Der Kampf um die Deutungshoheit
In ihrem neuen Review analysieren Carlberg/Hardell auch die lobbyistischen Verflechtungen von internationalen Gremien, Behörden und der Industrie, die dazu dienen, diesen Forschungsstand zu verschleiern. Um international die Deutungshoheit zu erlangen, wurde ein selbstreferentielles System der Risikokommunikation geschaffen. In den "unabhängigen" Bewertungskommissionen, in der WHO, der EU und nationalen Gremien, die Gutachten verfassen, sitzen dieselben nationalen und internationalen Experten, die in Regierungskommissionen die Schutzvorschriften erlassen. Sie schreiben sich also ihre eigenen Gutachten. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die ICNIRP (International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection), die keinerlei demokratische Legitimation besitzt, ihre Mitglieder nach konformer Meinung beruft und mit Regierungskommissionen, auch mit deutschen, personell verflochten ist. Carlberg/Hardell bestätigen mit ihrer Analyse der lobbyistischen Netzwerke die Arbeit von Starkey (2016): Der Lobbyismus der Industrie verhindert, dass die Bevölkerung über Risiken aufgeklärt wird. Die Gesundheitsgefährdung wird für den Profit in Kauf genommen.
Schlussfolgerungen
Weltweit berichteten Medien am 21.04.2017 unter der Schlagzeile "Tumor durch Handy als Berufskrankheit anerkannt" über ein Urteil vom 30.03.2017 in Italien. Der Geschädigte telefonierte 15 Jahre lang täglich mehr als 3 Stunden mit dem Handy. Er bekam nun eine monatliche Rente von 500 Euro von der Unfallversicherung zugesprochen. Das Gericht betonte, dass ähnlich wie bei Asbest beim Mobilfunk das Vorsorgeprinzip angewandt werden muss. Auch bei Asbest sei bis heute kein eindeutiger Wirkmechanismus bekannt, trotzdem musste seine krebserregende Wirkung anerkannt werden. Auch in den USA stehen vor dem Supreme Court Entschädigungsklagen zur Entscheidung an, wie der Film „Thank you for Calling“ dokumentiert. Diese Prozesse berufen sich auf die Studienlage, in Italien wurde ihre Relevanz anerkannt.
Die Schlussfolgerung des neuen Reviews von Carlberg/Hardell, dass die Mobilfunkstrahlung als Karzinogen eingestuft werden muss, muss Anlass sein, eine aktive Verbraucherschutzaufklärung zur Smartphone-, TabletPC- und WLAN-Nutzung zu starten, als Bestandteil einer Vorsorgepolitik. Maßnahmen zur Strahlungsminimierung können und müssen sofort umgesetzt und die Entwicklung von technischen Alternativen in der Forschung gefördert und realisiert werden. diagnose:funk fordert, dass auf allen Endgeräten (Smartphones, Tablets, DECT-Telefone, Babyphones, WLAN-Router) Warnhinweise angebracht werden, wie das in Berkeley (USA) für Smartphones gesetzlich angeordnet wurde. Wir fordern weiter, dass alle Endgeräte über Kabelanschlüsse verfügen müssen und für jedes verkaufte Gerät eine Ein-Euro-Abgabe an einen Fond abgeführt wird, aus dem Aufklärungskampagnen und unabhängige Forschung finanziert wird. Der Gesetzgeber muss die Grenzwerte der Studienlage anpassen und gesetzliche Schutz- und Monitoringmaßnahmen wie in Frankreich erlassen.
Auflistung wichtiger Arbeiten:
Die Basis der Analyse von Carlberg / Hardell sind Studienergebnisse der letzten 15 Jahre, hier eine chronologische Auflistung wichtiger Arbeiten:
- Die von der EU finanzierten REFLEX - Studien (2004) hatten zum Ergebnis, dass Mobilfunkstrahlung in isolierten menschlichen Fibroblasten und in transformierten Granulosazellen von Ratten DNA-Strangbrüche auslöst und damit ihre Gene schädigt.
- Nach den Ergebnissen der INTERPHONE-Studie ist für die Gruppe der Vieltelefonierer (1640 Stunden/kumuliert) das Gehirntumorrisiko signifikant erhöht.
- Die bisherigen Studien der Gruppe um Hardell weisen erhöhte Risiken für Gliome und Akustikusneurinome nach. Hardells Auswertungen ergaben für Gliome im Untersuchungszeitraum 1997-2009 für Vielnutzer (1640 Stunden kumuliert) ein 2,24 - fach erhöhtes Risiko bei einer Nutzungsdauer länger als 10 Jahre, für Akustikusneurinome ein 2,6 - fach erhöhtes Risiko.
- Die IARC (International Agency for Research on Cancer) der WHO hat im Jahr 2011 die HF-EMF (Hochfrequente Elektromagnetische Felder) als "möglicherweise karzinogene" Agenzien eingestuft, in Gruppe 2B.
- Im März 2015 gab das deutsche Bundesamt für Strahlenschutz nach den Ergebnissen einer Replikationsstudie bekannt, dass die krebspromovierende Wirkung unterhalb der Grenzwerte als gesichert angesehen werden muss.
- Die Ergebnisse des zweiten ATHEM - Reports (2016) der österreichischen AUVA - Versicherungsanstalt: Mobilfunkstrahlung schädigt das Erbgut (DNA) / der Schädigungsmechanismus ist oxidativer Zellstress / die Schädigungen sind athermische Wirkungen, vor denen die geltenden Grenzwerte nicht schützen.
- Am 27. 05. 2016 wurden die ersten Teil - Ergebnisse dieser bisher größten Studie zu nichtionisierender Strahlung und Krebs vorgestellt. Sie wurde im National Toxicology Program (NTP) innerhalb des National Institutes of Health der US-Regierung durchgeführt, finanziert von der Regierung der USA mit 25 Mio Dollar. Das Ergebnis: Mobilfunkstrahlung kann zu Tumoren führen. Durch die Strahlung wurden zwei Krebsarten (Schwannom, Gliom) und bei einer zusätzlichen Anzahl von Ratten präkanzerogene Zellveränderungen (Hyperplasie von Gliazellen) ausgelös.
- Weit über 50 Einzelstudien weisen DNA-Strangbrüche (Erbgutveränderungen, Vorstufe zu Krebs) unterhalb der Grenzwerte nach. Auch der BioInitiativeReport 2012 enthält eine Aufstellung.
- Der Schädigungsmechanismus ist erforscht. Die Reviews von Yakymenko (2016), Dasdag (2016), Houston (2016), der ATHEM - Report (2016) bestätigen den Wirkmechanismus ROS (Oxidativer Zellstress). Im bisher größten Review mit dem Titel "Oxidative Mechanismen der biologischen Aktivität bei schwachen hochfrequenten Feldern" hat eine renommierte internationale Forschergruppe um Prof. Igor Yakymenko (Kiew) 100 Studien aller Mobilfunk-Frequenzbereiche ausgewertet. Davon weisen 93 (!) eine EMF bedingte Überproduktion von reaktiven Sauerstoffspezies nach: „Schlussfolgernd zeigt unsere Analyse, dass Hochfrequenzstrahlung niedriger Intensität ein starker oxidativer Wirkungsfaktor für lebende Zellen ist, mit einem hohen krankheitserregenden Potenzial.“ Die oxidativen Schädigungen treten, so Yakymenko et al., schon tausendfach unterhalb der Grenzwerte auf.