Italien: Erneuter Anlauf der Regierung zur Grenzwerterhöhung nach Protesten ausgesetzt

52 Wissenschaftler forderten Rücknahme der Gesetzesvorlage
Die italienische Regierung wollte am 7.8.2023 die Grenzwerte für nicht-ionisierende Strahlung erhöhen. Dagegen formierte sich sofort Protest, angeführt von italienischen Wissenschaftlern, die auf dem Gebiet der Strahlung forschen. Zu den Ereignissen und Hintergründen führten wir ein Interview mit Dr. Francesco Imbesi von der Verbraucherzentrale Südtirol und dokumentieren den Appell der Wissenschaftler. Italien hat wesentliche niedrigere Grenzwerte als Deutschland und orientiert sich bisher nicht an den ICNIRP-Richtlinien.
Dr. Francesco Imbesi, Verbraucherzentrale Südtirol, Bild:Privat

Herr Dr. Imbesi, die italienische Regierung will die Grenzwerte erhöhen. Welche Grenzwerte galten bisher in Italien?

FRANCESCO IMBESI: In Italien gelten seit dem Jahr 2003 folgende Immissionsgrenzwerte für elektromagnetische Strahlung: 20 V/m als absolute Obergrenze, 6 V/m als Grenzwert für die Exposition über 4 Stunden, sowie wieder 6 V/m als allgemeines Qualitätsziel. Wie von Anfang an beteuert wurde, schützen diese Grenzwerte nur vor akuten gesundheitlichen Schäden. Außerdem ist die Art und Weise der Messung sehr wichtig: während bei der Festlegung oben genannter Grenzwerte ein zeitlicher Auswertungsbereich von 6 Minuten galt, haben darauffolgende Gesetzesänderungen einen zeitlichen Bereich von 24 Stunden vorgegeben: Somit nivellieren sich Spitzenwerte im Laufe des Tages zu einem meist unbedenklichen Gesamtergebnis! Hinzu kommt noch, dass die allermeisten Breitbandmessungen als RMS (Root Mean Square) durchgeführt werden.

Am Ende kriegen wir somit die perfekte Verwässerung einer Mittelung von Durchschnittswerten: laut Gesetz ist alles in Ordnung, der Mensch bekommt allerdings richtige elektromagnetische Ohrfeigen und darf sich aber nicht wehren.   

Wie begründet die Regierung die Notwendigkeit der Erhöhung?

FRANCESCO IMBESI: Wissenschaftler und Aktivisten sind sich darüber einig, dass keine ernstzunehmenden Argumentationen von der Regierung angeführt werden: die Rede ist von einer „Angleichung an europäische Standardwerte“, sowie von einer „Anpassung angesichts wissenschaftlicher Forschungsergebnisse“. Zitiert wird außerdem der private Verein namens ICNIRP, dem bislang in Italien kein offizieller Status zuerkannt wurde. Im bekannten Appellationsurteil von Turin (2019), wo ein Kausalzusammenhang zwischen Handynutzung und Entwicklung eines Neurinoms festgestellt wurde, wird sogar ausdrücklich von den Gerichtssachverständigen davor gewarnt, wissenschaftliche Statements wie die von ICNIRP aufgrund offensichtlicher Interessenskonflikte ernstzunehmen.  

Gibt es in der Politik Stimmen, die keine Grenzwerterhöhung wollen?

FRANCESCO IMBESI: Die politischen Reaktionen zeugen bisher nur von den Bestrebungen der Regierungsparteien, die amtierende Regierung zu unterstützen. Eine richtige Auseinandersetzung mit dem Thema fand bisher nicht statt. Allein die Grünen nahmen gegen die Erhöhung Stellung, diese wird als unnötig und kontraproduktiv bezeichnet. Die Medien zitieren einzelne politische Positionen, viel mehr jedoch die Stellungnahmen von Umweltverbänden und die Aussendungen der Vereinigung der Mobilfunkbetreiber. Interessant scheint mir die Tatsache, dass dem Appell der Wissenschaftler* gegen die Erhöhung (Text siehe unten) ziemlich viel Platz eingeräumt wird – teilweise aber begleitet von Kommentaren, die die dort zitierten Studien als „Fake“ bezeichnen.

Wie reagierten die Bürgerinitiativen und die vielen kritischen Wissenschaftler, die es in Italien gibt? Wie geht es nun weiter?

FRANCESCO IMBESI: Bei der Ministerkonferenz, die die Maßnahme einer Erhöhung planmässig verabschieden sollte, ist erstaunlicherweise der entsprechdende Passus vom Omnibus-Dekret verschwunden (Anm.: als Omnibus-Dekret wird ein Beschluss über sehr viele Themen bezeichnet, wie es üblicherweise vor den Sommerferien platziert wird). Wie das Ganze genau gelaufen sein soll, etwa infolge Interventionen von hohen Beamten eines Ministeriums, darüber wird momentan nur spekuliert. Es gibt auch keinen weiteren Antrag z.B. für den Herbst. Es ist natürlich zunächst eine Erleichterung festzustellen, nachdem ein Versuch der Erhöhung von Grenzwerten schon das sechste Mal in Italien seit deren Verabschiedung im Jahr 2003 stattfindet.

Man vermutet allerdings, dass der große wirtschaftliche Druck angesichts einer Implementierung von 5G weiterhin zu Versuchen dieser Art führen wird. Die kritischen Stimmen haben sich zu einem Netzwerk zusammengeschlossen und werden gemeinsam Information und Aktionen unterstützen, um vor allem für die Bevölkerung einen Zugang zum als schwer empfundenen Thema der elektromagnetischen Belastung zu verschaffen. Man ist sich allgemein bewußt, dass nur informierte Bürger zu einem Wandel in der Politik beitragen werden.  

Lieber Herr Imbesi, danke für das Interview und weiterhin viel Erfolg bei der Abwehr der Versuche zur Grenzwerterhöhung.  

Das Interview führte Peter Hensinger, Vorstandsmitglied diagnose:funk.

* Der Appell wurde von 52 Wissenschaftlern unterschrieben, mit Angabe ihrer wissenschaftlichen Arbeiten. Unterzeichner siehe >>> im italienischen Original, >>> in der deutschen Übersetzung.

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Flagge Italien

Appell italienischer Wissenschaftler für elektromagnetische Sicherheit

An die italienische Regierung, das Parlament, die Regionen und autonomen Provinzen (August 2023).

 



Wir, die unterzeichnenden Biologen, Physiker, Chemiker und Mediziner forschen seit Jahrzehnten über die biologischen Wirkungen elektromagnetischer Felder und haben nie Gelder der Telekommunikationsindustrie in Anspruch genommen, was beweist, dass wir immer ausschließlich im Interesse der öffentlichen Gesundheit gearbeitet haben.

Die Nachricht, dass die Regierung erwägt, den Grenzwert für Orte, an denen sich Menschen länger als vier Stunden aufhalten, vom aktuellen Wert von 6 V/m zu erhöhen, gibt Anlass zu großer Sorge.

Unsere Studien und die internationale Forschung im Allgemeinen haben seit mindestens zwei Jahrzehnten hinreichend bewiesen, dass Hochfrequenzexpositionen, selbst unterhalb der geltenden ICNIRP/OMS-Sicherheitsstandards, gesundheitliche Schäden verursachen und das Wohlbefinden der Bevölkerung verringern.

Wissenschaftlergruppen wie ICEMS und BioInitiative sowie der Europarat (Empfehlung Nr. 1815 von 2011) haben die sofortige Senkung der Expositionsgrenzwerte für die Bevölkerung auf 0,6 V/m gefordert, um die öffentliche Gesundheit und insbesondere die Sicherheit gefährdeter Personen wie Kinder, Schwangere, chronisch Kranke, Krebspatienten und Elektrosensible zu gewährleisten.

Mobilfunkstrahlung wird mit verschiedenen gesundheitlichen Problemen in Verbindung gebracht, darunter:

  • Krebs (Mobilfunkstrahlung wurde 2011 von der IARC als "möglicherweise krebserregend für den Menschen" eingestuft, aber nachfolgende Studien kamen zu dem Schluss, dass Mobilfunkstrahlung in die Parameter der Klasse 2A[1], d.h. "wahrscheinlich krebserregend", und der Klasse 1, d.h. "krebserregend"[2], fällt)
  • neurodegenerative Krankheiten, wie Alzheimer;
  • Unfruchtbarkeit bei Männern und Frauen;
  • erhöhter oxidativer Stress (in Verbindung mit zahlreichen chronischen Krankheiten);
  • Verhaltensänderungen bei Kindern von Müttern, die während der Schwangerschaft Mobiltelefone benutzt haben;
  • Störungen des Immunsystems;
  • Veränderungen des Insulinstoffwechsels;
  • erhöhte zerebrale Permeabilität und Veränderungen des Hirnstoffwechsels.

Wir zahlen bereits die sozialen und gesundheitlichen Kosten für die Freisetzung von künstlicher Hochfrequenzstrahlung in die Umwelt, an die das Leben nicht ganz angepasst ist. Eine weitere Erhöhung der Exposition der Bevölkerung gegenüber Hochfrequenzstrahlung ist weder ethisch akzeptabel noch wirtschaftlich tragbar.

Vielmehr sind Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Umwelt erforderlich.[3] Nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und Pflanzen werden durch chronische Hochfrequenzexposition beeinträchtigt, wobei insbesondere Vogel-, Amphibien- und Bienenpopulationen[4] [5] [6] erheblich geschädigt werden.

In einem kürzlich erschienenen Artikel von Professor James Lin im "IEEE Microwave Magazine" vom 3. Juni 2023, der Zeitschrift des renommiertesten internationalen Ingenieurverbandes, wird festgestellt, dass die ICNIRP-Leitlinien schwerwiegende Einschränkungen aufweisen:

  • sie schützen nur vor akuten thermischen Wirkungen bei hoher Intensität und kurzer Expositionsdauer (30 Minuten);
  • sie sind nicht auf Langzeitexpositionen mit geringer Intensität anwendbar, wie sie im Alltag tatsächlich vorkommen;
  • sie beruhen auf veralteten Informationen;
  • sie schützen nicht vor der Strahlung der 5G-Technologie, die starke Polarisationseigenschaften aufweist, die sich deutlich von denen früherer Mobilfunkgenerationen unterscheiden, wofür weitere Studien erforderlich wären.

Die ICNIRP-Richtlinien sind daher nicht geeignet, die menschliche Gesundheit zu schützen, und sollten entsprechend den neuesten Veröffentlichungen auf diesem Gebiet aktualisiert werden.

Die italienische Gesetzgebung (Gesetz 36/2001) sieht glücklicherweise vorsorglichere Grenzwerte vor, da die damaligen Entscheidungsträger zwei grundlegende und unverzichtbare Prinzipien berücksichtigt haben:

- das Vorsorgeprinzip, das ursprünglich mit der Erklärung von Rio de Janeiro 1992 im internationalen Umweltrecht verankert wurde;

- das ALARA-Prinzip (As Low As Reasonably Achievable - so niedrig wie vernünftigerweise erreichbar), d. h. das niedrigste Niveau, das vernünftigerweise erreicht werden kann, ohne die technologische Entwicklung zu beeinträchtigen.

Aus diesen Gründen beantragen wir, die Unterzeichnenden:

1. den Höchstwert von 20 V/m zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung vor den akuten Auswirkungen der Strahlung beizubehalten;

2. den Grenzwert von 6 V/m beizubehalten, der in der geltenden Gesetzgebung festgelegt ist (Dekret des Premierministers vom 8. Juli 2003);

3. den vorgenannten Wert im Durchschnitt von 6 Minuten zu messen, was eine genaue biologische Begründung hat (es handelt sich um die Zeit, die die Zellen benötigen, um die durch das elektromagnetische Feld erzeugte Wärme abzuführen), wie im Dekret des Premierministers vom 8.07.2003 vorgesehen, d.h. es wird beantragt, Artikel 14, Absatz 8 Buchstabe d) des Gesetzesdekrets 179/2012 aufzuheben, der die Messung im 24-Stunden-Zeitintervall festlegt, was völlig willkürlich ist und keinen anderen Grund hat, als die Messwerte zu verwässern;

4. das Qualitätsziel auf 0,6 V/m zu senken;

5. die Verabschiedung eines Gesetzes über Interessenkonflikte, um Experten, die als wissenschaftliche Berater im öffentlichen Bereich tätig sind, zu verpflichten, die Finanzierungsquellen ihrer Forschung, ihre Beteiligungen an Unternehmen aus der Branche und ihre Beratertätigkeiten, die mit dem öffentlichen Interesse in Konflikt stehen, öffentlich bekannt zu geben.

Wir stehen weiterhin für ein Gespräch und für weitere Erläuterungen und Unterlagen zur Verfügung.

Der Appell wurde von 52 Wissenschaftlern unterschrieben, mit Angabe ihrer wissenschaftlichen Arbeiten. Unterzeichner siehe >>> im italienischen Original, >>> in der deutschen Übersetzung.

Quellen

[1] Morgan LL, Miller AB, Sasco A, Davis DL. Mobile phone radiation causes brain tumors and should be classified as a probable human carcinogen (2A) (review). Int J Oncol. 2015 May;46(5):1865-71. doi: 10.3892/ijo.2015.2908. Epub 2015 Feb 25. PMID: 25738972. 

[2] Hardell L, Carlberg M. Mobile phone and cordless phone use and the risk for glioma - Analysis of pooled case-control studies in Sweden, 1997-2003 and 2007-2009. Pathophysiology. 2015 Mar;22(1):1-13. doi: 10.1016/j.pathophys.2014.10.001. Epub 2014 Oct 29. PMID: 25466607.  

[3] Huss J., Luxembourg, Socialist Group. "The potential dangers of electromagnetic fields and their effect on the environment",Report to the Committee on the Environment, Agriculture and Local and Regional Affairs Doc. 12608. 6 May 2011 (Rapporto del consigliere Jean Huss che ha portato alla Risoluzione 1815 dell'Assemblea Plenaria del Consiglio d'Europa del 27 maggio 2011). 

[4] Kimmel, S., J. Kuhn, W. Harst et al. Influences on Honeybees (Apis mellifera). Electromagnetic Radiation, (2007).

[5] Sainudeen P. Electromagnetic radiation (EMR) clashes with honeybees. Journal of Entomology and Nematology Vol. 4(1), pp. 1-3, January, 2012.

[6] Làzaro A et al. Electromagnetic radiation of mobile telecommunication antennas affects the abundance and composition of wild pollinators. J Insect Conserv, Received: 9 October 2015 / Accepted: 17 April 2016, Springer International Publishing Switzerland 2016.

Publikation zum Thema

diagnose:funk
Format: A4Seitenanzahl: 36 Veröffentlicht am: 01.02.2023 Bestellnr.: 249Sprache: DeutschHerausgeber: diagnose:funk

ICBE-EMF: Die Zeit ist reif für neue Grenzwerte

Die neu gegründete Grenzwertkommission weist die Unwissenschaftlichkeit der geltenden ICNIRP-Grenzwerte für Mobilfunkstrahlung nach
Autor:
ICBE-EMF / diagnose:funk
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Dieser Brennpunkt publiziert die Übersetzung der Studie der internationalen Grenzwertkommission ICBE-EMF (International Commission on the Biological Effects of EMF) „Wissenschaftliche Erkenntnisse entkräften gesundheitliche Annahmen, die den FCC (Federal Communication Commission, USA) und ICNIRP-Grenzwertbestimmungen für Hochfrequenzstrahlung zugrunde liegen: Folgen für 5G“ (2022). Darin fordert die ICBE-EMF die Rücknahme und Neufestlegung der Grenzwerte für die Exposition gegenüber hochfrequenter Funkstrahlung (HF). Die Rücknahme der Grenzwerte ist notwendig, denn ihre Festlegung beruht auf falschen Annahmen. Das Ziel neuer Grenzwerte wäre die Festlegung von Standards zum Gesundheitsschutz für Arbeitnehmer, die Öffentlichkeit und die Natur.
Artikel veröffentlicht:
12.08.2023
Autor:
diagnose:funk / VZ Südtirol
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