710 Studien auf der Datenbank EMFData

Interview mit Peter Hensinger zur wissenschaftlichen Grundlagenarbeit
Die kontinuierliche Aufarbeitung der Studienlage zur Mobilfunkstrahlung ist ein Alleinstellungsmerkmal von diagnose:funk. Im Januar 2025 hat nun unsere Datenbank mit 710 Studien einen neuen Höchststand erreicht. Peter Hensinger ist im Vorstand für den Wissenschaftsbereich zuständig. Für unser Magazin KOMPAKT führten wir mit ihm ein Interview.
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KOMPAKT: 710 Studien, die biologische Effekte der nichtionisierenden Strahlung nachweisen, stehen jetzt auf der diagnose:funk Datenbank EMFData, 529 davon rezensiert. Warum diese aufwändige Arbeit?

PETER HENSINGER: Wir haben uns als ein Standbein unserer Arbeit von Anfang an auf die Auswertung der Studienlage konzentriert. Vodafone-Chef Haas sagte mal im Interview: „Es gibt keinerlei wissenschaftlich fundierte Studien, die auch nur irgendeine Gesundheitsgefährdung sehen.“ Und das Bundesamt für Strahlenschutz pflichtet ihm bei mit der Behauptung, unterhalb der Grenzwerte gäbe es keinerlei Nachweise von Gesundheitsrisiken. Würde das zutreffen, wäre diagnose:funk überflüssig und unsere Kritik grundlose Angstmacherei. Die Ergebnisse der Studien legitimieren unsere Arbeit, und die Nachweise nahmen von Jahr zu Jahr zu.

KOMPAKT: Wie sichert ihr ab, dass eure Interpretationen glaubhaft sind? Im diagnose:funk Vorstand sind zwar auch Wissenschaftler, aber keine Zellbiologen!

PETER HENSINGER: Der Soziologe Ulrich Beck macht in seinem Standardwerk „Weltrisikogesellschaft“ eine Kernaussage. In der kapitalistischen Gesellschaft habe nur noch der aufgeklärte Bürger ein Interesse an der Wahrheit, weil er anders als viele Experten nicht mit der Industrie verbandelt und von Karriereinteressen beeinflusst sei. Den Staat bezeichnet Beck als „Legitimationsorgan“ von Industrieinteressen. Die Demokratie zeichne sich aber gerade dadurch aus, dass NGOs und Bürgerinitiativen Fehlentwicklungen fundiert kritisieren. Der Motor der Erkenntnis seien meist Aktive, die sich für die Gesundheit und die Umwelt einsetzen. Und dabei werden sie zum Glück von Wissenschaftlern unterstützt, die keine Interessenkonflikte haben. So war es auch bei uns. In unserer Stuttgarter Bürgerinitiative war vor 20 Jahren ein Biophysiker, der die Studienlage kannte, sogar dazu forschte und mir u.a. den Weg zu einem Selbststudium in Zellbiologie zeigte. Ergebnis war damals die Broschüre „Zellen im Strahlenstress“. 

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KOMPAKT: Diese Wissenschaftsdebatte nachzuvollziehen, ist selbst für viele Aktive nicht einfach.

PETER HENSINGER: Man muss sich tatsächlich reinknien. Unser Wissenschaftsinformationen haben deshalb mehrere Ebenen. Die Studienrecherche und Bewertung vergeben wir an Biologen, die wir dafür honorieren. Die Bewertungen kann man auf unserer Datenbank EMFData und im ElektrosmogReport, den wir 2019 übernommen haben, nachlesen. Aufbauend auf diesen Fachinformationen arbeiten wir wie Wissenschaftsjournalisten und setzen das Wissen in Zusammenfassungen in Homepageartikeln, Pressemitteilungen, in der Reihe Überblick für den Durchblick und Fachartikeln um. Ob zu Auswirkungen der Strahlung auf Krebs, Fertilität, das Gehirn, die Insekten oder die Studienlage zu WLAN, darüber kann man sich kostenlos und nachvollziehbar informieren. Und in der Reihe Brennpunkt setzen wir uns mit den Argumenten der Verharmloser auseinander. Das alles ist inzwischen ein Alleinstellungsmerkmal von diagnose:funk. Es gibt wenige NGOs, die ihre Arbeit so umfassend wissenschaftlich fundieren.

KOMPAKT: Aber diese Experten aus Industrie, Wirtschaft und auch Hochschulen haben immer noch die Deutungshoheit!

PETER HENSINGER: Ja, aber ihre Glaubwürdigkeit bröckelt, auch bei unserem Thema. Man muss klarsehen: Eigentlich ist es keine Wissenschaftsdebatte. Die Industrie sichert mit Gefälligkeitsgutachten von sogenannten Experten die Vermarktung ihrer Produkte ab und gibt das als Wissenschaft aus. Diese Verschleierungen durch Experten erlebten und erleben wir auch beim Thema Asbest, Rauchen, AKWs, Diesel, Glyphosat oder hier in Stuttgart bei der Stadtzerstörung durch Stuttgart 21. Um die Deutungshoheit einer profitorientierten Expertenarroganz zu sichern, sprach das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) mit der Theorie der „False Balance“ uns explizit eine Fachkompetenz ab. Dagegen fordert Armin Grunwald, der Leiter des Büros für Technikfolgenabschätzung im Bundestag, ich zitiere aus seinem Buch „Technikfolgenabschätzung“ „die Abwehr einer technokratischen Herrschaft der Experten und das Beharren auf einem demokratischen Gestaltungsanspruch im Umgang mit dem wissenschaftlich technischen Fortschritt und in der Nutzung seiner Produkte.“ Diese Experten seien verantwortlich für ein „Zurückdrängen des Denkens in Alternativen zugunsten technischer Optimierung“, gerade bei der Digitalisierung.

Bild: Bundestag by Stepro

KOMPAKT: Je besser die Nachweise von Gesundheitsrisiken sind, desto größer die Anstrengungen, sie zu entsorgen. Das zeigt doch die gegenwärtige gemeinsame Pressekampagne von BfS und ICNIRP mit Reviews, die eine angebliche Risikolosigkeit nachweisen.

PETER HENSINGER: Auch da bröckelt die Glaubwürdigkeit, nicht zuletzt durch unsere Arbeit. Wissenschaftler aus der ganzen Welt fordern die Rücknahme der Reviews. Im TAB-Mobilfunk des Bundestages wird das Meinungsmonopol von BfS und ICNIRP klar in Frage gestellt und wir liefern fundierte Argumente, warum dies berechtigt ist. Dort steht wörtlich: „So werden die Festlegung der Rahmenbedingungen für die Risikobewertung, die Risikobewertung selbst und die Entscheidung darüber, welche EMF-Expositionen noch tolerierbar sind, faktisch ausschließlich einem wissenschaftlichen Expertengremium, der ICNIRP, überlassen.“ Auch die Interessenkonflikte der ICNIRP werden thematisiert. Das BfS sah sich genötigt, nicht zuletzt als Reaktion auf die Kritik aus den Bürgerinitiativen und unsere Arbeit, in Cottbus das KTEMF (Kompetenzzentrum Elektromagnetische Felder) zu gründen, das ausschließlich Entwarnungsdokumente produziert. Für diesen Flankenschutz bedankte sich 2024 auf dem 31. Runden Tisch EMF des Bundesamtes für Strahlenschutz stellvertretend für die IT-Branche Kristofer Steinijans (Telekom): „Die Begleitung durch die Initiative „Deutschland spricht über 5G“ (Dsü5G) wurde als sehr hilfreich empfunden, insbesondere die Moderation bei kleinen Kommunen.“ Besser kann man die dienstbeflissene Funktion des Amtes als Bundesamt für Sorglosigkeit nicht bestätigen.

KOMPAKT: Wie finanziert ihr die Studienaufarbeitung?

PETER HENSINGER: Dank der Mitgliedsbeiträge und Spenden war diese Arbeit möglich. In einer groben Abschätzung komme ich mit Honoraren für die Studienbesprechungen, die Programmierung der Datenbank und die Arbeitszeit unserer angestellten Mitarbeiter auf mehr als eine Viertelmillion Euros, die wir in diese Grundlagenarbeit bisher investierten. Nicht gerechnet die tausenden ehrenamtlichen Stunden unserer Vorstände. Davon profitieren alle Mobilfunkkritiker. So publizieren wir seit diesem Jahr den ElektrosmogReport auch auf Englisch und würden gerne die Recherchearbeit ausbauen. Deshalb mein Appell: Jetzt gleich auf unsere Homepage zum Spendentool klicken, damit wir das trotz knapper Kassen weitermachen können.

Bild:Peter Hensinger

KOMPAKT: Ganz ehrlich! Es liegt so viel fundiertes Material zu Studien und Dokumentationen vor, dass zwingend eine vorsorgende und aufklärende Strahlenschutzpolitik gemacht werden müsste. Ist es nicht frustrierend, dass sich so wenig bewegt?

PETER HENSINGER: Wenn Schädigungen offensichtlich sind, dann wird sich was bewegen. Das sehen wir an den Social Media- und Smartphoneverboten für KiTas und Schulen in vielen Ländern. Der Hype ist vorbei. Die Schädigungen durch die Strahlung sind noch nicht sichtbar genug. Die Beweise sind da, eine Vorsorgepolitik zwingend erforderlich, doch die Politik mauert noch. Das ist der Alltag von NGOs. Die Politik macht derzeit auf vielen Feldern Beschleunigungsgesetze, um umweltschädliche Industrievorhaben zu ermöglichen, nicht nur beim Mobilfunk. Es geht um Profit. Dagegen braucht es einen langen Atem. Den hat man nur, wenn man sich seiner Sache sicher ist, auch von der wissenschaftlichen Legitimation her. Wir kennen die Taktik und die Argumente der Lobby, haben sie analysiert. Aus vielen Hintergrundgesprächen mit Politikern wissen wir, wie die Industrienarrative in deren Köpfen wirken: Digitalisierung ist Wachstum, und Wachstum ist das Credo, mag es noch so zerstörerisch für die Umwelt sein. Und es herrscht dazuhin eine kognitive Dissonanz: Smartphones z.B. organisieren das Leben, man ist süchtig nach ihnen und wehrt rationale Argumente ab. Dagegen gibt es zwei Wege: Die vielen Aktiven vor Ort verstärken ihre Aufklärungsarbeit, ihr seid die Multiplikatoren, und wir brauchen weitere bezahlte Mitarbeitende, die Entscheidungsträger noch intensiver informieren.

KOMPAKT:  Danke Peter, das war wohl nochmals ein Fingerzeig in Richtung Spende! 

Publikation zum Thema

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Der Überblick Nr. 1 stellt die Gesamtstudienlage dar. Quellenbasiert wird dargestellt, dass es zu vielen medizinischen Endpunkten wie Fertilität und Krebs zu nahezu allen im Mobilfunk verwendeten Frequenzen peer-reviewte Studien gibt, die gesundheitliche Schädigungen nachweisen. Dies gilt sowohl für die körpernahe Nutzung von Handys, Smartwatches, Tablets und Notebooks als auch für WLAN-Router und Mobilfunkbasisstationen. Inzwischen bestätigen Dokumente der Europäischen Union und des Deutschen Bundestages diese wissenschaftlichen Erkenntnisse. Wir geben Ihnen einen Überblick über die Studienlage, der in den weiteren Publikationen dieser Reihe vertieft wird.
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Die Auseinandersetzung um die Deutungshoheit zu Risiken der Mobilfunkstrahlung

Über Kampagnen eines Kartells von Industrie, Bundesamt für Strahlenschutz und ICNIRP
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Ob Mobilfunkstrahlung gesundheitsschädlich ist oder nicht, darüber wird nicht nur eine Wissenschaftsdebatte über Ergebnisse der Forschung geführt. Bei dieser Debatte geht es auch und vor allem um Produktvermarktung, in diesem Fall um das Milliardengeschäft einer Schlüsselindustrie. Dieser brennpunkt dokumentiert die Auseinandersetzung. Im Jahr 2022 gab es vier Entwarnungskampagnen, basierend auf vier Studien mit der Botschaft: Mobilfunkstrahlung ist unbedenklich für die Gesundheit, ein Krebsrisiko besteht nicht. Das beweise die MOBI-Kids-Studie, die bisher weltweit größte Studie zu Hirntumoren und Kinder. Mit der UK-Million Women Studie liege auch der Beweis für Erwachsene vor. In einem von ICNIRP-Mitglied Prof. M. Röösli verfassten Artikel zu 5G in der Zeitschrift Aktuelle Kardiologie bekamen gezielt Mediziner diese Botschaft übermittelt. Abgeordneten des deutschen Bundestages wird vom deutschen Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) und dem Umweltministerium mitgeteilt, die STOA-Studie, die Schädigungen zu Krebs und Fertilität auswertet, sei unwissenschaftlich. Diagnose:funk nahm zu allen diesen Meldungen Stellung.
Januar 2022Format: A4Seitenanzahl: 12 Veröffentlicht am: 18.01.2022 Bestellnr.: 247Sprache: deutschHerausgeber: diagnose:funk

Wie die Telekommunikationsindustrie die Politik im Griff hat


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diagnose:funk legt in diesem Brennpunkt eine Recherche zur Lobbyarbeit der Mobilfunkindustrie und BITKOM-Branche zur Digitalisierung vor, basierend auf der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE „Beziehungen von Telekommunikationsunternehmen zur Bundesregierung“ (Bundestagsdrucksache 18/9620, 13.09.2016). Sechs Grafiken verbildlichen die Verflechtungen. Politisch eingeordnet wird diese Analyse auf Grund eigener Erfahrungen mit Besuchen bei Bundestagsabgeordneten und dem neuen Buch „Lobbyland. Wie die Wirtschaft unsere Demokratie kauft“ (2021) des ehemaligen Dortmunder SPD-Abgeordneten Marco Bülow über seine 18-jährigen Erfahrungen im Bundestag und weiteren Literaturrecherchen.
Artikel veröffentlicht:
06.02.2025
Autor:
diagnose:funk
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