Elektrosensibilität und Komplementärmedizin -
Eine Fragebogenerhebung in schweizerischen Arztpraxen mit komplementärmedizinischem Diagnostik- und Therapieangebot.
Brigitte Ausfeld-Hafter, Ralph Manser, Daniela Kempf, Isabel Brändli, Juli 2005
Studie im Auftrag vom Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (BUWAL)
Schlüsselwörter
Fragebogenerhebung bei Komplementärmedizinern in der Praxis, Verdacht auf Elektrosensitivität, Elektrosensibilität, (komplementärmedizinische) Diagnostikmethoden, (komplementärmedizinische) Therapieverfahren
Zusammenfassung
Das Hauptziel der Studie ist die Erfassung des Problembewusstseins der Komplementärmediziner für das Thema Elektrosensibilität, sowie die Erhebung der angewendeten komplementärmedizinischen Diagnostik- und Therapiemethoden. In 71% der antwortenden Praxen ist schon der Verdacht aufgetaucht, dass die Exposition nicht-ionisierender Strahlung im Niedrigdosisbereich eine mögliche Ursache der Gesundheitsprobleme der Patienten ist. Dieser Verdacht wurde dreimal häufiger von den Komplementärmedizinern als von den Patienten genannt. Die durchgeführte Umfrage ergab, dass vorwiegend die komplementärmedizinisch erweiterte Anamnese als Diagnostikmethode den Verdacht erhärtet. Die Vermeidung der Exposition ist eine der am häufigsten angewendeten Therapiemethoden der Komplementärmediziner, um die Gesundheits- oder Befindlichkeitsprobleme der Patienten zu lindern. Von den Komplementärmedizinern mit Erfahrung in der Therapie von Elektrosensibilität setzen 69% auf Expositionsprophylaxe, teilweise unterstützt durch komplementärmedizinische Therapieverfahren. Aus dem vorliegenden Bericht ist klar zu entnehmen, dass Elektrosensibilität auch in den komplementärmedizinischen Praxen ein aktuelles Thema ist und die verwendeten Diagnostik– und Therapieverfahren sich mit der klassischen Schulmedizin in mancherlei Hinsicht decken.
1. Einleitung und Hintergrund
Im Oktober 2003 wurde die Kollegiale Instanz für Komplementärmedizin (KIKOM) vom Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (BUWAL), Abteilung Luftreinhaltung und NIS beauftragt, Schweizer Ärztinnen und Ärzte mit komplementärmedizinischem Angebot zum Thema Elektrosensibilität zu befragen. Anlass für diese Erhebung war das vom Nationalrat am 4. März 2002 überwiesene Postulat von Nationalrätin Wyss, in dem explizit verlangt wird, bei der künftigen wissenschaftlichen Untersuchung der gesundheitlichen Auswirkungen von nicht-ionisierender Strahlung seien die Erfahrungen der Komplementärmedizin (Erfahrungsmedizin) einzubeziehen. In der Literatur wird unterschieden zwischen "Elektrosensitivität" und "Elektrosensibilität" (siehe zum Beispiel Müller 2000).
- Unter Elektrosensitivität versteht man die Fähigkeit einer Person, ein elektrisches, magnetisches oder elektromagnetisches Feld wahrzunehmen. Der Nachweis kann objektiv in einem Doppelblind-Experiment erbracht werden. Die blosse Wahrnehmung eines Feldes ist in der Regel weder für die Gesundheit noch für das Wohlbefinden bedeutsam.
- Elektrosensibilität, auch als "elektromagnetische Hypersensibilität (EHS)" (englisch: electromagnetic hypersensitivity) bezeichnet, umschreibt demgegenüber die Erfahrung und Überzeugung von Menschen, wegen elektromagnetischer Felder in ihrer Gesundheit oder ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt zu sein. Die Symptome sind unspezifisch, häufig genannt werden Schlafstörungen, Nervosität, Kopfschmerzen und Müdigkeit. Eine objektive Messgrösse und eine anerkannte ärztliche Diagnose existieren für diese Symptomatik bisher nicht. Elektrosensibel zu sein ist somit eine subjektive Einschätzung der Betroffenen über die Ursache ihrer Beschwerden, zu der sie auf verschiedenen Wegen gelangen können.
Im vorliegenden Bericht wird diese Unterscheidung nicht gemacht. Es werden beide Begriffe synonym verwendet, obschon im Kontext der abgefragten ärztlichen Diagnosen und Therapien gesundheitliche Beeinträchtigungen, also eher "Elektrosensibilität", im Vordergrund stehen. Laut einer kürzlich publizierten repräsentativen Umfrage (Röösli et al. 2005) berichteten ca. 5% der Befragten über aktuelle oder vergangene gesundheitliche Beschwerden, die sie auf Elektrosmog zurückführen. Fast ein Drittel dieser Elektrosmog-Betroffenen wendet sich an Komplementärmediziner, nur 13% suchen wegen dieser Gesundheitsprobleme den Hausarzt auf. Wie weit man bei der Befundaufnahme und Beratung von Elektrosmog-Betroffenen mit schulmedizinischen Methoden kommt, wurde in einem Pilotprojekt der Universität Basel ausgiebig erprobt (Huss et al, 2005). 25 Personen, die mit eigenem Verdacht auf Elektrosmog als Ursache für ihre Leiden die pilotmässig betriebene umweltmedizinische Beratungsstelle aufsuchten, wurden dort medizinisch und psychologisch untersucht. Ausserdem wurde die Wohnung der Patienten von einem Umweltexperten besucht, welcher nach indoor- und outdoor-Einflüssen Ausschau hielt und eine Messung der elektromagnetischen Felder vornahm. In einer Fallkonferenz erörterten die Experten der drei beteiligten Disziplinen (Medizin, Psychologie, Umwelt) die Evidenz, dass die gesundheitlichen Symptome aus den Befunden ihres jeweiligen Fachgebietes heraus erklärbar oder zumindest plausibel waren. Elektrosmog stand nur bei einem Drittel dieser 25 Personen als Erklärung im Vordergrund. Häufiger sah das Untersuchungsteam psychische oder medizinische Erklärungen. Der Hälfte der Studienteilnehmenden konnte durch individuelle Beratung geholfen werden.