Bahnbrechende Studie zu Sendeanlagen

ATHEM-3-Studie (III): „Die Effekte, die wir feststellten, entstanden bei einem Faktor 100 unter den erlaubten Werten!“

Interview mit Prof. Wilhelm Mosgöller, Studienkoordinator
Im Juni erschien die ATHEM 3-Studie „Bewertung von oxidativem Stress und genetischer Instabilität bei Anwohnern in der Nähe von Mobilfunk-Basisstationen in Deutschland“ von Gulati et al. [2024; 1]. Sie untersuchte die Langzeitwirkungen von Mobilfunk-Basisstationen auf den menschlichen Organismus. Die Bedeutung der Studie erschließt sich aus der Vorgeschichte. Vor 20 Jahren beschrieb die sogenannte Naila-Studie [2], dass im Umkreis von 400 Metern um eine Sendeanlage das Krebsrisiko erhöht ist, damals freilich ohne den biologischen Mechanismus dahinter zu kennen. Offen blieb die Frage, wie denn sowas möglich sei. Nachfolgestudien zur Naila Studie gab es in Deutschland keine, nur in Ländern wie Israel und Brasilien, welche den Erstbefund der Naila Studie bestätigen konnten oder auch nicht.
Prof. Wilhelm Mosgöller, Bild: GGB Lahnstein

Die ATHEM-3 Studie verleiht den "vergessenen" Naila-Befunden aus 2004 neue Aktualität. Erstmals wird in einer Feldstudie ein biologischer Mechanismus direkt am Menschen beschrieben, der die Befunde der Naila-Studie und weiterer Berichte plausibel macht. Mit dem Studienleiter Prof. Wilhelm Mosgöller (Med.Uni Wien) führten wir ein Interview über die gefundenen Genomschäden, die nach jahrelanger Exposition mit geringen radiofrequenten elektromagnetischen Feldern als Chromosomenschäden auftraten, die in der Medizin als Risikoindikatoren gelten.

 

Herr Professor Mosgöller, Sie hatten die Projektleitung der ATHEM-3 Studie (Gulati et al. 2024). In ihr wurde untersucht, ob und wie hochfrequente elektromagnetische Strahlung von Mobilfunkmasten auf Menschen wirkt. In Deutschland wurde seit der Naila Studie (2004) nicht weitergeforscht. Was genau untersuchten Sie? Und was genau ist der Bezug zur Naila Studie?

Bei uns ging es methodisch gesehen nicht um Epidemiologie wie bei Naila, sondern wir haben in die Studie gesunde Personen aus einer Wohnregion aufgenommen und verglichen, je nachdem, ob sie entweder kaum exponiert sind oder alternativ relativ hohe Immissionen in Ihren Wohnungen hatten. Entscheidend für die Teilnahme war, dass die Bewohner zumindest 5 Jahre an dem untersuchten Wohnort gewohnt hatten. Bedeutsam ist, dass die Effekte, die wir nach jahrelanger Exposition feststellten, bei Expositionen um den Faktor 100 unter den aktuell erlaubten Werten entstanden (Anm. diagnose:funk: Gemeint sind die ICNIRP-Grenzwerte, s. Tabelle 2, S. 3 der Studie).

Welche Strahlungsquellen und anderen Umwelteinflüsse wurden bei der Untersuchung berücksichtigt?

Es war uns wichtig, dass wir uns nicht auf die räumliche Nähe zum Mobilfunkmasten beziehen, sondern auf die tatsächlich vorhandenen HF-EMF (Hochfrequente Elektromagnetische Felder) Immissionen. Das sind jene, die von Mobilfunkmasten kommen, aber auch jene, die durch WLAN und Schnurlostelefonen hausgemacht sind. Ein großer Teil der Untersuchungen beschäftigte sich mit Lebensstilfaktoren und Lebenserfahrungen der Teilnehmer. Es ist ja nicht so, dass nur die Exposition zu hochfrequenten Feldern allein ein Risiko darstellt. Uns ging es auch darum, denkbare Einflüsse wie Ernährung, Umwelteinflüsse, berufsbedingte Expositionen, selbst gemachte HF-EMF Expositionen, z.B. WLAN, zu dokumentieren und deren möglichen Einfluss auf die Befunde zu oxidativem Stress, DNA- und Chromosomenschäden zu berücksichtigen.

… und wer wurde untersucht?

Die beste Wissenschaft wäre wertlos, hätten die Bewohner nicht mitgemacht. Sie haben uns ihre Häuser geöffnet und ermöglicht, die vorhandenen hoch und niederfrequenten Felder - hausgemacht und von extern kommend – detailliert zu erfassen.

Auf Basis der in den Häusern vorgefundenen Immissionen ließen sich die Studienteilnehmer zwanglos zwei direkt miteinander vergleichbaren Gruppen zuteilen: (1) Überdurchschnittlich hoch mit HF-EMF exponiert, (2) kaum oder niedrig exponiert. Die freiwilligen Teilnehmer stellten Blutproben zur Verfügung. Die Proben-Untersuchungen wurden unter mehrfach verblindeten Bedingungen durchgeführt, das heißt, keine der biologischen Analysen konnte durch die denkbare Erwartungshaltung der Untersucher beeinflusst werden. Während des gesamten Projektes wurden keine zusätzlichen EMF-Immissionen erzeugt. Es wurden ausschließlich Immissionen ausgewertet, die im Alltag unserer Teilnehmer vorkommen.

Darstellung der Ergebnisse der Studie von Gulati et al.(2024)Bild: ATHEM-3 Projekt

Was war das Hauptergebnis?

Wir hatten negative Befunde, aber auch klar positive Ergebnisse: Bei den Chromosomenschäden hat uns dann doch überrascht, wie klar das Ergebnis war. Zwar gab es Hinweise auf derartige Wirkungen von HF-Exposition auch schon früher, diese stammten typischerweise aus in vitro Kurzzeit-Laborversuchen oder von Tierexperimenten. Zu Projektbeginn war ja eine Fragestellung, ob es bei geringer Alltags-Exposition nicht zu Anpassungen kommt. Denken Sie nur an den UV-Anteil der Sonnenstrahlung. Einerseits wichtig für die Bildung von Vitamin D, andererseits - wenn Sie es übertreiben - ein Gesundheitsrisiko. Nun, Sonnenstrahlen sind auch elektromagnetische Felder. Etwas unromantisch vielleicht, aber die Bräunung der Haut ist eine Anpassung an die Exposition, eine Schutzreaktion des Körpers, um Hautschäden zu verhindern.

Im Falle einer Anpassungsreaktion, analog zur Hautbräunung durch die Sonne, hätten wir nach jahrelanger Exposition wenn überhaupt welche, dann kleine Effekte erwartet. Aber die Befunde sprechen eher dafür, dass Chromosomenschäden sich mit der Zeit ansammeln.

  • Die hoch signifikanten Unterschiede zwischen der exponierten Gruppe und der Kontrollgruppe zeigen an, dass für die gefundene genetische Instabilität eine Langzeiteinwirkung der Mobilfunkstrahlung von GSM- und LTE-Basisstationen die wahrscheinlichste Ursache ist.

Und welche gesundheitlichen Folgen könnte diese genetische Instabilität für die Anwohner haben?

In unserem Fall waren die Teilnehmer während der Untersuchungen allesamt gesund, und sind es hoffentlich immer noch. Man würde also das "Kind mit dem Bade" ausschütten, spräche man von akuten gesundheitlichen Auswirkungen. Worum es wirklich geht, sind Risikofaktoren und Risiko-Indikatoren für Langzeitauswirkungen.

Erlauben sie mir hier eine Analogie: Personen mit hohem Blutdruck fühlen sich eher gesund als krank. Wir wissen aber aus einer Vielzahl von Studien, dass hoher Blutdruck das Risiko für Schlaganfall oder Herzinfarkte mit sich bringt. Allerdings, die Diskussion über gesundheitliche Folgen ist stark von Interessen bestimmt. "Verkäufer" eines ungesunden Lebensstils werden Probleme herunterspielen, Pharmafirmen, die Blutdruck-Medikamente verkaufen, tendieren dazu, das Risiko extra zu betonen und hochzuspielen. Warum sollte es bei HF-EMF Exposition anders laufen? Unsere Ergebnisse zeigen ein erhöhtes Erkrankungsrisiko bei Personen, die höheren Feldern von Basisstationen ausgesetzt sind.

In Kommunen sind oft tausende Anwohner der Strahlung einer Sendeanlage im Dauerbetrieb ausgesetzt. Bild:Stuttgart-WestBild:diagnose:funk

Welche Relevanz für die Gesundheit hat nun ihr Ergebnis? In Großstädten wohnen ja oft tausende Menschen um so eine Sendeanlage herum.

In Großstädten sind es zumeist nur sehr "kleine" und dicht gestreute Anlagen. Das ergibt eine völlig andere Expositionscharakteristik als wir es vorfanden, und in der Stadt gibt es eine Vielzahl von Einflussfaktoren, als Untersuchungsergebnis erwarten Sie da mehr Fragezeichen als Antworten. Aber unsere Ergebnisse sind stimmig zu jenen der Naila-Studie und weiteren gleichartigen Studien. Die gefundenen Chromosomenaberrationen waren statistisch signifikant.

Allerdings, Chromosomenschäden sind zunächst mal ein Risikoindikator. Es wird Personen geben, die dieses Risiko nicht lukrieren, und solche, die es schon lukrieren. Wer seine genetischen Gesundheitsrisiken kennt, kann sich darauf einstellen, oder abwarten, ob es realisiert wird.

Um das Ausmaß der gesundheitlichen Relevanz "belastbar" abzuschätzen, braucht es mehr als nur eine einzige epidemiologische Studie. Auch in der Wissenschaft gilt: "Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer". Es war im Jahr 2014, als mein Kollege Michael Kundi für das Anfertigen einer Metaanalyse von Human-Studien rund um Basisstationen klarstellte, dass weniger die Nähe zum Masten, sondern die HF-EMF Immission von Masten ausschlaggebend ist. Beim bloßen Anblick eines Masten kann man nicht sicher sagen, wie groß die Felder sind, die von den Antennen ausgehen. Bei unserer Expositionsgruppe war es zwar nicht so, aber grundsätzlich besteht die Möglichkeit, dass die hausgemachten Felder durch WLAN oder DECT Telefon genauso hoch und höher sind, als das, was von extern hereinkommt.

Welche Folgen hat es, wenn die hochsensiblen Organismen von Kindern einer Dauerbestrahlung ausgesetzt sind? Im Bild: Bürgerinitiative Cavertitz in AktionQuelle: cavertitz-gegen-5g.de

Sehen wir das richtig? Im Klartext heißt das: Je näher und länger am Sender, desto größer die Wahrscheinlichkeit einer Schädigung im Erbgut.

Im Prinzip ja, aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Die räumliche Nähe zum Sender ist ein erster Anhaltspunkt. Wenn Sie sich drauf verlassen, könnten sie auch falsch liegen. Viel hängt davon ab, ob Sie sich in Hauptstrahlrichtung befinden, oder ob es Abschattungen gibt. Manchmal haben Sie "unter dem Sender" weniger Exposition als in 200 Meter Entfernung. Das hängt von der Ausrichtung der Antenne ab.

  • Dass mit der Zeitdauer der Exposition die Schäden ansteigen, das ist eine der wichtigsten Schlussfolgerungen in der Publikation Gulati et al 2024 [1].

Bei Gewöhnungseffekten hätten wir keinen solchen Effekt gefunden. Bei früheren Kurzzeit-Zellversuchen oder Tierexperimenten gab es gemischte Ergebnisse. Dass es nun beim Menschen so klar auftritt, war überraschend und gehört nachuntersucht.

Eine Gewöhnung, also eine Adaption des Organismus fand nicht statt?

Ja, das kann man so sagen. Unsere Anfangs-Hypothese, dass sich nach Jahren ein Gewöhnungseffekt einstellt, mussten wir verwerfen. Im Gegenteil, es sieht danach aus, als würden Felder mit niedriger Intensität, ab ca. 1 mW/m², Effekte, hervorrufen und diese sich sogar über die Zeit anhäufen. Die Metaanalyse von Michael Kundi von 2014, die er für den Leitfaden Senderbau erstellte, und unsere Ergebnisse 10 Jahre später, passen gut zusammen. 

Wie lässt sich das Ergebnis von ATHEM-3 einordnen?

Als wir 2002 mit der ATHEM-Versuchsserie starteten, wurde noch heftig diskutiert, ob es zusätzlich zu den damals hinreichend bekannten thermischen Effekten der Mikrowellen so genannte nicht-thermische Felder überhaupt gibt. Dazu muss man wissen, die Grenzwerte basieren heute noch auf dem thermischen Prinzip, sie schützen zuverlässig, allerdings nur vor Wärmeeffekten.

Ein Ergebnis von ATHEM-1 (2002-2008) war, dass stundenlange Exposition mit niedrigen Intensitäten von HF-EMF in bestimmten Zellen zu DNA-Brüchen führt [3, 4], und andere Zellen sich unempfindlich zeigten. Damit haben sich die einst als widersprüchlich diskutierten Befunde in der Forschung als scheinbar herausgestellt. Auch wenn wir damals nur wenig über die Bedeutung freier Radikale wussten, waren für uns die Ergebnisse damals schon überzeugend, weil in den gleichen Zellen, die expositionsbedingte DNA-Schäden aufwiesen, kam es auch zu Veränderungen des Proteinhaushalts, die wir in den unempfindlichen Zellen -  ohne DNA-Schäden -  nicht beobachteten [5].

Die Ergebnisse waren also stimmig, was blieb ist die Frage „Wie denn das möglich sei, dass HF-EMF zu DNA-Brüchen führt?“. Einerseits waren es internationale gleichartige Befunde, andererseits hat das Nachfolgeprojekt ATHEM-2 (2012-2016) die DNA-Schäden bestätigt. Darüber hinaus bestätigte sich im ATHEM-2 Projekt auch, dass unter HF-EMF Exposition oxidativer Stress entsteht, der die DNA oxidativ schädigen kann. Bei der Reparatur dieser Schäden durch die Zelle treten selten, aber doch Fehler auf. Erhöhte Reparaturraten erhöhen auch die Fehlerraten. DNA-Schäden stören, bzw. zerstören die genetische Information in der DNA [6, 7]. Geringe DNA-Störungen können sich der Beobachtung entziehen. Das alles weiß man aus in-vitro Laborstudien. Nun, bei ATHEM-3 konnten wir die Relevanz dieser Erkenntnisse in einer Humanstudie bestätigen [1].

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Dr. Horst Eger, Bild:Steinhardt Video

Dr. Horst Eger initiierte und leitete die 2004 publizierte Naila-Studie. Im Interview mit diagnose:funk blickt Dr. Eger auf die Studie und seine Erfahrungen damit zurück.

>>> Hier gehts zum Interview

Dr. Eger berief sich bereits 2004 auf Studien zu Chromosomenaberrationen bei Pflanzen!

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Bei ATHEM-1 und auch der REFLEX-Studie wurden ja die Gültigkeit der Laborstudien stark angezweifelt ...

Meinem DNA-Team wurde damals Datenfälschung vorgeworfen. Dass ich bereits 2008 die Daten extern überprüft hatte und darum sicher sein konnte, war Nebensache. Erst 2014 hat die US-amerikanische Datenbank "Pubmed-Medline" die Warnhinweise, deren Installation der Initiator der Affäre bewirkte, wieder entfernt. Nachdem er die Anwürfe nicht belegen konnte, hat es bis 2016 gebraucht, den Initiator per Gerichtsbeschluss in die Schranken zu weisen. Währenddessen haben internationale Forscherteams aus China, Italien und der Türkei die Wiener in vitro - Befunde bestätigt.

Sie haben schon eingangs erwähnt, dass in Deutschland die Naila Studie [2] nicht weiterverfolgt wurde. Ich denke, die Kampagnen, die gegen die Wiener Wissenschaftler zu Unrecht lanciert wurden, haben uns gelehrt, wie man mit Wissenschaft und Wissenschaftlern umgeht, deren Ergebnisse man "bezweifeln möchte". So ähnlich war es vermutlich schon bei Galileo Galilei, als er 1490 behauptete, die Erde wäre rund und dreht sich um die Sonne. Damals gab es noch Scheiterhaufen und "Seelenläuterung durch Verbrennung", heute sind es die Medien und Mobbing. Nun, die massive Kampagne, der Galileo Galilei ausgesetzt war, hat ihn nicht davon abgehalten zu wissen, dass die Erde rund ist, sich dreht und um die Sonne kreist und nicht umgekehrt, wie es damals das Weltbild war.

Die Aussage steht im Raum, dass die gefundenen Chromosomenschäden die biologischen Grenzwerte der IAEA (International Atomic Energy Agency) um ein Mehrfaches übersteigen. Ein skandalöser Befund. Wie ist diese Ähnlichkeit mit den Auswirkungen ionisierender Strahlung zu erklären?

Wenn man sagt, dass ionisierende Strahlung die menschliche DNA direkt brechen kann und HF-EMF könnten das nicht, so ist das biologisch betrachtet sehr grob vereinfacht. Beide Strahlenarten bewirken DNA-Schädigung über so genannte freie oxidative Radikale. Exzessive oxidative Veränderungen verursachen DNA- und Zellschäden, egal welche Strahlen die oxidativen Radikale bewirkt haben. Ionisierende Strahlen wirken schnell, anders bei nicht-ionisierenden HF-EMF. Es braucht Stunden, Tage, bis Jahre, bis die Zellschädigung auftritt, so sie auftritt, wie bei uns der Fall.

Für sehr geringe Schadwirkungen hat die IAEA biologische Grenzwerte eingeführt, weil es bei Langzeitexposition einfacher ist, die Effekte geringer Bestrahlung an den Folgen zu messen, als mit physikalischen Messungen, wie es bei HF-EMF üblich ist. Da aber unser Hauptbefund expositionsbedingte Chromosomenschäden sind [1], ist es naheliegend, diesen Befund mit Normen-gerechten Chromosomenschäden abzugleichen [8, 9]. Das vorgefundene Schadausmaß entspricht der mehrfachen Überschreitung der IAEA Grenzwerte. Ich gehe davon aus, dass in dieser Sache das letzte Wort noch lange nicht gesprochen ist.

Wie stehen andere Wissenschaftler zum Thema?

Wie es die ehemalige Leiterin des Ramazzini Forschungs-Institutes in Bologna einmal bei einem Interview ausdrückte, gilt:

  1. „Alle Substanzen, die sich in epidemiologischen Studien als karzinogen für den Menschen erwiesen haben, zeigten sich auch im Tierversuch karzinogen ….
  2. Kaum eine Substanz, die sich bei Tieren als krebserregend erwies, hat sich bei Menschen im Rahmen von adäquaten epidemiologischen Studien als nicht karzinogen erwiesen.
  3. Die Beziehung zwischen der Exposition gegenüber einer karzinogenen Substanz und der neoplastischen Reaktion sowie dem Prozess der Krebsentwicklung ist bei Menschen und Tieren vergleichbar.“ (F. Belpoggi, Oekoskop 2/2020)

Im Falle von HF-EMF übersieht man, dass normale toxikologische Studien, die eine Dosis- Wirkungskurve herstellen, nicht möglich sind, weil eine Erhöhung der Intensität zu Hitzeschäden führt bevor das karzinogene Potential untersucht werden kann. Die obligaten Dosis-Wirkungskurven wären hier nur möglich, wenn man die Expositionszeit beachtet. Das ist aber schwierig und wurde wenig gemacht. Das erklärt meiner Meinung nach, warum es Stimmen gibt, die am Dogma festhalten, dass nur thermische Wirkungen so gut verstanden sind, dass man daraus Grenzwerte schlüssig ableiten kann.

Diese dogmatisch geprägte Sichtweise blendet allerdings aus, dass es in vielen Wissensbereichen Alternativen zum "Schutz-per-Grenzwert" gibt. Ein bekanntes Beispiel ist das ALARA Prinzip. Der Begriff ALARA steht für "As Low As Reasonable Achieveable", also "so niedrig wie vernünftigerweise machbar". Ein ähnliches Schutzprinzip ist ALATA (As Low As Technically Achievable) zu deutsch: so niedrig wie technisch machbar. In diesem Zusammenhang gibt es zwei Projekte die ich erwähnen möchte:  

  1. Der Leitfaden Senderbau, den wir in Österreich entwickelt haben.
  2. Das St. Gallener Modell, mit dem mit Kleinsendern eine Strahlungsminimierung erreicht wurde.
Leitfaden Senderbau (LFS)Quelle: aegu.net/pdf/Leitfaden.pdf

Was ist der Leitfaden Senderbau?

Bereits im Jahr 2014 haben bedeutende Österreichische Verbände von Wirtschaft, Arbeitnehmerschutz, Mediziner, etc. den Leitfaden Senderbau" (LSB) herausgebracht. Er wurde entwickelt, um bei Bauwerken und installierten Antennen die Sichtweisen beider, der Antennenbetreiber und jene der exponierten Anrainer, einfließen zu lassen.[1] Der LSB ist eine Leitlinie, die ALARA und ALATA Prinzipien im Sinne eines sozial- und umweltverträglichen Baus und Betriebs von Antennenlagen umsetzt.

Auf Seite 30 findet sich die vorhin erwähnte Metanalyse von 30 Studien zu Basisstationen, die Prof. Michael Kundi seinerzeit durchführte. Als direkte Folge dieser Analyse plädiert der LSB für die Suche nach alternativen Standorten oder Maßnahmen, wenn die Höchstbelastung durch HF-EMF in Summe 1000 µW/m2 Leistungsflussdichte übersteigt.  In unserer Studie [1] lag die Kontrollgruppe deutlich unter 1000 µW/m2 Leistungsflussdichte, und die Untersuchungsgruppe darüber. Die Studie Gulati et al. (2024) fügt sich also stimmig in die Metaanalyse von 30 Publikationen.

Was darf man sich unter "St.Gallener Modell" vorstellen?

Eine groß angelegte Untersuchung zur Mobilfunkversorgung der St.Galler Innenstadt mit Kleinzellen hat ergeben, dass damit sich regionale Spitzenwerte einebnen lassen. Weil der Betreiber aber dann beschloss, es so wie gewohnt zu machen, kam es zu keinem gemeinsamen Report. Die Stadt empfahl damals als expositionsreduzierende Maßnahme, den Datentransfer in Innenräumen über kabelgebundene Infrastruktur abzuwickeln[2]. Ich würde noch gerne ergänzen: Zukünftig können und sollten besonders für die Innenraumversorgung die Mikrowelle als Datenträger (W-LAN) durch Lichtwellen als Datenträger ersetzt werden kann. Das ist nicht nur technisch leistungsfähiger, sondern auch mit weniger "athermischen Nebenwirkungen" belastet.

Was müsste getan werden, die Bevölkerung vor diesen Belastungen und den Risiken, die daraus folgen, zu schützen?

Man muss nicht auf die Vorteile des Mobilfunks verzichten, um das mit der HF-EMF Exposition assoziierte Risiko auf ein hinreichendes Maß zu reduzieren. Es gäbe eine Reihe von Möglichkeiten, allein im organisatorischen Bereich.

Die Zusammenarbeit aller Mobilfunkanbieter in einem Land würde die Exposition der Bevölkerung schlagartig reduzieren, also ein Netz für alle, durch sogenanntes Roaming. Dass jeder Mobilfunk-Anbieter ein eigenes Netz von Basisstationen betreibt, ist ein Merkmal der Mobilfunkbranche. Kein KFZ-Hersteller baut ein Straßennetz nur für Autos der eigenen Marke, kein privater Stromerzeuger versorgt die Kunden über ein eigenes Stromnetz, kein Pharmakonzern betreibt Verkaufsstellen, also Apotheken, für nur eigene Produkte.

Innerhalb der Staatsgrenzen könnte ein gemeinsam genutztes Funknetz Funklöcher schließen, den Batterieverbrauch reduzieren, die Verbindungsqualität heben und die Exposition der Bevölkerung mit HF-EMF deutlich reduzieren. 

Eine Präventionsempfehlung kann jeder bei sich zu Hause umsetzen, nämlich die IT-Infrastruktur kabelgebunden - oder als kabellose Variante, wie z.B. mit Licht-als-Trägerwelle einzurichten.

Der Arzt Paracelsus, ein Zeitgenosse von Gaileo Galilei, hat einen bis heute gültigen Grundsatz definiert: "Alle Ding sind Gift und nichts ohn´ Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist." Etwas moderner ausgedrückt: "Die Dosis macht die Wirkung (und/oder das Gift)". Was bedeutet das, übertragen auf die Situation bei Hochfrequenz-Exposition?:

  • Die Intensität der Exposition halte klein (z.B. beim Telefonieren durch Abstand zum Mobiltelefon und Nutzung der Freisprechfunktion), die Zeitdauer der Exposition halte möglichst kurz. Nutze Dein Mobiltelefon so wie Dein Auto. Wenn Du es nutzt, dann bitte nicht gedankenlos. Stell es ab, wenn nicht gebraucht.

Herr Professor Mosgöller, danke für die geduldige und detaillierte Beantwortung der Fragen und vor allem für diese Studie.

Das Interview führte Peter Hensinger, M.A., Mitglied im Vorstand von diagnose:funk, 23.07.2024

 

Verzeichnis der zitierten Studien

1. Gulati, S., W. Mosgoeller, et al., Evaluation of oxidative stress and genetic instability among residents near mobile phone base stations in Germany. Ecotoxicol Environ Saf, 2024. 279: p. 116486.https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/38820877

2.  Eger, H., K. Hagen, et al., The Influence of Being Physically Near to a Cell Phone Transmission Mast on the Incidence of Cancer. Umwelt Medizin Gesellschaft, 2004. 17(4 ): p. 326-332 https://www.emf-portal.org/en/article/11420

3.  Diem, E., C. Schwarz, et al., Non-thermal DNA breakage by mobile-phone radiation (1800 MHz) in human fibroblasts and in transformed GFSH-R17 rat granulosa cells in vitro. Mutat.Res., 2005. 583(2): p. 178-183.https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/15869902

4. Schwarz, C., E. Kratochvil, et al., Radiofrequency electromagnetic fields (UMTS, 1,950 MHz) induce genotoxic effects in vitro in human fibroblasts but not in lymphocytes. Int.Arch.Occup.Environ.Health, 2008. 81(6): p. 755-767.https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/18278508

5. Gerner, C., V. Haudek, et al., Increased protein synthesis by cells exposed to a 1,800-MHz radio-frequency mobile phone electromagnetic field, detected by proteome profiling. Int Arch Occup Environ Health, 2010. 83(6): p. 691-702.https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/20145945

6. Al-Serori, H., F. Ferk, et al., Mobile phone specific electromagnetic fields induce transient DNA damage and nucleotide excision repair in serum-deprived human glioblastoma cells. PLoS One, 2018. 13(4): p. e0193677.https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/29649215

7. Al-Serori, H., M. Kundi, et al., Evaluation of the potential of mobile phone specific electromagnetic fields (UMTS) to produce micronuclei in human glioblastoma cell lines. Toxicol In Vitro, 2017. 40: p. 264-271.https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/28126644

8.  IAEA, Biological Dosimetry: Chromosomal Aberration Analysis for Dose Assessment, in Technical Reports Series 1986, IAEA - International Atomic Energy Agency: Vienna

9. IAEA, Radiation protection of the public and the environment in IAEA safety standards series. 2018, IAEA - International Atomic Energy Agency: Vienna.

Quellen:

[1] Leitfaden Senderbau, 2. Auflage, Herausgeber: Ärztinnen und Ärzte für eine gesunde Umwelt – PDF Wirtschaftskammer Österreich

[2]  https://www.stadt.sg.ch/news/stsg_medienmitteilungen/2020/07/kleinzellen.html,

Publikation zum Thema

diagnose:funk
Stand: 08.10.2024Format: DIN A4Seitenanzahl: 18 Veröffentlicht am: 14.06.2024 Sprache: deutschHerausgeber: diagnose:funk

Überblick Nr. 1: Wie wirkt Mobilfunk auf Menschen, Tiere und Pflanzen?


Autor:
diagnose:funk
Inhalt:
Der Überblick Nr. 1 stellt die Gesamtstudienlage dar. Quellenbasiert wird dargestellt, dass es zu vielen medizinischen Endpunkten wie Fertilität und Krebs zu nahezu allen im Mobilfunk verwendeten Frequenzen peer-reviewte Studien gibt, die gesundheitliche Schädigungen nachweisen. Dies gilt sowohl für die körpernahe Nutzung von Handys, Smartwatches, Tablets und Notebooks als auch für WLAN-Router und Mobilfunkbasisstationen. Inzwischen bestätigen Dokumente der Europäischen Union und des Deutschen Bundestages diese wissenschaftlichen Erkenntnisse. Wir geben Ihnen einen Überblick über die Studienlage, der in den weiteren Publikationen dieser Reihe vertieft wird.
diagnose:funk
Stand: 04.12.2024Format: A4Seitenanzahl: 14 Veröffentlicht am: 14.06.2024 Sprache: DeutschHerausgeber: diagnose:funk

Überblick Nr. 2: Ist Mobilfunk krebserregend?


Autor:
diagnose:funk
Inhalt:
In Überblick Nr. 2 dokumentiert diagnose:funk die Studienlage zum Risiko einer Krebser-krankung durch Mobilfunkstrahlung. Dazu gibt es seit ca. 25 Jahren eine heftige Debatte zwischen Wissenschaft, Behörden, Mobilfunkbetreibern und Bürgerinitiativen. In den Jahren 2016 bis 2020 wurden groß angelegte, qualitativ hochwertige Studien durchgeführt, die bestätigen, dass die 2011 von der WHO beschlossene Eingruppierung der nicht-ionisierenden Strahlung in ‚möglicherweise krebserregend (2B)‘ nicht nur gerechtfertigt war, sondern diese neuen Erkenntnisse eine Eingruppierung in ‚wahrscheinlich krebserregend (2A)‘ oder gar ‚krebserregend (1)‘ erfordern. Auch die Debatte um die Krebsstatistik wird analysiert.
diagnose:funk
Stand: 08.10.2024Format: A4Seitenanzahl: 22 Veröffentlicht am: 14.06.2024 Sprache: DeutschHerausgeber: diagnose:funk

Überblick Nr. 3: Zeigt Mobilfunk auch nicht-thermische Wirkungen?


Autor:
diagnose:funk
Inhalt:
Überblick Nr. 3 setzt sich mit einer Hauptbegründung für die Ungefährlichkeit der Mobilfunkstrahlung auseinander: Die gesetzlichen Grenzwerte würden vor Gesundheitsrisiken schützen. Es würde keine Beweise für nicht-thermische Wirkungen geben. Jedoch: Der Ausschluss von Studien mit nicht-thermischen Wirkungen für die Risikobewertung wird inzwischen von europäischen Gremien kritisiert, ebenso in juristischen Gutachten. Dieser Überblick stellt die Diskussion um das thermische Dogma seit den 1950er Jahren bis heute dar. diagnose:funk dokumentiert darin exemplarisch 70 Studien, die nicht-thermische Wirkungen zeigen. Damit wird die Schutzfunktion der geltenden Grenzwerte wissenschaftlich in Frage gestellt.
Format: A4Seitenanzahl: 21 Veröffentlicht am: 21.10.2015 Sprache: DeutschHerausgeber: Kompetenzinitiative zum Schutz von Mensch, Umwelt und Demokratie e.V.

Ist die Unterteilung in ionisierende und nichtionisierende Strahlung noch aktuell?

EMF-Strahlung kann O2- und NO-Radikale im Überschuss im menschlichen Körper generieren
Autor:
Prof. Dr. med. Karl Hecht
Inhalt:
Sowohl die sogenannten ionisierenden Strahlungen als auch die sogenannten nichtionisierenden Strahlungen können freie Radikale im menschlichen Körper generieren. Analoge biologische Schädigungen können also von beiden Arten der Strahlung ausgehen. Aus allem folgt: Da für den Schutz der Bevölkerung die Folgen der Strahlungen auf den menschlichen Körper ausschlaggebend sind, ist eine Unterteilung in ionisierende und nichtionisierende Strahlung nicht mehr angebracht. Das muss aber auch Konsequenzen für den gegenwärtigen Strahlenschutz und entsprechende juristischen Bewertungen haben.
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