Stuttgart, 19.9.2024: Zum Weltkindertag am 20.9. appelliert die Umwelt- und Verbraucherorganisation diagnose:funk an Eltern, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer sowie an die Bildungspolitik der Länder: Für eine gute Gehirnentwicklung müssen Kinder deutlich weniger online und viel mehr offline sein, sich also in der realen Welt bewegen! Als Argumentationshilfe für diese pädagogische Herausforderung veröffentlicht diagnose:funk heute eine 37-seitige Broschüre. Sie enthält einen ausführlichen Überblick über den Stand der Erkenntnisse zu Kindern und digitalen Medien. Darin zeigt diagnose:funk anhand von wissenschaftlichen Untersuchungen, warum eine zu frühe und unregulierte Nutzung des Smartphones und anderer digitaler Medien zu negativen Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder führen kann. Dies gilt sowohl für das private Umfeld als auch für Kindergärten, Grund- und weiterführende Schulen.
Die Broschüre aus der Reihe „Überblick für den Durchblick“ trägt den Titel „Kinder und digitale Medien – Eine pädagogische Herausforderung!“ Sie ist als kostenloser PDF-download verfügbar unter: https://www.diagnose-funk.org/2120
„Die Wissenschaft weiß inzwischen sehr genau, was gut und was schlecht ist für die kindliche Entwicklung“, sagt Peter Hensinger, Pädagoge und zweiter Vorsitzender von diagnose:funk. „Nun muss diese Erkenntnis auch zur Umsetzung gelangen: Kinder müssen wieder viel mehr miteinander spielen und kommunizieren – und zwar in der realen Welt, mit ihrem ganzen Körper, am besten in der Natur. Die Wissenschaft sagt uns seit Jahren, dass das kindliche Gehirn sich nur durch vielseitige Sinneserfahrungen zu einem gesunden, urteilsfähigen Gehirn entwickeln kann. Wer dauernd über ein Handy oder Tablet gebeugt nur seine zwei Daumen bedient und Inhalte wegwischt, bleibt jedoch in der Entwicklung zurück. Das dürfen wir als Gesellschaft nicht zulassen – denn Kinder haben ein Recht auf gesunde Entwicklung!“
Ausgewählte Zitate führender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Broschüre:
- „Je länger sich Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit mit ihren Smartphones beschäftigen und je mehr Zeit sie in sozialen Medien verbringen, desto geringer ist die schulische Lernleistung,“ schreibt der derzeit prominenteste deutsche Schulpädagoge Prof. Dr. Klaus Zierer (Universität Augsburg) als Fazit seiner Meta-Untersuchung.
- „Häufiges Lesen an digitalen Geräten weist einen negativen Zusammenhang mit dem Wortschatz der Kinder auf. Der Wortschatz ist am kleinsten, wenn Kinder oft an digitalen Geräten lesen und gleichzeitig selten bis nie ein Buch,“ so bringt es die aktuelle Lesestudie des Deutschen Instituts für Schulentwicklungsforschung auf den Punkt.
- „Wer vor dem Display sitzt, ist dort fixiert … Dazu werden alle psychologischen und technischen Tricks eingesetzt, um die Aufmerksamkeit zu binden … Wir haben es bei den heutigen digitalen Bildschirmmedien und Onlinediensten mit einem Suchtmittel zu tun,“ schreibt Ralf Lankau, Professor für Mediengestaltung an der Fakultät Medien und Informationswesen der Hochschule Offenburg.
- „Durch die Reizüberflutung wird die Versorgung des Belohnungssystems mit Dopamin beschleunigt, bei gleichzeitiger Unterversorgung des Stirnhirns mit Dopamin. Die dynamische Phase der Hirnreifung wird dadurch blockiert. Das Stirnhirn ist aber die Kommandozentrale für Konfliktbewältigung, Angstbewältigung, Logik, Vernunft, planerisches Denken und Handeln. Es ist erst mit dem ca. 20. Lebensjahr voll ausgereift,“ lauten die Erkenntnisse der Neurobiologin Prof. Dr. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt, ehem. Leiterin des Bereichs Neuroanatomie an der Fakultät für Biologie der Universität Bielefeld.
- „Um das Jahr 2012 stürzte die geistige Gesundheit junger Menschen eine Klippe hinunter … Die vollständige Umstellung von einer spielerischen Kindheit, die wir seit Millionen von Jahren hatten, auf eine telefonbasierte Kindheit. … Durch Smartphones und soziale Netzwerke sehen Kinder ihre Freunde nicht mehr so oft im wirklichen Leben. Sie schlafen nicht mehr so viel. Sie haben weniger Erfahrungen mit der Natur und sitzen den ganzen Tag nur vor ihrem Bildschirm. So verpassen sie das breite Spektrum der Erfahrungen, die für eine gesunde Entwicklung notwendig sind. Ihr Gehirn wird auf ein Leben am Bildschirm eingestellt. Das macht sie kaputt,“ analysiert der Sozialwissenschaftler Jonathan Haidt, Professor an der New York University Stern School of Business.
- „Medienkompetenz beginnt mit Medienabstinenz. Vor allem kleine Kinder brauchen umfassende basale Sinneserfahrungen und keine Reduktion auf Wischen und visuelle und auditive Eindrücke. Bewegung und auf Bäume klettern fördert nicht nur die kognitiven Fähigkeiten, sondern beugt vielen Zivilisationskrankheiten vor, wie Adipositas, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Kurzsichtigkeit.“ So formuliert Prof. Christian Möller, Chefarzt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Hannover, im Handbuch „Internet- und Computersucht“ die Null-Smartphone-Regel.
Ergänzender Hinweis auf ein Interview mit dem oben zitierten Sozialwissenschaftler aus New York, Jonathan Haidt, in der Neuen Züricher Zeitung.