VOLKER ULLRICH: Frau Prof. Teuchert-Noodt, Sie haben an der Universität Konstanz einen Vortrag mit dem Titel «Homo sapiens digitalis – Ein Fortschritt in der Evolutionsgeschichte der Menschheit» gehalten. Warum so akademisch?
GERTRAUD TEUCHERT-NOODT: Weil ich als Neurobiologin mit Fokus auf der Entwicklung des kindlichen Gehirns und die sehr komplexen Ursachen für die Handy-Sucht unserer Kinder wissenschaftlich nachvollziehbar aufzeigen möchte. Nur mit fundierten Daten kann man die Verantwortlichen überzeugen. Dazu die notwendigen Fakten zu liefern, ist Aufgabe der Wissenschaft.
VOLKER ULLRICH: Und wie könnte dieses Suchtverhalten bei langfristigem Konsum digitaler Medien glaubhaft begründet werden?
GERTRAUD TEUCHERT-NOODT: Während der Evolution des Menschen vor ca. 1 Million Jahren hat beim Kampf ums Dasein das Gehirn unserer Vorfahren schrittweise neue Fähigkeiten erlangt, die im Homo sapiens im Kontakt des Kindes mit seiner Umwelt erst langsam bis etwa zum Alter von 15 bis 16 Jahren heranreifen. Dabei spielen Belohnungssysteme eine Rolle, die im Kind beim Spielen, Basteln oder der manuellen Erkundung seiner Umwelt ausgelöst werden, um die Fähigkeiten zum täglichen Überleben zu erwerben. Auch die zwischenmenschliche Kommunikation und Sozialisierung gehört dazu. Wenn dieser bisher natürliche Ablauf durch andere attraktive Belohnungssysteme, wie die Nutzung der digitalen Medien, gestört wird, ändert sich das natürliche Verhalten des Kindes.
VOLKER ULLRICH: Aber diese Störung lässt sich doch sicher in späterem Alter korrigieren?
GERTRAUD TEUCHERT-NOODT: Nein, eben nicht! Die Gehirnentwicklung ist ein kontinuierlicher, genetisch festgelegter Prozess aus Regelkreisen, die Hormone und elektromagnetische Gehirnwellen beinhalten. Das habe ich noch als Studentin im Labor von Konrad Lorenz bei seinem Umgang mit den auf ihn geprägten Gänsen gelernt. Genauso ist beim Menschen die Mutter-Kind-Beziehung eine der ersten Prägungen und später erfolgt das dreidimensionale Ertasten der Umwelt und das soziale Verhalten in Kindergarten und Schule. Wenn das Kind durch Fernsehen oder Wischen auf dem Smartphone mit bunten Bildern, Musik oder auch interaktiven Spielen attraktiv belohnt wird, wird die Prägung durch digitale Medien dominant und der natürliche Lernprozess wird verdrängt. Ein so geprägtes Kind wächst in einer virtuellen Scheinwelt auf und verliert den Kontakt zur dreidimensionalen Wirklichkeit.
VOLKER ULLRICH: Dies behauptet auch Jonathan Haidt in seinem Buch «Generation Angst». Stimmen Sie mit ihm überein?
GERTRAUD TEUCHERT-NOODT: Zu fast 100%! Angst, Konzentrationsschwäche, Magersucht, Depressionen bis hin zu Suiziden sind am Ansteigen und korrelieren seit etwa 2012 mit der Zunahme der Smartphone-Nutzung.
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