Homo sapiens digitalis: Fortschritt der Evolution?

Interview mit Prof. Gertraud Teuchert-Noodt in den Kreuzlinger Nachrichten
Die Neurobiologin Prof. Gertraud Teuchert-Noodt hielt am 7.9.2024 an der Universität Konstanz bei einer Jubiläumsveranstaltung einen Vortrag über ihre Forschungsergebnisse. Die Digitaltechnik bietet der Gesellschaft enorme Vorteile, wie Arbeitserleichterung und Beschleunigung von Entwicklungsprozessen. Auch Kinder sollen darauf vorbereitet werden und möglichst früh ein Tablet oder Handy bekommen. «Aber das birgt eine große Gefahr in sich», sagte Prof. Gertraud Teuchert-Noodt. Warum das so ist, erklärt die Neurobiologin im Interview, geführt von Prof. emer. Volker Ullrich.
Prof. Volker Ullrich und Prof. Gertraud Teuchert-Noodt in KonstanzBild zur Verf. gestellt vom Veranstalter

VOLKER ULLRICH: Frau Prof. Teuchert-Noodt, Sie haben an der Universität Konstanz einen Vortrag mit dem Titel «Homo sapiens digitalis – Ein Fortschritt in der Evolutionsgeschichte der Menschheit» gehalten. Warum so akademisch?

GERTRAUD TEUCHERT-NOODT: Weil ich als Neurobiologin mit Fokus auf der Entwicklung des kindlichen Gehirns und die sehr komplexen Ursachen für die Handy-Sucht unserer Kinder wissenschaftlich nachvollziehbar aufzeigen möchte. Nur mit fundierten Daten kann man die Verantwortlichen überzeugen. Dazu die notwendigen Fakten zu liefern, ist Aufgabe der Wissenschaft.

VOLKER ULLRICH: Und wie könnte dieses Suchtverhalten bei langfristigem Konsum digitaler Medien glaubhaft begründet werden?

GERTRAUD TEUCHERT-NOODT: Während der Evolution des Menschen vor ca. 1 Million Jahren hat beim Kampf ums Dasein das Gehirn unserer Vorfahren schrittweise neue Fähigkeiten erlangt, die im Homo sapiens im Kontakt des Kindes mit seiner Umwelt erst langsam bis etwa zum Alter von 15 bis 16 Jahren heranreifen. Dabei spielen Belohnungssysteme eine Rolle, die im Kind beim Spielen, Basteln oder der manuellen Erkundung seiner Umwelt ausgelöst werden, um die Fähigkeiten zum täglichen Überleben zu erwerben. Auch die zwischenmenschliche Kommunikation und Sozialisierung gehört dazu. Wenn dieser bisher natürliche Ablauf durch andere attraktive Belohnungssysteme, wie die Nutzung der digitalen Medien, gestört wird, ändert sich das natürliche Verhalten des Kindes.

VOLKER ULLRICH: Aber diese Störung lässt sich doch sicher in späterem Alter korrigieren?

GERTRAUD TEUCHERT-NOODT: Nein, eben nicht! Die Gehirnentwicklung ist ein kontinuierlicher, genetisch festgelegter Prozess aus Regelkreisen, die Hormone und elektromagnetische Gehirnwellen beinhalten. Das habe ich noch als Studentin im Labor von Konrad Lorenz bei seinem Umgang mit den auf ihn geprägten Gänsen gelernt. Genauso ist beim Menschen die Mutter-Kind-Beziehung eine der ersten Prägungen und später erfolgt das dreidimensionale Ertasten der Umwelt und das soziale Verhalten in Kindergarten und Schule. Wenn das Kind durch Fernsehen oder Wischen auf dem Smartphone mit bunten Bildern, Musik oder auch interaktiven Spielen attraktiv belohnt wird, wird die Prägung durch digitale Medien dominant und der natürliche Lernprozess wird verdrängt. Ein so geprägtes Kind wächst in einer virtuellen Scheinwelt auf und verliert den Kontakt zur dreidimensionalen Wirklichkeit.

VOLKER ULLRICH: Dies behauptet auch Jonathan Haidt in seinem Buch «Generation Angst». Stimmen Sie mit ihm überein?

GERTRAUD TEUCHERT-NOODT: Zu fast 100%! Angst, Konzentrationsschwäche, Magersucht, Depressionen bis hin zu Suiziden sind am Ansteigen und korrelieren seit etwa 2012 mit der Zunahme der Smartphone-Nutzung.

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Prof. Teuchert-Noodt, Bild:S.Jones

Aktueller Artikel in umwelt-medizin-gesellschaft 3/2024:

Gertraud Teuchert-Noodt / Peter Hensinger: Kinder, Jugend und digitale Medien. Ohne Berücksichtigung der Erkenntnisse der Gehirnforschung gelingt kein Ausweg aus der Smartphone-Epidemie!

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Lesen Sie auch den Artikel von 2016 von Gertraud Teuchert-Noodt: Ein Bauherr beginnt auch nicht mit dem Dach. Die digitale Revolution verbaut unseren Kindern die Zukunft (s. Downloads).

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VOLKER ULLRICH: Sie plädieren wie Haidt ebenfalls für einen Entzug der Smartphones und der digitalen Medien für Kinder und Jugendliche bis zu 15 oder 16 Jahren. Ist dies nicht zu lange?

GERTRAUD TEUCHERT-NOODT: Der Ablauf der menschlichen Gehirnentwicklung, besonders der vollständigen Entwicklung des Stirnhirns als übergeordnetes Steuerorgan, erfolgt gemäß Literatur und unseren Daten tatsächlich über diesen langen Zeitraum. Das lässt sich auch im Tierversuch mit mikroskopischen Studien belegen. Störungen in dieser Entwicklungsphase sind weitgehend irreversibel und äußern sich in den bereits erwähnten Verhaltensstörungen mit autistoiden Merkmalen.

VOLKER ULLRICH: Berufsschulen und Hochschulen klagen zunehmend über mangelnde Fähigkeiten und fehlende Motivation der Schulabsolventen der Grundschule. Sind dies schon Auswirkungen einer zu sehr digitalisierten Kindheit?

GERTRAUD TEUCHERT-NOODT: Dies ist anzunehmen. Aber die Gesellschaft, gerade mit ihrem guten dualen Ausbildungssystem in der Schweiz, könnte stärker auf die notwendige analoge und handwerkliche Schiene hinweisen und die ausstatten, wie dies an Waldorf- oder Montessori-Schulen gehandhabt wird. Die «Digital-Eliten» in Silicon Valley, USA, haben dies Ausbildung von den ersten Jahren an mit breiteren Angeboten in praktischen Fächern oder auch mit Musik und Sport für ihre Kinder seit langem erkannt. Eine Ausbildung mit digitalen Inhalten sollte erst nach der Grundschulzeit ihre zweifellos vorhandenen und in einer modernen Welt notwendigen Qualitäten ausspielen. Einige Länder haben diese Konsequenzen bereits gezogen und schränken die Nutzung von Smartphones und digitalen Medien an Schulen schrittweise ein. Eltern sollten über öffentliche Medien oder Kitas auf die Verantwortung für ihre Kleinkinder hingewiesen werden.

VOLKER ULLRICH: Frau Professor Teuchert-Noodt, ich danke für das Gespräch. Wenn ich zusammenfassen darf: Bereits die derzeitige Nutzung digitaler Medien bei Kindern und Schülern von 3 bis 4 Stunden am Tag prägt die Entwicklungsphase des Gehirns und verursacht Defizite bei Qualitäten, die den Homo sapiens zur erfolgreichsten Spezies der Evolution gemacht hat. Dies sind die Kommunikation in Sprache und Schrift, die Kooperation beim Überleben, die Empathie gegenüber dem Mitmenschen und vielleicht auch die Fähigkeit zu lieben. Wir könnten diese Fehlentwicklung verhindern und erst im Erwachsenenalter unserem Gehirn als Wissensspeicher mit der Digitalisierung eine neue Qualität in der Evolution eröffnen.

Das Interview erschien in den Kreuzlinger Nachrichten am 17.10.2024, Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und Prof. V. Ullrich.

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Kurzfilm "Aufwachsen im Umgang mit digitalen Medien", mit Gertraud Teuchert-Noodt

 

Zum Thema Kinder und digitale Medien finden Sie im diagnose:funk shop umfangreiches Aufklärungs- und Informationsmaterial

Publikation zum Thema

Januar 2020Format: DIN A4Seitenanzahl: 100 Veröffentlicht am: 16.03.2020 Bestellnr.: 787, Preis: 4,00 Euro ISBN-10: ISBN 978-3-9820585-1-1Sprache: DeutschHerausgeber: diagnose:funk

Smart City, Digitale Bildung, Elektromagnetische Felder

Informationen zu den Folgen der digitalen Transformation unserer Gesellschaft
Autor:
Dr. Wolfgang Baur, Prof. Karl Hecht, Peter Hensinger M.A., Prof. Wilfried Kühling, Prof. Gertraud Teuchert-Noodt, Dipl. Biol. Isabel Wilke, Dr. Ulrich Warnke
Inhalt:
Sammelband der 100 Argumente - ein Handbuch für Eltern, Erzieher und Pädagogen und die Arbeit von Bürgerinitiativen. Die digitale Transformation der Gesellschaft prägt seit ca. 15 Jahren unsere Epoche.Wir sind Zeitzeugen dieses schnellen Wandels und können ihn noch beeinflussen. Die digitale Transformation hat Folgen für die Demokratie, die Umwelt und die Entwicklung des Individuums, seine Gesundheit und Psyche! Dieser Sammelband enthält 15 Artikel, die v.a. in der Zeitschrift umwelt-medizin-gesellschaft erschienen sind. Jeder Artikel informiert kompakt, kurzweilig und wissenschaftlich fundiert über ein Fachgebiet: • Smart City-die Auswirkungen des digitalen Umbaus der Städte • Forschungsergebnisse über digitale Medien und die Gehirnentwicklung bei Kindern • Interviews zur geplanten digitalen Bildung und ihren Risiken • WLAN an Schulen-was man über die Auswirkungen auf das Gedächtnis und Lernen weiß • Der Forschungsstand zu den Risiken der elektromagnetischen Felder des Mobilfunks und 5G • Die Bedeutung der elektromagnetischen Felder für die Evolution • Wissenschaftsdebatte: mit welchen Theorien wird heute versucht, Erkenntnisse über Risiken wegzudiskutieren • Die Ideologie der Digitalisierung. Umfangreiche Quellenangaben zu jedem Artikel geben dem Leser die Möglichkeit, selbst weiter zu recherchieren.
diagnose:funk
Stand: 08.10.2024Format: DIN A4Seitenanzahl: 37 Veröffentlicht am: 29.08.2024 Sprache: deutschHerausgeber: diagnose:funk

Überblick Nr. 7: Kinder und digitale Medien – Eine pädagogische Herausforderung!


Autor:
diagnose:funk
Inhalt:
Überblick Nr. 7 dokumentiert, warum eine zu frühe und unregulierte Nutzung des Smartphones und anderer digitaler Medien zu negativen Auswirkungen führen kann. Schwerpunktmäßig werden Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und Neurobiologie behandelt. Es werden Lösungsmöglichkeiten für Eltern, Erziehende und die Politik aufgezeigt, um Kinder und Jugendliche vor einer Smartphonesucht zu bewahren.
Format: DVDSeitenanzahl: 40 Min. Hauptfilm, 75 Min. Bonustracks Veröffentlicht am: 23.02.2021 Bestellnr.: 954, Preis 17,90 EuroSprache: DeutschHerausgeber: diagnose:funk

Aufwach(s)en im Umgang mit digitalen Medien

Was Eltern und Erzieher wissen sollten: Wie der Gebrauch digitaler Medien die Gehirnentwicklung beeinflusst
Inhalt:
Regie: Klaus Scheidsteger / Drehbuch: Gertraud Teuchert-Noodt, Peter Hensinger, Klaus Scheidsteger / Musik: Markus Stockhausen / Länge: 40 Minuten. Bonustracks: Vortrag Prof. G. Teuchert-Noodt zum Stand der Forschung (30 min) / Video über die Bedeutung des Stirnhirns (15 min) / Vortrag Peter Hensinger zum Forschungsstand WLAN (30 min). Diagnose:funk will Eltern und ErzieherInnen mit diesem Film darin unterstützen, die Entwicklung ihrer Kinder unter dem Einfluss digi­taler Medien bestmöglich zu verstehen. Ihr Kind soll zu einem gesunden, selbstsicheren und intelligenten Menschen he­ranwachsen, um später mit den komplexen Anforderungen des Lebens gut zu­rechtkommen zu können. Wie kann das gelingen, wenn Kinder heutzutage im Alltag unzähligen digitalen Medien ausgesetzt sind, die ihren Bewegungsdrang einschränken und ihre sinnli­chen Erfahrungen verkümmern lassen? Hier müssen Eltern und Erzieher die rich­tigen Entscheidungen treffen. Dieser Film vermittelt Wissen von berufener Seite, der Hirnforschung. Prof. Gertraud Teuchert-Noodt forschte an ihrem Institut über 25 Jahre über das Ler­nen und die Gehirnentwicklung. Ihre Erkenntnisse über die Wirkungen digitaler Medien auf die Gehirnentwicklung werden im Film verständlich dargestellt.
Format: DIN B5Seitenanzahl: 156 Veröffentlicht am: 30.10.2018 Bestellnr.: 111Sprache: DeutschHerausgeber: diagnose:media

Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt

Orientierungshilfe für Eltern und alle, die Kinder und Jugendliche begleiten.
Autor:
Autorenteam diagnose:media
Inhalt:
Viele Beobachtungen und Studien von Experten zeigen, dass der zu frühe Kontakt von Kindern und Jugendlichen mit den neuen Medien mit erheblichen Risiken für ihre Entwicklung und ihre Gesundheit verbunden ist. Wir wissen heute: Erst wenn das Kind seine biologisch notwendigen Entwicklungsschritte in den verschiedenen Lebensabschnitten gut bewältigt hat, kann es die Fähigkeit zu einem kompetenten und selbstbestimmten Medienumgang entwickeln. Das Buch nimmt die übergeordnete Fragestellung auf, was Kinder bzw. Jugendliche für ihre gesunde Entwicklung in verschiedenen Entwicklungsphasen brauchen. Der pädagogische Standpunkt der Autoren versucht eine Balance aufzuzeigen zwischen den Wünschen der Kinder und Jugendlichen und den Einschränkungen, die als Vorsorgemaßnahmen zur Abwendung von Gefahren erforderlich sind.
Format: DIN langSeitenanzahl: 32 Veröffentlicht am: 10.10.2018 Bestellnr.: 371Sprache: Deutsch

Medienkonsum und Mobilfunkstrahlung

Empfehlungen für die gesunde Entwicklung Ihres Kindes
Autor:
Kompetenzinitiative e.V., diagnose:funk, Stiftung für Kinder
Inhalt:
Dieser neue Flyer für Eltern, Familien und die pädagogische Praxis informiert in kompakter Form über Risiken heutigen Medienkonsums: Altersspezifisch von der Schwangerschaft bis ins Jugendalter, thematisch von den Auswirkungen der Mobilfunkstrahlung bis zu suchtähnlichen Erscheinungsweisen. Er gibt praktische Tipps für eine altersgerechte, ausgewogene und gesunde Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen. Besonders geeignet für Eltern, Familien, KiTas, Schulen, Bildungseinrichtungen, pädagogische, ärztliche, soziale und verwandte Tätigkeitsbereiche. In Zusammenarbeit mit: Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) – AK Immissionsschutz / Elektromagnetische Felder, Europäische Akademie für Umweltmedizin e.V. (EUROPAEM), Pandora | Stiftung für unabhängige Forschung, Institut für Baubiologie + Nachhaltigkeit (IBN).
diagnose:funk
Stand: 03.12.2024Format: A4Seitenanzahl: 27 Veröffentlicht am: 14.06.2024 Sprache: deutschHerausgeber: diagnose:funk

Überblick Nr. 6: Ist WLAN schädlich?


Autor:
diagnose:funk
Inhalt:
Überblick Nr. 6 dokumentiert die Studienlage zu WLAN und die Alternativen. Da WLAN eine lizenz- und oft kostenlose Frequenz ist, die deshalb Jugendliche besonders oft nutzen, hat die Studienlage zu den WLAN-Frequenzen eine besondere Bedeutung. Die WLAN-Frequenz ist besonders gut untersucht. Es liegen Erkenntnisse über Auswirkungen auf das Gehirn und in der Folge auf den Schlaf, das Gedächtnis, räumliches Denken, das Erbgut, die Blut-Hirn-Schranke, vor, aber auch auf die Fertilität, das Auge, das EEG und auf die Auslösung entzündlicher Erkrankungen durch oxidativen Zellstress.
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