Mediennutzung und Entwicklungsstörungen hängen zusammen
Kindergehirne sind keine kleinen Erwachsenengehirne. Kindergehirne haben eine lange Reifungsphase, die erst etwa mit dem 18.-20. Lebensjahr abgeschlossen ist. Innerhalb dieser Zeit wird die strukturelle und funktionale Entwicklung stark durch die sogenannte dopaminerge mesolimbokortikale Bahn beeinflusst, die eine wichtige Rolle bei der Aktivierung des Belohnungssystems spielt. Die Aktivierung des Belohnungssystems entfacht ein starkes Glücksgefühl, ausgelöst durch einen körpereigenen chemischen Cocktail im Gehirn. Durch die sehr einfache belohnungsfördernde Art der Nutzung digitaler Medien wird in frühester Kindheit ein reduziertes Repertoire an sensorischen, motorischen, visuellen, auditiven und kinästhetischen Erfahrungen eingeübt. Reale Sinneseindrücke und Bewegungsmuster wirken fremd. Fein- und grobmotorische Bewegungsmuster (z.B. Handschrift, Sprache, Schwimmen, Fahrradfahren usw.) sind defizitär. Kinderärzte schlagen Alarm, denn sie erleben täglich eine ganze Reihe weiterer Krankheitssymptome, die mit übermäßigem Medienkonsum einhergehen: Lernentwicklungsstörungen, Sehschwächen (Kurzsichtigkeit), Körperfehlstellungen (z.B. „Handynacken“) und Übergewicht.
- Wird ein überwiegender Teil der Informationen im sich entwickelnden Gehirn auf diese Art und Weise aufgenommen, erlahmt die Reifung des Gehirns. Ein digitaler Kaspar Hauser entsteht. Wissenschaftler bezeichnen dieses Phänomen als „Notreife“ [2].
Das Belohnungs-Defizit-Syndrom
Diese Notreifung kann als das Belohnungsdefizit- Syndrom (Reward deficiency syndrome (RDS), [3] betrachtet werden, deren Ursache in einer neurochemischen Dysbalance des Belohnungssystems liegt. Heute wissen wir, dass exzessive Aktivitäten die Entstehung eines Glücksgefühls aktivieren, das zu einem "immer mehr“ führt. Ähnlich wie bei einer stoffgebundenen Sucht kann das Gehirn durch digitale Selbststimulation in die physische und psychische Abhängigkeit gelangen. Der am 01. Januar 2022 in Kraft tretende ICD-11-Katalog listet daher zum ersten Mal in seiner Geschichte die Computerspielsucht (Gaming disorder) als eigenständige und behandlungsbedürftige Erkrankung auf und definiert sie als anhaltendes oder wiederkehrendes Spielverhalten in Bezug auf Videospiele, die sowohl online als auch offline gespielt werden können.
Die Dreierregel der Media-Live-Balance
Die kompetente Nutzung digitaler Medien und der Umgang mit entsprechenden Risiken ist eine der zentralen Aufgaben für jede Altersgruppe. Eine einfache Formel für eine gesundheitsschonende Nutzung digitaler Medien lautet hierzu: (1) begrenzte Bildschirmzeit, (2) ausreichend Schlaf (sieben bis acht Stunden täglich, Kinder entsprechend mehr), (3) reichlich Bewegung (60 min täglich).
Bildschirmzeit begrenzen und Medienfasten
Neben technischen Hilfen wie Timing-Apps, WLAN-Abschaltung oder Gerätetimern können einfache Verhaltensänderungen den Medienkonsum begrenzen: Beim Medienfasten werden digitale Endgeräte wie Smartphone oder Tablet nur zu einer eng begrenzten Tageszeit eingeschaltet, z.B. von 15 bis 16 Uhr. Auch ist es möglich, medienfreie Tage in der Woche einzuführen. Vor jedem Urlaub sollte geprüft werden, ob das Smartphone und Tablet mit ins Gepäck soll. Mahlzeiten sind grundsätzlich ohne digitale Medien einzunehmen. Auch Social-Media-Accounts sollten regelmäßig auf ihre Notwendigkeit und Aktualität hin überprüft werden. Es sollte mehr Raum und Zeit für medienfreie Begegnungen, Sportangebote, soziales Engagement, Bewegung und Empathie eingeplant werden [4].
Online-Anlaufstelle Mediensucht:
In vielen Orten Deutschlands gibt es mittlerweile Computersuchthilfen. Unter www.computersuchthilfe.info erhalten Betroffene und deren Angehörige Informationen und Hilfestellungen rund um die Themen Online-, Gaming und Social-Media-Sucht.
Literatur:
(1) DAK 2021, https://www.dak.de/dak/bundesthemen/mediensucht-steigt-in-corona-pandemiestark-an-2508248.html#/
(2) Teuchert-Noodt, 2016, Ein Bauherr beginnt auch nicht mit dem Dach - Die digitale Revolution verbaut unseren Kindern die Zukunft, umwelt · medizin · gesellschaft | 29 | 4/2016
(3) Kenneth Blum et al., 2000
(4) Grafen K: Volkskrankheit Mediensucht. DHZ–Deutsche Heilpraktiker Zeitschrift, 2018; 8: 36–41.36 DHZ, PRAXIS.
(5) Gertraud Teuchert-Noodt, Peter Hensinger und Klaus Scheidsteger (Drehbuchautoren), DVD: Aufwach(s)en im Umgang mit digitalen Medien, Was Eltern und Erzieher wissen sollten: Ein Film, der zeigt, wie der frühe Gebrauch digitaler Medien die Gehirnentwicklung beeinflusst, 2021