1990er Jahre: Die ersten Handys kamen auf den Markt und noch niemand ahnte, dass die mobile Kommunikation eine gesellschaftsverändernde Schlüsseltechnologie mit weltweit Milliarden Euros Umsätzen würde. Die Industrielobby hatte noch nicht die Deutungshoheit über mögliche Risiken. Also ging man "normal" mit den Risiken um, thematisierte sie und befragte Wissenschaftler.
- Bereits 1991 wies die Strahlenschutzkommission (SSK ) noch ohne Schere im Kopf in ihrer Empfehlung „Schutz vor elektromagnetischer Strahlung beim Mobilfunk“ darauf hin: „So können unter Sonderbedingungen, wie über amplitudenmodulierte HF-Felder, auch direkte Wirkungen auf Makromoleküle, Zellmembranen oder Zellorganellen induziert werden."[1]
- Das Wissenschaftsmagazin von 3Sat lud 1995 den Bienenforscher Dr. Ulrich Warnke und die Redakteurin des ElektrosmogReport, die Biologin Isabel Wilke ein, um sachlich die Forschungslage zu besprechen. 3Sat dokumentierte die Forschungsergebnisse über Auswirkungen auf das Gehirn von Prof. Lebrecht von Klitzing an der Uniklinik Lübeck.
- Der damalige Präsident des Bundesamtes (BfS) für Strahlenschutz, Wolfram König, gab 2001 in der Berliner Zeitung ein Interview, mahnte zur Vorsicht im Umgang mit Handys und Sendemasten und forderte mehr Forschung (s.u).
- Juni 2003: Die Bundestagsdrucksache 15/1403 „Gesundheitliche und ökologische Aspekte bei mobiler Telekommunikation und Sendeanlagen - wissenschaftlicher Diskurs, regulatorische Erfordernisse und öffentliche Debatte“, vom 8.7.2003, enthält einen 100-seitigen Forschungsüberblick mit dem Kapitel „Gefahrenabwehr“, das auf potenzielle Risiken hinweist und vor allem für Schutzzonen um Kindergärten herum plädiert. Dort wird zu Auswirkungen der Strahlung u.a. festgestellt: „Von den Studien an menschlichen Probanden erbrachten 79 % positive Befunde. Die meisten Effekte betreffen das Nervensystem oder das Gehirn (86 %), es folgen Effekte im Zusammenhang mit Krebs (64 %)“ (S.27).
- Sachbearbeiter des BfS reagierten auf die Studienlage und erarbeiteten 2005 die „Leitlinien Strahlenschutz“, die u.a. auch auf das Krebspotenzial hinwiesen, mit der Forderung nach gesetzlichen Schutzregelungen.
- Im Oktober 2008 erscheint das Positionspapier Nr. 46 des BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland) „Für zukunftsfähige Funktechnologien“ mit dem Appell: „Die Gesundheit der Menschen nimmt Schaden durch flächendeckende, unnatürliche Strahlung mit einer bisher nicht aufgetretenen Leistungsdichte. Kurz und langfristige Schädigungen sind absehbar und werden sich vor allem in der nächsten Generation manifestieren, falls nicht politisch verantwortlich und unverzüglich gehandelt wird.“
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Noch 2014 wurde in Österreich der „Leitfaden Senderbau“ herausgegeben mit der Forderung nach einer Expositionsbeschränkung in der Summe auf 1000 µWatt/m2. Herausgeber waren die Wiener Arbeiterkammer, AUVA – Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Wirtschaftskammer, Bundesinnung der Elektro-, Gebäude-, Alarm-, u. Kommunikationstechniker, Wiener Umweltanwaltschaft, Österreichische Ärztekammer, Wissenschaftler der MedUni Wien, Institut für Umwelthygiene und Institut für Krebsforschung.
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Die Europäische Umweltagentur gab noch 2016 den Band 2 der Dokumentation "Späte Lehren aus frühen Warnungen heraus" mit einem Artikel (S. 509-529) zum Krebsrisiko heraus.
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Bis 2017 publizierte das EMF-Portal an der RWTH-Aachen objektive Zusammenfassungen (Summaries) von Studienergebnissen. Bürger konnten sich Studienauswertungen wünschen. Das EMF-Portal wurde zur weltweit führenden Datenbank. 2017 stellte die Bundesregierung die Finanzierung ein. Ein klares Signal, dass man an der Studienauswertung kein Interesse mehr hat. diagnose:funk protestierte bei der damaligen Umweltministerin Hendricks, das Bundesamt für Strahlenschutz schwieg. Seit 2017 gibt es keine staatliche Auswertung der Studienlage und keine Expertise mehr. Dies übernahmen der ElektrosmogReport, er erscheint seit 1995, seit 2019 herausgegeben von diagnose:funk, und die Datenbank www.EMFData.org.
Ein Kipppunkt in der Debatte in Deutschland
Der Staat kassierte im Jahr 2001 für die UMTS-Lizenzgebühren 50 Milliarden Euro und verpflichtete sich zur Förderung des Mobilfunkausbaus. Nachdem 2004 völlig unerwartet zwei Studien erschienen, die ein Krebsrisiko nachwiesen, die EU-REFLEX-Studie an Zellkulturen und die Naila-Studie durch Sendemasten, schreckte die Industrie auf. Der Unternehmerverband Bitkom forderte die Rücknahme der „Leitlinien Strahlenschutz“ (2005). Die Industrie lehnte die Forderung von BfS-Präsident Wolfram König nach Studien, die die Naila-Studie überprüfen sollten, ab. Das kritisierte König in einer >>>Rede.[2]
Die Industrie gründete das IZMF (Informationszentrum Mobilfunk) als Propagandazentrale zur Verharmlosung von Risiken mit der Taktik, unliebsame Studienergebnisse anzuzweifeln, und das BfS knickte auf ganzer Linie ein. Bedenken wurden nicht mehr geäußert. Im Gegenteil: Mit dem Deutschen Mobilfunkforschungsprogramm (DMF), gemeinsam von Bundesregierung und Industrie finanziert, wurde ein Alibiprogramm zur Entwarnung aufgelegt. Das Technikportal golem titelte zum DMF-Ergebnis: „Deutsche Mobilfunkstudie: Kein Geld für kritische Forscher? Was Probleme mit Netzbetreibern bringt, wurde nicht berücksichtigt“. Langzeitstudien und Studien zu Kindern wurden nicht durchgeführt, bis heute.[3]
Die Fraktionen der GRÜNEN und LINKEN kritisierten das Ergebnis des DMF und forderten seine Fortsetzung. Die LINKE schrieb:
- „Mobilfunk ist und bleibt gesundheitsgefährdend … „Die Forschung zu den Gesundheitsgefahren der Mobilfunkstrahlung muss weiter gehen und die Grenzwerte müssen gesenkt werden“, so Lutz Heilmann anlässlich des heute vorgestellten Abschlussberichtes des Deutschen Mobilfunkforschungsprogrammes (DMF). Die Beteiligung der Mobilfunkindustrie am Deutschen Mobilfunkforschungsprogramm ist ein Fehler. Hier wurde der Bock zum Gärtner gemacht. Unabhängige Forschungen belegen seit Jahren, dass große Gefahren von der Funktechnik ausgehen.“
Die GRÜNEN forderten in der Bundestagsdrucksache 16/4762 die Fortsetzung des DMF zur Klärung der offenen Fragen. Die Ablehnung dieses Antrags bestätigte den Alibicharakter des DMF. Im Brennpunkt zum 4. Mobilfunkbericht der Bundesregierung (2008) legte diagnose:funk eine Analyse des DMF vor (Download s.u.).
Wir dokumentieren die 3Sat-Sendung und das Interview mit dem damaligen Präsidenten des BfS. Wie heißt es doch richtig: Aus der Geschichte lernen! Zurück in die Zukunft! Wir brauchen wieder eine industrieunabhängige Debatte zu den gesundheitlichen Risiken des Mobilfunks!
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Ein historisches Video von 1995: 3Sat - Wissenschaft im Kreuzverhör-Elektrosmog.
Die Biologin Isabel Wilke vom Katalyse Institut und Dr. Ulrich Warnke (Univ. Saarbrücken) diskutieren mit dem Moderator über die Risiken (ab Min. 22:15). Ab Min.17:30 werden die WLAN-Versuche von Prof. Lebrecht von Klitzing zu den Einwirkungen der Strahlung auf das Gehirn dokumentiert.