KINDER VOR BILDSCHIRMEN
60 Prozent der Ein- bis Zweijährigen in Österreich verbringen laut Elternangaben bis zu zwei Stunden täglich vor dem Handy, Tablet oder Fernseher.
50 Prozent der Zwei- bis Dreijährigen können ein Handyspiel selbstständig bedienen.
44 Prozent der Fünf- bis Sechsjährigen können einen Touchscreen perfekt bedienen. Viele dieser Kinder können aber nicht selbständig mit Besteck essen, sich keine Schuhe binden oder sich nicht alleine an- und ausziehen.
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OÖNachrichten: Darum haben Sie ein Präventionsangebot geschaffen. Wie kam es dazu?
Arnika Thiede: Mit dem Workshop „Smart(ohne)phone“ wollen mein Kollege Christoph Rosenthaler und ich werdende Eltern und jene von Kleinkindern ansprechen. In Oberösterreich gibt es schon gute Angebote, aber vorwiegend für Schüler. Für junge Familien mit Kleinkindern gibt es nichts. Vor eineinhalb Jahren hatte ich einmal eine Woche lang nur Kinder mit maximalem Medienkonsum – sogenannte Medienautisten – in der Ambulanz. Sie haben nicht gesprochen, wenig soziale Interaktion gezeigt und schienen ähnlich wie Kinder im autistischen Spektrum in ihrer eigenen Welt zu leben. Mich hat das so geärgert, dass das nirgends erfasst wird. Ich habe mich an die Präsidentin der Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde gewandt und wir haben uns in einem offenen Brief an den Bundeskanzler und mehrere Ministerien gewandt.
OÖNachrichten: Wie war die Resonanz?
Arnika Thiede: Grundsätzlich war das Interesse groß. Wir wurden ins Bundeskanzleramt eingeladen und hatten Gespräche mit dem Gesundheitsministerium, finanzielle Unterstützung gab es leider keine.
OÖNachrichten: Das Krankenhaus ist eingesprungen, der Workshop wird in der hauseigenen Elternakademie umgesetzt. Wie läuft das ab?
Arnika Thiede: Der interaktive, kostenlose Workshop des Instituts für Sinnes- und Sprachneurologie dauert eine Stunde und findet an zwei Abenden pro Semester statt. Neben einem Impulsvortrag über die Gefahren des frühen digitalen Medienkonsums geben wir den Eltern auch Tipps zum altersgerechten Spielen, ohne die Kinder vor einen Bildschirm zu setzen. Wir klären sie aber auch auf, dass es in Ordnung ist, mit der Oma per Video zu telefonieren oder sich kurz Urlaubsbilder auf dem Handy anzuschauen. Wichtig ist, die Kinder nicht alleine vors Handy zu setzen.
OÖNachrichten: Erreichen Sie die gewünschte Zielgruppe?
Arnika Thiede: Der Workshop ist freiwillig. Dadurch erreichen wir nur die Eltern, die sich schon Gedanken machen. Wir würden gerne mehr Menschen ansprechen, dafür bräuchten wir aber Unterstützung. Zum Beispiel mit Werbebannern oder Beiträgen auf öffentlichen Videoscreens um Eltern und Kinder aufzuklären.
OÖNachrichten: Wie sind die Reaktionen der teilnehmenden Eltern?
Arnika Thiede: Es ist erstaunlich, welche Unsicherheiten mit kindlichem Medienkonsum verknüpft sind und wie stark das damit einhergehende Konfliktpotenzial Familien belastet. Eltern wollen das Beste für ihr Kind, denken oft, ein ruhiges Kind ist automatisch ein glückliches. Dabei tappen sie rasch in die Medienfalle: Sie benutzen das Handy als Belohnung, überbrücken Wartezeiten oder stellen das Kind ruhig.
OÖNachrichten: Warum ist das Handy schon für Kleinkinder so interessant?
Arnika Thiede: Es aktiviert das Belohnungssystem, bei der Nutzung wird Dopamin ausgeschüttet. Zusätzlich imitieren Kinder alles. Sie sehen, dass die Eltern ständig am Handy sind, und darum ist es sehr attraktiv.
OÖNachrichten: Das erste eigene Handy ist ein emotionales Thema. In welchem Alter würden Sie es empfehlen?
Arnika Thiede: Das erste eigene Handy sollte so lange wie möglich hinausgezögert werden. Laut unseren Erfahrungen braucht ein Volksschulkind kein eigenes Handy. Wenn sie in der Mittelschule oder im Gymnasium einen weiteren Schulweg alleine zurücklegen müssen, ist es sinnvoll.
OÖNachrichten: Sie sind seit fast 18 Jahren in Linz tätig. Ab wann sind die Fälle stark angestiegen?
Arnika Thiede: Massiv aufgefallen ist uns die Entwicklung schon ab 2017 und verstärkt während der Corona-Pandemie. Corona hat den Familien nicht gutgetan, weil die Haushalte weiter medial aufgerüstet wurden, und was mache ich mit den Kindern, wenn der Spielplatz gesperrt ist?
OÖNachrichten: Stunden vor dem Bildschirm waren die Folge. Haben Sie konkrete Zahlen dazu?
Arnika Thiede: Aus Studien der vergangenen zehn Jahre lässt sich für Österreich und Europa ableiten, dass 60 Prozent der Ein- bis Zweijährigen laut Elternangabe täglich bis zu zwei Stunden vor Bildschirmen verbringen. 40 Prozent der Zwei- bis Dreijährigen können selbstständig ein Handyspiel bedienen, 50 Prozent finden alleine den Weg zu YouTube und 44 Prozent der Fünf- bis Sechsjährigen können zwar einen Touchscreen perfekt bedienen, aber nicht selbstständig mit Besteck essen, sich die Schuhe binden oder sich alleine an- und ausziehen. Das ist schon heftig.
OÖNachrichten: Und wie lauten die offiziellen Empfehlungen?
Arnika Thiede: Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt unter drei Jahren gar keinen Medienkonsum. Das ist aber in der Realität nur sehr schwer machbar. Ab drei Jahren sind gemeinsam mit einem Elternteil 30 Minuten täglich und ab sechs Jahren dann eine Stunde pro Tag empfohlen.
Die Fragen stellte der OÖN-Redakteur Daniel Gruber. Abdruck des Interviews mit freundlicher Genehmigung der Oberösterreichischen Nachrichten. Quelle:https://www.nachrichten.at/oberoesterreich/kinderaerztin-sie-koennen-handys-bedienen-aber-nicht-mit-besteck-essen;art4,4015138