüre basiert auf einer Literaturstudie zum aktuellen Wissensstand über mögliche Risiken der Mobilfunkstrahlung, welche das Büro für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages (TAB) der FSM in Auftrag gab.“[2] Das Büro für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages gibt diesen Umstand nun auch im Bericht zu: „Bei den folgenden Ausführungen handelt es sich um eine sprachlich überarbeitete, gekürzte und punktuell aktualisierte Version des Gutachtens der FSM (2017).“ (S. 87) Mit Verwunderung stellt Jörn Gutbier, Vorsitzender von diagnose:funk, fest:
- „Der Bundestag führt zurecht ein Lobby-Register, weil Lobbyismus als Problem erkannt wurde. Wie kann es da sein, dass das Büro für Technikfolgenabschätzung mit der Schweizer FSM eine ausgewiesene Lobby-Organisation der Mobilfunkindustrie damit beauftragt, diesen wohl wichtigsten Teil des Gutachtens schreiben zu lassen? Das ist unglaublich! Interessant ist aber nun, dass der TAB-Bericht trotzdem wichtige Teile der Studienlage benennt und klare Konsequenzen daraus formuliert.“
Vom Leugnen zum Relativieren
Offensichtlich gab es Interventionen der Berichterstatter der Bundestagsfraktionen für eine Überarbeitung des Erstentwurfes der FSM. Die Interventionen führten zur jetzigen Endfassung, die mehr als 60 Studien mit signifikanten Ergebnissen dokumentiert. Hier ein Originalausschnitt:
- „Neuere Erkenntnisse aus Tierstudien weisen auf die Möglichkeit von Effekten durch EMF-Exposition hin. Dabei handelt es sich um die Aspekte Krebspromotion bei Labornagern, Fertilität und Entwicklung. Evidenz scheint es auch dahingehend zu geben, dass HF-Exposition das Verhalten von Labortieren beeinflusst.
- Auch gibt es eine Reihe von ernstzunehmenden Hinweisen, dass HF-EMF das Tumorrisiko bei ausgewählten Tumoren (Herz, Lunge, Leber, Lymphe) erhöhen. Diese Befundlage wird aktuell in der Fachwelt und von Bewertungsgremien in vielen Ländern intensiv diskutiert, da 2020 die Ergebnisse zweier großer, qualitativ hochwertiger Studien vorgelegt wurden (Kap. 6).
- Ebenfalls bei Tierstudien sind limitierte Hinweise gefunden worden, dass EMF einen Einfluss auf neurodegenerative Erkrankungen haben könnten. Möglicherweise spielt dabei eine unter EMF-Exposition höhere Anzahl Sauerstoffradikale in Zellen eine Rolle. Der Nachweis dieses Effekts in Zellstudien ist zwar noch nicht überzeugend, aber neuere Tierstudien stützen mit limitierter Evidenz diesen Befund.
- Im Hinblick auf Krebsentstehung können neuere Tierstudien erhöhte Inzidenzen zeigen. Danach zeigen sich bei Mäusen, die mit einem karzinogenen Stoff (hier Ethylnitrosoharnstoff) behandelt wurden, mehr Leber- und Lungentumore sowie erhöhte Werte von Lymphomen, wenn die Tiere gegenüber HF-EMF exponiert werden. Allerdings konnte kein klarer Dosis-Wirkungs-Zusammenhang gefunden werden.
- Auch bei neueren Humanstudien werden Hinweise auf einige (negative) Wirkungen von HF-EMF in Erwägung gezogen. Sie betreffen eine mögliche Beeinflussung des Schlafs, wobei die Nachweise insgesamt inadäquat sind, bei Kindern hingegen konnte ein limitierter Nachweis hinsichtlich Einschränkungen der Schlafqualität geführt werden.
- Auch weisen experimentelle Studien auf einen negativen Einfluss auf das Wachstum von Neuriten (langgestreckte Fortsätze von Nervenzellen) hin. Sollten sich diese Resultate in weiteren Repliken bestätigen, wäre dies für die Entwicklung von neurodegenerativen Erkrankungen von großer Relevanz, denn Neuriten sind Vorstufen von Dendriten und Axonen. Aufgrund der zahlreichen möglichen Auswirkungen auf neurodegenerative Erkrankungen sowie auf die Kognition sollten diese Aspekte in weiteren Forschungen abgeklärt werden.“ (4.6 Fazit, S. 120 unten)
Solche klaren Aussagen werden im Bericht immer wieder relativiert, signifikante Forschungsergebnisse werden im TAB zu unverbindlichen Diskussionsbeiträgen herabgewürdigt, wobei man sich auf Einschätzungen nachgewiesener Lobby- und ICNIRP-Organisationen (z.B. SCENHIR, AGNIR) beruft.
Dazu im Widerspruch stehen die klaren Aussagen über Forschungsergebnisse und eine Kritik an ihrer Missachtung. Beachtet man diese innere Widersprüchlichkeit, so hat der Bericht diese Gesamtaussage:
- Es gibt eine umfangreiche Studienlage, die Gesundheitsrisken nachweist und nicht weiter unter den Teppich gekehrt werden darf. Diese Studienlage muss diskutiert und daraus Schlussfolgerungen gezogen werden. Die Ausgrenzung von kritischen Wissenschaftlern und NGOs in dieser Debatte sollte beendet werden.
Download des Technikfolgenberichtes: https://dserver.bundestag.de/btd/20/056/2005646.pdf