Aber wenn Lehrer genug digitale Fortbildungen besucht haben und die Hardware stimmt, könnten diese Probleme behoben werden, oder?
Nein, denn jetzt kommt der eigentliche Haken: Selbst in einer perfekten Digital-Welt mit Laptops und stabilem Internet für alle, selbst in dieser grandios digitalisierten Bildungswelt wird eine Quelle niemals sprudeln: die ureigenste Kraft des Menschen, durch Resonanz und Begegnung vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, die immer das soziale Fundament für Lernprozesse bilden.
Dazu müssen sich Menschen direkt in die Augen schauen – ohne Technik als Hindernis!
So fehlte beim „Homeschooling“ der entscheidende Faktor: ein Mensch, der in Beziehung tritt, um freundlich Wertschätzung zu äußern. Ein Mensch, der seelisch schwingungsfähig ist, weil Beziehungen durch wechselseitige Resonanz lebendig werden. Ein Mensch, der real in seinem emotional-kognitiven Wesen zu spüren ist und nicht auf das Briefmarkenformat eines Videochats reduziert wird. Ein Mensch, der durch klares Feedback Kinder ermutig, ihren Lernprozess fortzusetzen.
Sie nennen in diesem Zusammenhang die „Resonanzpädagogik“ von Prof. Hartmut Rosa. Warum?
Rosa hat sich grundlegende Gedanken über Resonanzbeziehungen gemacht, zwischen der Welt und dem Menschen, sowie zwischen den Menschen selbst. Ein großartiges Gedankengebäude, das uns heute gerade im Bildungsbereich helfen kann. Resonanz findet dabei immer im dreidimensionalen Raum statt, sie ist auch ein körperliches Phänomen, weil sich Geist und Seele im Körper ausdrücken. Rosa spricht von einem gegenseitigen „geistigen Berührtwerden“. Etwa, wenn es einem Lehrer gelingt, die Aufmerksamkeit der Schüler zu fesseln. Daher hält Rosa Bildschirme für „potenzielle Resonanzkiller“, weil im digitalen Fernunterricht die reale Interaktion im Klassenzimmer fehlt.
Realität schlägt Virtualität, wenn es um „Resonanz“ geht. So bleibt der Präsenzunterricht erste Wahl! Er lebt von der körperlichen Anwesenheit des Lehrers – als Mensch, der nicht einfach Informationen präsentiert. Digitaler Notunterricht über die Distanz bleibt eine Krücke, die wir schnell wegwerfen sollten. Was nichts an der Notwendigkeit ändert, diesen Notunterricht zu praktizieren, um Schüler nicht völlig ins Hintertreffen geraten zu lassen. Wer ein Bein gebrochen hat, freut sich auch über seine Krücken.
Seit Ihrem Buch „Die Lüge der Digitalen Bildung“ sind fünf Jahre vergangen. Gibt es überhaupt Neues, das Sie ihren Lesern mitteilen können?
Virtuell bereiste ich die halbe Welt, vom Silicon Valley über China und Japan bis nach Holland. Überall traf ich auf Spuren einer Digitalisierung, die im Bildungsbereich katastrophale Konsequenz hat – oder in Zukunft haben könnte. Corona wurde zum Brandbeschleuniger digitaler Bildung, weil deren Protagonisten glauben, digitalen Notunterricht dauerhaft im Schulsystem verankern zu können.
Für eine Sackgasse halte ich dabei angeblich individualisierte Lernprogramme, die ich vor fünf Jahren längst nicht so intensiv auf dem Schirm hatte. Zu oft wird die Illusion genährt, diese Programme würden Kinder besser fördern, als es ein Lehrer jemals leisten kann. Dabei ist „Individualisierung“ ein positiv besetzter Begriff, der die wahren Konsequenzen fürs Individuum verschleiert: überforderte, in die Einsamkeit getriebene Kinder, die als „kleine Erwachsene“ einer gefährlichen Frühdigitalisierung zum Opfer fallen.
Sie schreiben ausführlich über „Learning Analytics“, auch ein neues Thema.
Ja, über diese Technologie lässt sich gar nicht genug aufklären! Die „individualisierten“ Programme leben von einem gewaltigen Datenstaubsauger, dem Rückkanal („Learning Analytics“). Er ist nötig, damit das Programm die richtige Schublade öffnet, in der eine passende Aufgabe liegt. Vorher hat es die Leistung des Schülers in allen Details analysiert. Eine Technologie, die zum Bestandteil lebenslanger Überwachung werden kann.
Entsteht so der „gläserne Schüler“?
Er droht Wirklichkeit zu werden, denn „Learning Analytics“ lässt sich mit biometrischer Vermessung kombinieren, um digitale Lernumgebungen zu „optimieren“. Der gläserne Schüler bekommt genau gesagt, wann sein Interesse erlahmt, und er eine Pause braucht, weil seine Nase wärmer geworden ist. Katastrophal, wenn sich dieser Trend zur Entmündigung durchsetzen sollte. Darüber schreibe ich in meinem Kapitel „Totalitäre Bildung“. Ein Thema, das im ersten Buch nur am Rande vorkam.
Was sind weitere neue Themen?
Es gibt ein Interview mit einer japanischen Psychiaterin, die über „Hikikomori“ spricht, also eine Millionen Menschen, die in Japan ihr Zimmer nicht verlassen und am Computer kleben. Ich habe mich mit den USA beschäftigt: Da wurden Online-Kurse eingerichtet, die arme Kinder im Bildungsprozess gleich am Lebensanfang abhängen. Aber privilegierte Eltern im Silicon Valley halten ihre Kinder von Bildschirmen fern oder schicken sie auf die Waldorfschule. Mich erinnert das an Dealer, die ihren Stoff in Discos verkaufen – und den eigenen Kindern verbieten, in Discos zu gehen.
Und manche IT-Experten im Valley haben ein schlechtes Gewissen, sie packen jetzt über die Manipulationstechniken von Facebook und Co. aus. Darüber schreibe ich ausführlich im Sucht-Kapitel. Ein Blick nach China zeigt, wie digitale Überwachung auch vor Klassenzimmern nicht Halt macht ... wirklich katastrophal. Genauso wie die Geschichte der iPad-Schulen in Holland, die nach kurzer Zeit aus pädagogischen und ökonomischen Gründen gescheitert sind, aber vorher von Digitalfans wie der „Bertelsmann Stiftung“ kräftig gefeiert wurden. Es gibt also jede Menge neuen Stoff – und der Lockdown der Corona-Zeit verschärft die Notwendigkeit, eine klare Gegenposition zum Digital-Hype der Gegenwart zu beziehen. Bevor es zur Katastrophe kommt!