diagnose:funk: Herr Dr. Imbesi, Sie haben nun den Urteilstext erhalten und können uns fundiert über dieses Urteil Auskunft geben, das international von Bedeutung ist. Besonders uns in Deutschland lässt dies aufhorchen, weil hier in Deutschland mit dem Hinweis auf Einhaltung der Grenzwerte Klagen schon gar nicht angenommen werden.
Francesco Imbesi: Das Grenzwertargument kann eigentlich nicht vorgeschoben werden, ein Gericht muss ergebnisoffen überprüfen, woher ein Tumor kommen kann, bzw. ob weitere Ursachen als Auslöser desselben angesehen werden können. Außerdem gelten die italienischen Grenzwerte ausschließlich für feste Anlagen, nicht für mobile Geräte wie Handys. Wir wissen auch, dass der von der EU übernommene Industriestandard von 2 W/Kg SAR-Wert nicht immer eingehalten wird, wie Untersuchungen in Frankreich belegen konnten (>>> s. Dr. Marc Arazi, Aktion PhoneGate). Das Berufungsgericht Turin hatte die Aufgabe, das erstinstanzliche Urteil von Aosta aus dem Jahre 2020 zu überprüfen, nachdem das Institut INAIL dagegen Berufung eingelegt hatte. Die Richter in Turin haben Dr. Roberto Albera, Professor für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde an der Universität Turin zum Gerichtssachverständigen ernannt. Prof. Albera ist in medizinwissenschaftlichen Kreisen als Autor von 400 Veröffentlichungen bekannt; ausserdem praktizierte er als Chirurg bei mehr als 10.000 medizinischen Eingriffen.
diagnose:funk: Wie ist es dann zur Rechtssprechung gekommen?
Francesco Imbesi: Die Berufungsrichter haben alle Schritte des Landgerichts Aosta überprüft: vor allem die Aussagen der Sachverständigen beider Parteien, sowie die zahlreichen Zeugenaussagen durch Kollegen des Betroffenen. Prof. Albera hat alle Elemente genauestens analysiert und eine eigene detaillierte Patientengeschichte daraus abgeleitet.
diagnose:funk: Was urteilte das Gericht?
Francesco Imbesi: Das Richterkollegium befand das Vorgehen im erstinstanzlichen Prozess als korrekt. Die Argumente, welche ein Rechtsexperte im Auftrag des INAIL vorstellte, wurden als nicht relevant eingestuft. Der Kläger, der jetzt 63 Jahre alt ist, ein ehemaliger Arbeitnehmer bei Cogne Acciai Speciali (Aosta, Norditalien), litt bereits unter Taubheit am rechten Ohr infolge eines Arbeitsunfalls und trug dort seither ein Cochlea-Implantat. Deshalb telefonierte er zwischen 1995 und 2008 immer nur am linken Ohr, für mehr als insgesamt 10.000 Stunden, im Durchschnitt 2½ Stunden pro Tag mit einem Handy der 1. Generation (1G, TACS). Daraufhin bekam er ein Vestibularschwannom, d.h. ein Tumor des 8. Hirnnervs.
Die Folgen: Taubheit links, Cochlea-Implantat links, Parese des Gesichtsnervs, Gleichgewichtsstörung und depressives Syndrom, und bleibende biologische Schäden. Die Verurteilung des INAIL auf Zahlung einer Berufskrankheitsrente von rund 350 Euro monatlich wurde bestätigt und bekräftigt.
diagnose:funk: Gab es eine Beweisführung, dass der Tumor auf die Handystrahlung zurückzuführen ist?
Francesco Imbesi: Ja, das Urteil ist das Ergebnis einer sehr akkuraten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Forschungslage. Das Gericht beschäftigte sich intensiv damit, wobei im Laufe des Prozesses auch das Thema Interessenskonflikt und Qualität der sich gegenüberstehenden Studien zu diesem Thema eingehend behandelt wurde. In einem vorherigen Verfahren wurden schon einmal ICNIRP-Vertreter nicht als Experten wegen ihrer Industrienähe zugelassen. Diesen Ausschluss hatte damals das Berufungsgericht Turin vollzogen, im Fall Roberto Romeo, einem ehemaligen Angestellten der Telecom Italia, und ihm eine Entschädigung für die lange Exposition gegenüber den vom Mobiltelefon ausgestrahlten Frequenzen zuerkannt. Auch diesmal wurden industrienahe Studien, wie die Interphone-Studie, von der Bewertung ausgeschlossen.
Die Anwälte Stefano Bertone, Chiara Gribaudo und Jacopo Giunta von der renommierten Turiner Kanzlei Ambrosio & Commodo konnten gute Argumente für den Kausalzusammenhang zwischen der längeren Nutzung von Mobiltelefonen aus beruflichen Gründen und der festgestellten Krankheit nachweisen und erhielten ein doppeltes positives Urteil, zunächst vom Gericht in Aosta und nun endgültig vom Berufungsgericht. Sie führten die Ergebnisse der NTP- und Ramazzini-Studien an, und die Expertisen der Gruppe um den schwedischen Onkologen Lennart Hardell. Dem folgte das Richterkollegium und sah "mit qualifiziert hoher Wahrscheinlichkeit" einen kausalen Zusammenhang, auch in Ermangelung anderer möglicher kausaler Faktoren.