Interview mit
Prof. Lembke

Wider die soziale Demenz

Warnung vor zu frühem Kontakt mit digitalen Medien
Immer früher kommen Kinder in Berührung mit Smartphone, Tablet und anderen digitalen Medien. Was die Industrie und die Leistungsgesellschaft als Segen empfinden, könnte sich auf lange Sicht aber als Fluch erweisen. Warum, erklärt der Medienexperte Gerald Lembke in folgendem Gespräch mit dem Magazin ​'Die Südtiroler Frau'.
Foto: © Pixabay.com

'Die Südtiroler Frau': Herr Lembke, haben Sie Kinder?
Gerald Lembke: Ja, eine siebenjährige Tochter.

'Die Südtiroler Frau': Was tun Sie, wenn Ihre Tochter an Ihr Smartphone will?
Gerald Lembke: Natürlich ist ein Smartphone für unsere Tochter verlockend, wenngleich wir Eltern versuchen, ihren Drang nach der virtuellen Welt möglichst nicht zu fördern. Trotzdem passiert es, dass sie ein Youtube-Video sieht und gleich das nächste schauen will, und das nächste …

'Die Südtiroler Frau': Und dann? 
Gerald Lembke: Dann sagen wir „Stopp“ und legen das Handy weg. Wir erklären ihr, dass Smartphone, Tablet oder PC eigentlich Arbeitsgeräte sind. Da müssen wir Eltern uns dann auch selber zügeln und die private Kommunikation oder Unterhaltung mit diesen Geräten aufs Mindestmaß reduzieren.

'Die Südtiroler Frau': Warum sind digitale Geräte für Kinder so unglaublich interessant?
Gerald Lembke: Weil die virtuelle Welt im Unterschied zur reellen Welt nicht anstrengend ist, weil die Kinder ganz passiv dasitzen und sich unterhalten können, ohne wirklich etwas tun zu müssen. Früher war es das Fernsehen, heute ist es das Smartphone, das die Kinder ruhig stellt.

„Die Südtiroler Frau“: Sie sagen: Kinder kommen viel zu früh in Kontakt mit digitalen Medien. Welche Folgen hat das Ihrer Ansicht nach für die spätere Entwicklung des Kindes?
Gerald Lembke: Von den Spätfolgen weiß man natürlich noch nichts, weil Smartphones erst seit einigen Jahren verbreitet sind. Studienergebnisse besagen aber, dass der frühe Kontakt mit digitalen Medien keinerlei positiven Effekt für die Entwicklung des Kindes hat. Im Gegenteil: Vor allem bei Jugendlichen hat man festgestellt, dass sie sich durch die massive Beschäftigung mit dem Smartphone und die ständige Ablenkung kaum mehr auf Wesentliches konzentrieren können. Erst kürzlich haben mir Eltern erzählt, ihr elfjähriger Sohn schreibe 50 bis 100 Whatsapp-Nachrichten am Tag. Dass die sozialen Kontakte darunter leiden, ist eine logische Folge. Und wer sich nicht mehr mit Freunden oder Vereinskollegen trifft, der verlernt auch grundsätzliches soziales Verhalten, etwa die Gesprächs- oder Konfliktfähigkeit. Das führt auf die Dauer zur sogenannten sozialen Demenz.

„Die Südtiroler Frau“: Das soziale Verhalten ist der eine Bereich. Wie sieht es mit den medizinischen Folgen aus. Gibt es hierzu schon Studien?
Gerald Lembke: Es gibt eindeutige Tendenzen, etwa dass sich bei Kindern und Jugendlichen die Sehqualität heute im Vergleich zu früher überproportional verschlechtert. Auch haben auffallend viele Jugendliche Probleme mit der Körperhaltung, und vor allem leiden bereits viele unter digitalem Stress, weil sie ihre virtuellen „Gespräche“ zeitlich nicht mehr unterbringen. Dann wird eben während der Schulaufgaben und nachts gechattet.

„Die Südtiroler Frau“: Allerorts wird gepredigt, dass die Kinder möglichst früh Medienkompetenz erwerben müssen, um später fit für den Berufsalltag zu sein. Was ist falsch daran? Verpassen medienungeübte Kinder nicht den Anschluss?
Gerald Lembke: Nein, denn es ist erwiesen, dass Kinder bis zum Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren noch gar keine Steuerungsmöglichkeit besitzen, um zu unterscheiden, wofür sie digitale Medien wirklich brauchen und wofür nicht. Das heißt, das Smartphone ist für sie vor allem ein Spiel. Die Nützlichkeit als Arbeitsgerät erkennen sie gar nicht. 

'Die Südtiroler Frau': Tablets an Kindergärten und Grundschulen also ein Tabu …?
Gerald Lembke: Absolut. Digitale Geräte haben dort nichts zu suchen. Wenn bei uns in
Deutschland Schulen von IT-Anbietern gezielt mit kostenfreier Hardware beliefert werden, ist das reine Geschäftemacherei. Die IT-Lobbyisten treiben da ein gefährliches Spiel auf dem Rücken der Kinder. Leider werden solche Aktionen von der Politik unterstützt oder zumindest nicht unterbunden. Auch für die Lehrer ist ein solcher Unterricht bequemer. Nur die Schüler haben davon nichts.

'Die Südtiroler Frau': Ab wann haben die Schüler etwas vom Unterricht mit digitalen Medien?
Gerald Lembke: Frühestens ab der 5. Klasse könnten Lehrer damit beginnen, den Kindern den selektiven und konstruktiven Umgang mit digitalen Medien beizubringen. Das heißt, die Kinder lernen, wie sie z. B. das Internet für die Schule nützen können und wo es gefährlich wird. Das ist eine große Herausforderung für die Lehrer, die dafür auch ausgebildet werden müssten.

'Die Südtiroler Frau': Sie sind ein eher einsamer Prediger in der Wüste. Glauben Sie, dass Ihr Ruf gegen die „Zwangsdigitalisierung“ überhaupt gehört wird?
Gerald Lembke: Aufklärungsarbeit ist immer eine harte Arbeit. Mit Vorträgen und Büchern erreicht man nur einen ganz kleinen Teil der Gesellschaft. Aber immerhin kenne ich bereits Schulen, die dieser Zwangsdigitalisierung die Stirn bieten.

'Die Südtiroler Frau': Wo werden wir in einigen Jahrzehnten stehen? Sind wir dann alle "sozial dement"?
Gerald Lembke: Nein, ich bin da eher zuversichtlich. Ich glaube, wir werden in fünf bis zehn Jahren einen Analog-Retro-Trend erleben. Immer mehr Menschen werden am eigenen Leib die zunehmende Abhängigkeit von digitalen Medien spüren. Wenn wir heute von Spielsucht reden, reden wir dann vielleicht von Digitalsucht, die therapeutisch behandelt werden muss. Das wird zum Umdenken führen.

'Die Südtiroler Frau': Ähnlich wie in der Küche, in der das Gesunde und Regionale den Fast-Food-Trend wieder verdrängt?
Gerald Lembke: Genau so. Wir werden aus den negativen Folgen des digitalen Überflusses lernen.

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Achtung, Betrug!

Kinder sind nicht nur perfekte Kunden für die digitale Industrie, sondern auch leichte Beute für gewiefte und gefährliche Internetbetrüger. Die Post- und Kommunikationspolizei in Bozen warnt immer wieder vor dem zu leichtfertigen Umgang mit Smartphone & Co. Erst vergangenes Jahr war in Südtirol eine WhatsApp-Nachricht im Umlauf, in der Kinder und Jugendliche aufgefordert wurden, diese weiterzuleiten – ansonsten würde ihnen oder ihren Familien Schreckliches passieren. Dass Betrüger mit solchen Nachrichten lediglich an Daten kommen wollten, wussten die Adressaten natürlich nicht. Generell rät die Postpolizei, Dateien mit unbekanntem Absender nie zu öffnen. Bei Verdacht auf Internetbetrug und für Fragen zum Thema steht die Postpolizei unter Tel. 0471/531413 oder via E-Mail: poltel.bz@poliziadistato zur Verfügung.

Prof. Dr. Gerald LembkeFoto: www.pnp.de

Zur Person

Gerald Lembke (50) gilt als einer der digitalen Pioniere in Deutschland. Nach vielen Lebensjahren vor Computerbildschirmen entwickelte er sich zu einem konstruktiven Digitalkritiker. Seine Erfahrungen und seine Ratschläge gibt er als Dozent, Redner und Buchautor weiter. Der Medienwissenschaftler und Studiengangsleiter für „Digitale Medien mit Schwerpunkt Medienmanagement“ an der Dualen Hochschule in Mannheim forscht zu Risiken und Nebenwirkungen der digitalen Mediennutzung und lotet die Chancen für die Zukunft aus. Mit dem Buch „Die Lüge der digitalen Bildung: Warum unsere Kinder das Lernen verlernen“ erhielt Lembke vergangenes Jahr viel mediale Aufmerksamkeit. Vor Kurzem war er für einen Vortrag zu Besuch in Bozen.

Buchtipp

Kürzlich ist das neue Buch von Professor Gerald Lembke mit dem Titel „Im digitalen Hamsterrad. Ein Plädoyer für den gesunden Umgang mit Smartphone & Co.“ erschienen. Der Autor beschreibt darin auf sehr humorvolle Weise, aber sehr realistisch, wie die Abhängigkeit von digitalen Medien wächst und warum das menschliche Gehirn der Geschwindigkeit des digitalen Hamsterrades kaum mehr folgen kann. Doch wie stoppt man dieses Hamsterrad? Wie geht man mit Smartphone & Co. verantwortungsvoll um? Auch darauf gibt der Autor Antworten. Gerald Lembke: „Im digitalen Hamsterrad“, medhochzwei Verlag, 159 Seiten, 22,00 Euro.

Publikation zum Thema

1. Auflage, 20. Oktober 2016Format: 13,9 x 1,5 x 21,1 cmSeitenanzahl: 180 Veröffentlicht am: 13.11.2016 ISBN-10: 3862163024ISBN-13: 978-3862163021Sprache: DeutschHerausgeber: medhochzwei Verlag

Im digitalen Hamsterrad

Ein Plädoyer für den gesunden Umgang mit Smartphone & Co.
Autor:
Prof. Gerald Lembke
Inhalt:
Ein Buch voller Augenzwinkern und versteckter Spiegel, die das persönliche Digitalnutzungsverhalten auf den Punkt bringen. Das perfekte Geschenk für alle, die das digitale Hamsterrad nervt und wieder freier und glücklicher werden möchten. Das Digitale hat längst das Soziale verdrängt. Wir glauben, mit unserer digitalen Mobilität freier und autonomer geworden zu sein. Stattdessen schlittern wir unaufhörlich in eine Gesellschaft mit andauernden digitalen Ablenkungen und mobilem Entertainment. Das Analoge ist dem Virtuellen längst untergeordnet. Unaufmerksamkeit entwickelt sich zum neuen Wert. Egoisten und Narzissten dominieren unsere Wahrnehmung, sobald wir im Internet sind. Alle sind betroffen. Denn diese Entwicklungen bergen erkennbare Gefahren - für Wohlbefinden und Gesundheit. Gesunde Selbsterhaltung braucht sofort und ab jetzt einen verantwortungsvollen Umgang mit Smartphone & Co. und die Entwicklung einer digitalen Resilienz (Widerstandsfähigkeit). Botschaft des Buches: Das Digitale darf niemals das Soziale verdrängen! In 15 Episoden werden die auffälligsten Unsinnigkeiten der ausgerufenen "digitalen Revolution" unterhaltsam aufs Korn genommen. Es wird Zeit für ein Digitales Manifest. Handlungsempfehlungen unterstützen Sie in einem verantwortungsvollen Umgang mit Digital & Co - für ein selbstbestimmtes und glückliches Leben - beruflich und privat.
9. März 2015Format: 15,1 x 21,6Seitenanzahl: 256 Veröffentlicht am: 09.03.2015 ISBN-10: 3868815686ISBN-13: 978-3868815689Sprache: Deutsch

Die Lüge der digitalen Bildung

Warum unsere Kinder das Lernen verlernen
Autor:
Gerald Lembke, Ingo Leipner
Inhalt:
Gerald Lembke und Ingo Leipner zeigen die dunkle Seite der Ökonomisierung und Digitalisierung von Bildung. Kinder und Jugendliche entwickeln ein bulimieartiges Lernverhalten: Dinge werden schnell und kontextfrei auswendig gelernt, in der Prüfung »ausgekotzt« – und sofort wieder vergessen. Die Autoren belegen diese und andere Gefahren für unser Bildungssystem. Eine eindringliche Warnung – und ein Plädoyer für eine durchdachte Nutzung digitaler Medien.
Artikel veröffentlicht:
12.12.2016
Autor:
Interview: Edith Runer / 'Die Südtiroler Frau'. Veröffentlicht mit freundlicher Erlaubnis der Redaktion.
Quelle:
'Die Südtiroler Frau'
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