Grenzwerte rechtmäßig? „Ein bahnbrechendes Urteil!“

Interview mit Rechtsanwältin Sibylle Killinger
Der juristische Kampf um einen Mobilfunkmasten in Bodenheim in der Nähe von Mainz nimmt einen unerwarteten Verlauf: Die Rechtmäßigkeit der Grenzwerte für Mobilfunkstrahlung steht nun in Frage. Wie es so weit kommen konnte, was das Urteil und das weitere Verfahren für andere Verfahren deutschlandweit bedeutet und welche Handlungsoptionen sich daraus ergeben, erklärt Sibylle Killinger, Rechtsanwältin eines Ehepaares aus Bodenheim im Interview mit unserem Campaigner Matthias von Herrmann. Sein Kommentar im Anschluss an das Interview zeigt drei Handlungsmöglichkeiten auf. Das Urteil als Download rechts und am Ende der Seite.
Grafik: ChatGPT

diagnose:funk: Frau Killinger, wie kam es zu dem Urteil?
SIBYLLE KILLINGER: Im August 2021 erteilte die Bundesnetzagentur der Telekom eine Standortbescheinigung für einen Mobilfunkmasten in Bodenheim bei Mainz. Gegen diese Standortbescheinigung legte dann ein Ehepaar Widerspruch und Klage ein. Das Ehepaar ist direkt betroffen, die beiden wohnen nur 430 Meter vom geplanten Mast entfernt. Diese Klage wurde wegen angeblicher Fristfehler vom Verwaltungsgericht Mainz als unzulässig abgewiesen. Daraufhin ging das Ehepaar in Berufung – und hatte Erfolg. Und um noch eins draufzusetzen: Es handelt sich um ein bahnbrechendes Berufungsurteil!

diagnose:funk: Was ist an diesem Berufungsurteil denn bahnbrechend?
KILLINGER: Entscheidend ist, dass das Oberverwaltungsgericht (OVG) Koblenz eine Sachverhaltsaufklärung zu den Mobilfunk-Grenzwerten angeordnet hat, um die Rechtmäßigkeit der Standortbescheinigung des Mobilfunkmasten zu überprüfen. Das Verwaltungsgericht (VG) Mainz muss also die Klage neu verhandeln – und zwar mit einer inhaltlichen Klärung, ob die für Mobilfunkstrahlung geltenden Grenzwerte die körperliche Unversehrtheit der Menschen gewährleisten. Diese wird durch das Grundgesetz, genauer durch Artikel 2 Absatz 2 geschützt. Dies stellt ein Novum seit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2002 dar.

diagnose:funk: Zunächst einmal: Was hat das Verfassungsgericht 2002 gesagt?
KILLINGER: In dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde eine Verfassungsbeschwerde eines Klägers nicht zur Entscheidung angenommen, das Gericht lehnte sie also ab. Auch damals schon hatte der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner körperlichen Unversehrtheit durch einen Mobilfunkmasten in der Nähe seines Wohnhauses geltend gemacht. Die Beschwerde wurde damals vom Verfassungsgericht mit der Begründung abgelehnt, dass der Bundesregierung ein sehr weit gefasster Einschätzungsspielraum hinsichtlich der Richtigkeit der Grenzwerte zustünde. Daher fand in den letzten 22 Jahren bei den Gerichten sozusagen keine inhaltliche Auseinandersetzung mehr statt zur möglichen Gesundheitsschädlichkeit von Mobilfunkstrahlung.

diagnose:funk: Jetzt bin ich auf das Novum gespannt.
KILLINGER: Ja, nun haben wir eine neue Lage, die das OVG aufgegriffen hat: Am 14.2.2023 veröffentlichte der Bundestagsausschuss für Technikfolgenabschätzung seinen Bericht, aus dem sich Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Mobilfunkgrenzwerte ergeben. Außerdem hat das VG Mainz in seinem klageabweisenden Urteil festgestellt, dass es die geltenden Mobilfunkgrenzwerte ggf. als „völlig unzureichend zum Schutz der menschlichen Gesundheit“ ansehe. Diese beiden Tatsachen nimmt das OVG wohl zum Anlass, einen Richtungswechsel vorzunehmen. Vor dem VG Mainz soll nun über die Notwendigkeit einer Überprüfung der Grenzwerte neu verhandelt werden.

Grafik: ChatGPT

diagnose:funk: Wie geht es also vor Gericht weiter?
KILLINGER: Die Parteien wurden vom VG Mainz zu einer Stellungnahme zu der Entscheidung des OVG aufgefordert. Wir haben in unserer Stellungnahme die Ausführungen zur NTP- und zur Ramazzini-Studie ergänzt, vertieft und analysiert, die im Bericht des Technikfolgenausschusses enthalten sind. Darüber hinaus führten wir zur festgestellten Schädigung der Chromosomen durch Funkstrahlung aus, wie sie in der neuen ATHEM-3-Studie gezeigt wurden. Und wir beriefen uns auf die neue WHO-Studie zu den negativen Auswirkungen der Mobilfunkstrahlung auf die männliche Fruchtbarkeit. Sämtliche Studien sind auf einem sehr hohen wissenschaftlichen Niveau. Aus der Ramazzini-, der ATHEM-3- und der WHO-Studie ergibt sich die gesundheitsgefährdende Wirkung der Mobilfunkstrahlung unterhalb der Grenzwerte. Die NTP-Studie bestätigt dieses Ergebnis. Hiermit belegen wir, dass die Grenzwerte nicht das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit schützen. In der noch ausstehenden mündlichen Verhandlung muss das Gericht über die Notwendigkeit einer Beweisaufnahme entscheiden. Da können Experten aus der Forschung als Sachverständige befragt werden und die Studienlage würde dabei aufgearbeitet.

diagnose:funk: Womit endet dieses Verfahren?
KILLINGER: Am Ende entscheidet das VG Mainz, ob es die Grenzwerte für rechtmäßig hält, also ob es durch die Grenzwerte die körperliche Unversehrtheit als geschützt ansieht und es somit die Standortbescheinigung in Bodenheim als rechtmäßig erteilt ansieht – oder eben nicht. Gegen die Entscheidung des VG Mainz kann dann jede Seite noch vorgehen, bis hin zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig.

diagnose:funk: Hilft das Urteil des OVG Koblenz denn schon heute irgendjemandem?
KILLINGER: Ja, und zwar gleich in drei verschiedenen Konstellationen: Die erste betrifft sogenannte anhängige Verfahren, wo also schon jemand gegen einen Mobilfunkmasten geklagt hat und das Verfahren aus irgendwelchen Gründen noch nicht abgeschlossen ist. In solchen Verfahren können die Kläger sich auf das Urteil des OVG Koblenz beziehen und ggf. sogar einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens stellen – bis zum Abschluss des Verfahrens nach allen Instanzen. Denn in diesem soll ja über die Rechtmäßigkeit der Grenzwerte entschieden werden.

diagnose:funk: Konstellation Nummer 2?
KILLINGER: Diese betrifft die Politik. Gemeinden könnten sich auf der Grundlage der neuen Rechtsprechung mit Landratsämtern und ggf. sogar mit den Mobilfunkbetreibern bis zum Abschluss des Verfahrens in Mainz auf ein Moratorium des Mobilfunkausbaus vor Ort einigen. Auf diese Möglichkeit, die durch die neue Rechtsprechung eröffnet ist, könnten Bürgerinitiativen ihre Gemeinden hinweisen.

diagnose:funk: Aller guten Dinge sind drei ...
KILLINGER: Sollte die Sache mit dem freiwilligen Moratorium nicht funktionieren, könnten Bürger weiterhin Klage erheben und sich in der Begründung auf die Entscheidung des OVG Koblenz beziehen. Die Erfolgsaussichten von Klagen haben sich jetzt erhöht. Bei der Gelegenheit möchte ich auch noch auf die Möglichkeit einer „solidarischen Klage“ hinweisen, wie wir sie in Neubeuern erhoben haben.

diagnose:funk: Das klingt innovativ. Was ist das?
KILLINGER: Durch die Erhebung einer solidarischen Klage kann das finanzielle Risiko auf viele Schultern, zum Beispiel die Mitglieder einer Bürgerinitiative, verteilt werden. Die Mitglieder können im Namen des Mitglieds, das am nächsten zum geplanten Funkmast wohnt, bei Gericht eine Klage einreichen, die Kosten aber auf alle verteilen. Zudem könnten in der Klagebegründung auch noch die Unterstützerinnen und Unterstützer namentlich genannt werden oder einfach nur ihre Anzahl. Das führt dem Gericht und der Gegenseite vor Augen, dass es sich tatsächlich nicht nur um einen Klagenden handelt, sondern dass viele weitere hinter der Klage stehen.

diagnose:funk: Die Entscheidung des OVG klingt vielversprechend. Versprechen wir uns vielleicht zu viel von ihr?
KILLINGER: Wir haben es hier im Grunde mit einem Musterverfahren zu tun. Das OVG sagt selbst, dass hier „Fragen aufgeworfen“ werden, die „in einer Vielzahl weiterer Verfahren Bedeutung erlangen können.“ Dieses Urteil des OVG Koblenz stellt bereits jetzt eine enorme Stärkung der Mobilfunkkritiker dar. Die Aussichten einer Klageerhebung gegen andere Mobilfunkstandorte erhöhen sich durch sie auf jeden Fall.

Rechtsanwältin Sibylle KillingerZoom-Screenshot: diagnose:funk

Sibylle Killinger studierte Jura in Passau, arbeitete danach in München, lebt seit 2018 in Neubeuern im Inntal. Seit Anfang 2021 begleitet sie eine solidarische Klage gegen einen Mobilfunkkasten in Neubeuern und eine Klage gegen einen Funkmast in Niederaudorf. Außerdem vertritt sie ein Ehepaar aus Bodenheim, das von der Bürgerinitiative „5G-frei-Rheinhessen“ (https://bi-5g-frei-rheinhessen.jimdosite.com/) unterstützt wird.


Der Mast muss weg!Grafik: BI Mobilfunk Stuttgart-West

Kommentar von Matthias von Herrmann, Campaigner bei diagnose:funk

Mission: Possible

Ein bahnbrechendes Urteil also. Zukunftsweisend. Womöglich revolutionär? Zumindest ist es ein deutlicher Lichtblick, den wir jetzt nutzen können, nein: nutzen müssen! Denn dieser Lichtblick ist wie geschaffen für all die vielen mobilfunkkritischen Bürgerinitiativen im ganzen Land. Ihr kennt die Mobilfunkausbauvorhaben vor Ort, Ihr habt Kontakt zu den Gemeinderäten, zu den Bürgermeistern und zur Presse. Liebe Bürgerinitiativen, übernehmt diese Mission! Sie ist nicht unmöglich, sie ist im Gegenteil gerade jetzt erfolgversprechend. Also: Vereinbart im Herbst 2024 Termine mit Euren politischen und journalistischen Kontakten, um über das Urteil zu informieren sowie über seine möglichen Auswirkungen auf die Situation vor Ort zu sprechen.

Was sind die möglichen Auswirkungen? Es gibt drei Optionen:

  1. In anhängigen Verfahren können die Kläger sich auf das Urteil des OVG Koblenz beziehen und ggf. sogar einen Antrag auf Aussetzung des anhängigen Verfahrens stellen. Denn im Verfahren vor dem VG Mainz soll ja über die Rechtmäßigkeit der Grenzwerte entschieden werden, die wiederum die Grundlage für alle noch offenen Entscheidungen zu Standortbescheinigungen oder Baugenehmigungen von Mobilfunkmasten sind.
  2. Bürgerinitiativen können im Rahmen ihrer Lobbyarbeit Gemeinderatsfraktionen, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowie Landratsämter darüber informieren, dass es dieses Berufungsurteil des OVG Koblenz jetzt gibt. Ziel: Bis zum Abschluss des Verfahrens in Mainz einigen sich alle Beteiligten auf ein Moratorium des Mobilfunkausbaus vor Ort. Denn wer jetzt den Mobilfunk weiter ausbaut, obwohl die Rechtmäßigkeit der Grenzwerte von einem Gericht erstmals deutlich in Frage gestellt wurde, handelt zumindest politisch unklug.
  3. Bürgerinnen und Bürger, die vom (geplanten) Bau eines Mobilfunkmasten betroffen sind, können nun unter Hinweis auf die neue Rechtsprechung ebenfalls eine Klage einreichen. Bürgerinitiativen können sie z.B. im Rahmen einer solidarischen Klage finanziell und personell unterstützen und gleichzeitig dazu Pressearbeit machen.

Publikation zum Thema

OVG Rheinland-Pfalz / diagnose:funk
4.4.2024Format: DIN A4Seitenanzahl: 17 Veröffentlicht am: 02.08.2024 Sprache: deutsch

Berufungsurteil OVG Rheinland-Pfalz (Koblenz) vom 4.4.2024

Rechtmäßigkeit der Mobilfunkgrenzwerte muss überprüft werden.
Autor:
Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz
Inhalt:
Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Rheinland-Pfalz in Koblenz hat eine Sachverhaltsaufklärung zu den Mobilfunkgrenzwerten angeordnet, um die Rechtmäßigkeit einer Standortbescheinigung eines Mobilfunkmasten zu überprüfen.
diagnose:funk
Format: A4Seitenanzahl: 36 Veröffentlicht am: 01.02.2023 Bestellnr.: 249Sprache: DeutschHerausgeber: diagnose:funk

ICBE-EMF: Die Zeit ist reif für neue Grenzwerte

Die neu gegründete Grenzwertkommission weist die Unwissenschaftlichkeit der geltenden ICNIRP-Grenzwerte für Mobilfunkstrahlung nach
Autor:
ICBE-EMF / diagnose:funk
Inhalt:
Dieser Brennpunkt publiziert die Übersetzung der Studie der internationalen Grenzwertkommission ICBE-EMF (International Commission on the Biological Effects of EMF) „Wissenschaftliche Erkenntnisse entkräften gesundheitliche Annahmen, die den FCC (Federal Communication Commission, USA) und ICNIRP-Grenzwertbestimmungen für Hochfrequenzstrahlung zugrunde liegen: Folgen für 5G“ (2022). Darin fordert die ICBE-EMF die Rücknahme und Neufestlegung der Grenzwerte für die Exposition gegenüber hochfrequenter Funkstrahlung (HF). Die Rücknahme der Grenzwerte ist notwendig, denn ihre Festlegung beruht auf falschen Annahmen. Das Ziel neuer Grenzwerte wäre die Festlegung von Standards zum Gesundheitsschutz für Arbeitnehmer, die Öffentlichkeit und die Natur.
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