Herr Dr. Imbesi, die italienische Regierung will die Grenzwerte erhöhen. Welche Grenzwerte galten bisher in Italien?
FRANCESCO IMBESI: In Italien gelten seit dem Jahr 2003 folgende Immissionsgrenzwerte für elektromagnetische Strahlung: 20 V/m als absolute Obergrenze, 6 V/m als Grenzwert für die Exposition über 4 Stunden, sowie wieder 6 V/m als allgemeines Qualitätsziel. Wie von Anfang an beteuert wurde, schützen diese Grenzwerte nur vor akuten gesundheitlichen Schäden. Außerdem ist die Art und Weise der Messung sehr wichtig: während bei der Festlegung oben genannter Grenzwerte ein zeitlicher Auswertungsbereich von 6 Minuten galt, haben darauffolgende Gesetzesänderungen einen zeitlichen Bereich von 24 Stunden vorgegeben: Somit nivellieren sich Spitzenwerte im Laufe des Tages zu einem meist unbedenklichen Gesamtergebnis! Hinzu kommt noch, dass die allermeisten Breitbandmessungen als RMS (Root Mean Square) durchgeführt werden.
Am Ende kriegen wir somit die perfekte Verwässerung einer Mittelung von Durchschnittswerten: laut Gesetz ist alles in Ordnung, der Mensch bekommt allerdings richtige elektromagnetische Ohrfeigen und darf sich aber nicht wehren.
Wie begründet die Regierung die Notwendigkeit der Erhöhung?
FRANCESCO IMBESI: Wissenschaftler und Aktivisten sind sich darüber einig, dass keine ernstzunehmenden Argumentationen von der Regierung angeführt werden: die Rede ist von einer „Angleichung an europäische Standardwerte“, sowie von einer „Anpassung angesichts wissenschaftlicher Forschungsergebnisse“. Zitiert wird außerdem der private Verein namens ICNIRP, dem bislang in Italien kein offizieller Status zuerkannt wurde. Im bekannten Appellationsurteil von Turin (2019), wo ein Kausalzusammenhang zwischen Handynutzung und Entwicklung eines Neurinoms festgestellt wurde, wird sogar ausdrücklich von den Gerichtssachverständigen davor gewarnt, wissenschaftliche Statements wie die von ICNIRP aufgrund offensichtlicher Interessenskonflikte ernstzunehmen.
Gibt es in der Politik Stimmen, die keine Grenzwerterhöhung wollen?
FRANCESCO IMBESI: Die politischen Reaktionen zeugen bisher nur von den Bestrebungen der Regierungsparteien, die amtierende Regierung zu unterstützen. Eine richtige Auseinandersetzung mit dem Thema fand bisher nicht statt. Allein die Grünen nahmen gegen die Erhöhung Stellung, diese wird als unnötig und kontraproduktiv bezeichnet. Die Medien zitieren einzelne politische Positionen, viel mehr jedoch die Stellungnahmen von Umweltverbänden und die Aussendungen der Vereinigung der Mobilfunkbetreiber. Interessant scheint mir die Tatsache, dass dem Appell der Wissenschaftler* gegen die Erhöhung (Text siehe unten) ziemlich viel Platz eingeräumt wird – teilweise aber begleitet von Kommentaren, die die dort zitierten Studien als „Fake“ bezeichnen.
Wie reagierten die Bürgerinitiativen und die vielen kritischen Wissenschaftler, die es in Italien gibt? Wie geht es nun weiter?
FRANCESCO IMBESI: Bei der Ministerkonferenz, die die Maßnahme einer Erhöhung planmässig verabschieden sollte, ist erstaunlicherweise der entsprechdende Passus vom Omnibus-Dekret verschwunden (Anm.: als Omnibus-Dekret wird ein Beschluss über sehr viele Themen bezeichnet, wie es üblicherweise vor den Sommerferien platziert wird). Wie das Ganze genau gelaufen sein soll, etwa infolge Interventionen von hohen Beamten eines Ministeriums, darüber wird momentan nur spekuliert. Es gibt auch keinen weiteren Antrag z.B. für den Herbst. Es ist natürlich zunächst eine Erleichterung festzustellen, nachdem ein Versuch der Erhöhung von Grenzwerten schon das sechste Mal in Italien seit deren Verabschiedung im Jahr 2003 stattfindet.
Man vermutet allerdings, dass der große wirtschaftliche Druck angesichts einer Implementierung von 5G weiterhin zu Versuchen dieser Art führen wird. Die kritischen Stimmen haben sich zu einem Netzwerk zusammengeschlossen und werden gemeinsam Information und Aktionen unterstützen, um vor allem für die Bevölkerung einen Zugang zum als schwer empfundenen Thema der elektromagnetischen Belastung zu verschaffen. Man ist sich allgemein bewußt, dass nur informierte Bürger zu einem Wandel in der Politik beitragen werden.
Lieber Herr Imbesi, danke für das Interview und weiterhin viel Erfolg bei der Abwehr der Versuche zur Grenzwerterhöhung.
Das Interview führte Peter Hensinger, Vorstandsmitglied diagnose:funk.
* Der Appell wurde von 52 Wissenschaftlern unterschrieben, mit Angabe ihrer wissenschaftlichen Arbeiten. Unterzeichner siehe >>> im italienischen Original, >>> in der deutschen Übersetzung.
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