Prof. Devra Davis, ehemalige leitende Beraterin des stellvertretenden Ministers für Gesundheit der Regierung Clinton kommentierte in der Zeitschrift The Hill diesen Vorgang:
„In einer schockierenden Kehrtwende hat das Nationale Toxikologie-Programm (NTP) des Nationalen Instituts für Umweltgesundheitswissenschaften in aller Stille bekannt gegeben, dass es die Untersuchung der biologischen oder umweltbezogenen Auswirkungen der Hochfrequenzstrahlung von Mobiltelefonen einstellen wird.“
Stellungnahme von Devra Davis: https://thehill.com/opinion/technology/4437988-why-did-nih-abruptly-halt-research-on-the-harms-of-cell-phone-radiation/
Der Kampf um die Deutungshoheit geht weiter
Auf unserer Homepage haben wir seit 2016 die Auseinandersetzung um Studien, die ein Krebspotential der nicht-ionisierenden Strahlung nachweisen, dokumentiert (s. unten). Die Debatte verschärfte sich, nachdem die IARC der WHO im Jahr 2011 die nicht-ionisierende Strahlung als möglicherweise Krebserregend einstufte. Zu dieser Debatte stehen in unserem >>> Kompass-Studienlage Arbeitspapiere zur Studienlage Krebs und Mobilfunkstrahlung und eine Gesamtinformationen zur Studienlage.
Mit großem Aufwand versuchten seit 2011 die Industrie und die ICNIRP, eine Korrektur der WHO-Eingruppierung zu erreichen. Die Entwarnungskampagne zu 5G, die das ICNIRP-verbandelte Bundesamt für Strahlenschutz zusammen mit der Werbeagentur Scholz & Friends 2020/21 durchführte, hatte keinen durchschlagenden Erfolg. diagnose:funk sezierte deren Verdrehungen der Studienlage in Brennpunkten und Artikelserien. Nun steht wohl eine weitere Entwarnungskampagne an, auf die die Medien wahrscheinlich wieder anspringen werden. Die Vorzeichen sind der Stopp der NTP-Forschung, der Ausschluss kritischer Wissenschaftler als Gutachter und Zeugen durch den US-Supreme Court in den Hirn-Tumor Prozessen und neue Studien zur Elektrohypersensibilität, u.a. von der WHO, die die angebliche Nichtexistenz von EHS nachweisen. Um ihr Produkt reinzuwaschen, ist eine mächtige IT-Lobby am Werk, die nach den Taktiken arbeitet, die der US-Behördenchef David Michaels in seinen Artikeln und Büchern analysierte.
Wichtigste offizielle Stellungnahmen zur Bedeutung der NTP- und Ramazzini-Studien sind die Stellungnahme der Schweizer BERENIS-Gruppe (2018), die Bewertung im TAB-Bericht des Deutschen Bundestages und im TAB-Bericht der EU (STOA-Studie) und der Fachartikel von Ron Melnick vom NTP-Team.
Im Gegensatz dazu versuchten das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) und die ICNIRP in ihren Bewertungen die Ergebnisse beider Studien anzuzweifeln.
- Woher nimmt das BfS die Kompetenz, die NTP-Ergebnisse "besser" beurteilen zu können als die TOP-Experten des NTP und des Peer-Review-Panels?
Auf die Scheinargumente des BfS gingen wir in einem >>> Homepageartikel ein, NTP-Forscher Ron Melnick wies sie in einem >>> Fachartikel zurück. Mit der Funktion von BfS und ICNIRP als Entwarnungs-Firewalls der Industrie gegen unliebsame Ergebnisse setzen sich unsere Brennpunkte zur "Deutungshoheit", "Der Kausalitätsbetrug" (s.u.) und aktuell Peter Hensinger in seinem >>> Artikel in umwelt-medizin-gesellschaft auseinander. BfS und ICNIRP liefern Lehrbeispiele für die Industrietaktik des Anzweifelns, wie sie David Michaels in seinen Artikeln (Doubt is their business) und die EUA in ihren Bänden "Späte Lehren aus frühen Warnungen" beschreiben. Die >>> ARTE-Doku Forschung, Fake und faule Tricks dokumentiert diese Industrietaktiken als gang und gäbe.
Nachdem die Industrie mit der Taktik des Anzweifelns der Ergebnisse dieser Studien scheiterte, wird nun eine Widerlegung mit NTP-light Studien versucht, deren Abschluss für dieses Jahr angekündigt wurde. Das Beratergremium zu diesen Studien liest sich wie das Who´s Who der ICNIRP und der Industrielobbyisten. Mit welchen Tricks sollen sauber gemachte und überprüfte Studien widerlegt werden? Die Risikokommunikatoren und Akzeptanzmanager geben der IARC in dem Artikel "Wie die IARC ihre HF-EMF-Krebsrisiko-Kommunikation verbessern kann" (Wiedemann / Croft 2024) dafür bereits die Ratschläge.
Bürger erleben ein System organisierter Verantwortungslosigkeit
Die Versuche, die bisherigen Ergebnisse der Zusammenhänge zwischen nicht-ionisierender Strahlung und Krebs zu entsorgen, müssen ernst genommen werden. Auch Medien lassen sich dafür instrumentalisieren, wie ein angeblicher Faktencheck im bayerischen Rundfunk zeigt. Er macht gerade das, was im TAB-Bericht des Bundestages und der Stellungnahme des EWSA (Europäischer Wirtschafts- und Sozialauschuss) kritisiert wird. Ausschließlich die industrienahen ICNIRP-Positionen werden dargestellt mit dem Fazit, es gäbe keine Risiken. Der TAB kritisiert, dass andere Wissenschaftler und auch „nichtwirtschaftliche Interessengruppen“ (S. 156) von der Meinungsbildung ausgeschlossen werden, und fordert ihre Einbindung. Peter Hensinger schreibt in seinem umg-Artikel zur Deutungshoheit:
„Mit Anzweifeln, entwarnenden Gegengutachten, um eine Paralyse durch Analyse zu erzeugen und der Gründung von scheinwissenschaftlichen Gremien gingen Staat und Industrie eine unheilvolle Allianz ein.[1]
Der Soziologe Ulrich Beck definiert in seinem Buch „Weltrisikogesellschaft“ (2007) den modernen Staat als „Legitimationsorgan" von Industrieinteressen, in dem die Gefahren für Gesundheit und Umwelt „im Legitimationszirkel von Verwaltung, Politik, Recht und Management normalisiert werden und ins unkontrollierbar Globale wachsen (S. 172).“ Er bringt diese Politik mit dem Begriff "organisierte Unverantwortlichkeit“ (S. 345) auf den Punkt und schreibt:
- „Die Formen von Allianzen, die der neoliberale Staat eingegangen ist, instrumentalisieren den Staat … um die Interessen des Kapitals weltweit zu optimieren und zu legitimieren" (S. 128).
Mit einer solchen Allianz zwischen Staat und Industrie sollen die Interessen der Mobilfunkindustrie mit koordinierten Medienkampagnen abgesichert werden.
"Leitlinien Strahlenschutz" auf Druck der Industrie zurückgezogen
In den 70er Jahren bis Anfang der 2000er Jahre und vor dem neoliberalen Roll-Back gab es noch ein kritisches Potential von Wissenschaftlern in den Behörden, was z.B. in der EUA-Veröffentlichung „Späte Lehren aus frühen Warnungen“[2] und in den 2005 formulierten „Leitlinien Strahlenschutz“ des Bundesamtes für Strahlenschutz zum Ausdruck kam, die das Risikopotential der Strahlung formulierten und staatliche Regulierung einforderten.[3] Auf Druck des Unternehmerverbandes Bitkom wurden die „Leitlinien Strahlenschutz“ zurückgezogen. Im Jahr 2017, bei einem Termin im Bundesamt für Strahlenschutz, übergab diagnose:funk die Leitlinien der damals neuen Präsidentin Dr. Inge Paulini mit der Bitte, das Amt anhand dieser Leitlinien wieder auf eine Schutzpolitik auszurichten. Bis heute gibt es keine neuen Leitlinien. Stattdessen wurden die Entwarnungskapazitäten ausgebaut, sowohl personell durch das Kompetenzzentrum elektromagnetische Felder (KEMF) in Cottbus als auch durch viele Untersuchungen zum Kommunikations- und Akzeptanzmanangement.
Die Pressekampagnen zur Flankierung der Vermarktung der Produkte der Mobilfunkindustrie sind zwar inhaltlich gescheitert, doch sie richten Schaden an. Viele Menschen wollen den Kein-Risiko-Botschaften glauben, denn sie rechtfertigen das eigene Nutzerverhalten. Deshalb wird die Deutungshoheit der Behörden selbst von kritischen Bürgern und Medizinern nicht hinterfragt. Es scheint kognitive Dissonanz vorzuherrschen. Die Medien, selbst im Digitalgeschäft, sind bisher nicht bereit, die Falschmeldungen zu korrigieren. Es ist jetzt Aufgabe von informierten WissenschaftlerInnen, ÄrztInnen und BürgerInnen, den Verbraucherschutz in die Hand und die Politik hartnäckig in die Verantwortung zu nehmen, ganz im Sinne des Soziologen Ulrich Beck:
- „Die drei Säulen der Sicherheit erodieren - der Staat, die Wissenschaft, die Wirtschaft versagen bei der Erzeugung von Sicherheit - und ernennen den "selbstbewussten Bürger" zu ihrem rechtmäßigen Erben“ (ebda S.93).“ "
Quellen
[1] diagnose:funk Brennpunkt (2022): Lobbyzone Berlin-Mitte. Wie die Telekommunikationsindustrie die Politik im Griff hat, https://www.diagnose-funk.org/1788
[2] Europäische Umweltagentur (2004, 2013): Späte Lehren aus frühen Warnungen, Band I&2, Download: https://www.diagnose-funk.org/1039
[3] diagnose:funk (2020):15 Jahre Leitlinien Strahlenschutz: Vom Anspruch zur Anpassung. Über ein verschwundenes Papier des BfS, https://www.diagnose-funk.org/1507
Siehe auch dazu den Brief von diagnose:funk an das BfS (2020): Wann gibt es in Deutschland wieder einen Strahlenschutz?
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Zur Recherche: Dokumentation zu der Auseinandersetzung um die NTP- und Ramazzini-Studien
diagnose:funk analysierte kontinuierlich die Debatte um die NTP- und Ramazzini-Studien, was sich in vielen Homepageartikeln niederschlug. Im Folgenden eine Auswahl der wichtigsten Artikel und zentraler Dokumente zur NTP-Studie.
Artikel im Jahr 2023
Artikel im Jahr 2022
Artikel im Jahr 2021
Artikel im Jahr 2020
Artikel im Jahr 2019
Artikel im Jahr 2018
Artikel im Jahr 2016
- NTP-Studie: 'Sorgfältigst durchgeführte Untersuchung', 10.09.2016
- NTP-Studie: Desinformation durch New York Times, 11.07.2016
- NTP-Studie: Richtigstellungen der Verfälschungen, 11.06.2016
- Mobilfunk-Studie stellt Hirntumore fest, 07.06.2016
- Elektrohypersensitivität und Kanzerogenität, 11.10.2016
- AUVA veröffentlicht den ATHEM-Report II, 06.08.2016
- Zellstress, Fruchtbarkeit und Handystrahlung, 11.07.2016
- NTP-Tierstudie zeigt höheres Krebsrisiko, 07.06.2016
- NTP-Studie bestätigt Krebsrisiko durch Mobilfunk, 07.06.2016
Chronologie der NTP-Studien - zusammengestellt von diagnose:funk 21.03.2019
► Auftrag der FDA an das NTP , https://ntp.niehs.nih.gov/ntp/htdocs/chem_background/exsumpdf/wireless051999_508.pdf, Zwischenbericht (Mai 2016)
► Erster, noch unvollständiger NTP-Bericht über Wirkung von Mobilfunkstrahlung auf Ratten, https://www.biorxiv.org/content/early/2016/05/26/055699.full.pdf+html, Vorläufige Abschlussberichte (Februar 2018)
► TR-595: Wirkung von Mobilfunkstrahlung auf Ratten, https://ntp.niehs.nih.gov/ntp/about_ntp/trpanel/2018/march/tr595peerdraft.pdf
► TR-596: Wirkung von Mobilfunkstrahlung auf Mäuse, https://ntp.niehs.nih.gov/ntp/about_ntp/trpanel/2018/march/tr596peerdraft.pdf
► Technischer Report: https://ntp.niehs.nih.gov/sites/default/files/ntp/htdocs/lt_rpts/tr596_508.pdf
► Peer-Review Prozess: Abgegebene Kommentare zu den vorläufigen Abschlussberichten; https://ntp.niehs.nih.gov/sites/default/files/ntp/about_ntp/trpanel/2018/march/tr595peerdraft.pdf
Peer-Review-Panels - Dokumente der Tagung (26. bis 28. März 2018)
► Tagesordnung der Peer-Review-Panels, https://ntp.niehs.nih.gov/ntp/about_ntp/trpanel/2018/march/agenda_20180328_508.pdf
► Teilnehmer an Panel 1 und Panel 2, https://ntp.niehs.nih.gov/ntp/about_ntp/trpanel/2018/march/roster_20180328_508.pdf
► Den Panel-Teilnehmern gezeigte Präsentationen und vorgetragene Kommentare Externer, https://ntp.niehs.nih.gov/events/panels/tr/2018/03/presentations
► Gesprächsprotokoll der Sitzungen beider Panels (Peer-Review-Report), https://ntp.niehs.nih.gov/ntp/about_ntp/trpanel/2018/march/peerreview20180328_508.pdf
► Videos von allen Sitzungen der Peer-Review-Panels, https://ntp.niehs.nih.gov/events/panels/tr/2018/03/videos/videos
► Ergebnisse der Peer-Review-Panels, https://ntp.niehs.nih.gov/ntp/about_ntp/trpanel/2018/march/actions20180328_508.pdf
Prof. James C. Lin publiziert als Ergebnis der Peer-Review-Panels den Artikel "Clear Evidence of Cell Phone RF Radiation Cancer Risk": https://www.diagnose-funk.org/aktuelles/artikel-archiv/detail&newsid=1304
Prof. James C. Lin (2018):Peer Review Conclusion of Clear Evidence of Cancer Risk from Cell-Phone RF Radiation. https://ieeexplore.ieee.org/stamp/stamp.jsp?arnumber=8486776
Finale Abschlussberichte (November 2018)
► TR-595: Wirkung von Mobilfunkstrahlung auf Ratten, https://ntp.niehs.nih.gov/ntp/htdocs/lt_rpts/tr595_508.pdf
► TR-596: Wirkung von Mobilfunkstrahlung auf Mäuse, https://ntp.niehs.nih.gov/ntp/htdocs/lt_rpts/tr596_508.pdf
► Presse-Information des NTP anlässlich Vorstellung der finalen Abschlussberichte
https://www.niehs.nih.gov/news/newsroom/releases/2018/november1/index.cfm
► Informationsblatt (Zusammenfassung) zu den beiden Studien, https://www.niehs.nih.gov/health/material/cell_phone_radiofrequency_radiation_studies