TAB III: Technikfolgenbericht zur Wirkung von Funkstrahlung auf Kinder

TAB des Bundestages dokumentiert Studien zur besonderen Verletzlichkeit von Kindern
Am 14.02.2023 veröffentlicht der Bundestag die Vorabfassung der Bundestagsdrucksache 20/5646: „Technikfolgenabschätzung (TA) - Mögliche gesundheitliche Auswirkungen verschiedener Frequenzbereich elektromagnetischer Felder (HF-EMF)“. Er enthält ein Kapitel zu Forschungslage zu den Auswirkungen der Mobilfunkstrahlung auf Kinder. Die Bundesregierung hat sich damit auf eine Einschätzung zu den Risiken der Mobilfunktechnologie festgelegt. Deshalb hat der Bericht eine große Bedeutung.
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Die besondere Verletzlichkeit von Kindern

 

Der TAB behandelt die Studienlage zu Kindern und schreibt: „Zahlreiche Publikationen (…) stützen die Annahmen aus dem Stewart-Report [siehe auch Publikationen am Seitenende], dass Kinder aufgrund ihrer Anatomie und Physiologie im Vergleich zu Erwachsenen stärker exponiert sind. Morris et al. (2015) zufolge müssen Kinder grundsätzlich für empfindlicher als Erwachsene angesehen werden, da sie sich im Wachstum befinden, und auch nach Ansicht der WHO (2003) deswegen entsprechend gesondert betrachtet werden müssen.“ (S. 121)

Natürlich treffen die allgemeinen Studienergebnisse zu Krebs, Fertilität und oxidativem Zellstress auch auf Kinder zu. Bereits 2019 schrieben Kundi / Hutter (Med. Uni Wien) in einem Überblicksartikel:

  • „Wenn es aber langfristige Effekte gibt, dann kommt es zu ganz anderen Fragestellungen. Und in einem solchen Fall müssen Kinder gesondert betrachtet werden. Das hat mehrere Gründe: Erstens haben Kinder, wenn sie exponiert sind, eine größere Chance, im Laufe des Lebens die Schwelle für eine toxische Wirkung zu überschreiten. Zweitens ist oft ein in Entwicklung befindlicher Organismus besonders vulnerabel, und drittens ist es denkbar, dass bei gleichen äußeren Bedingungen die interne Exposition im kindlichen Organismus von der des Erwachsenen abweicht.“

Als Ursachen der besonderen Sensibilität von Kindern führen Kundi / Hutter an:

  • Im Schädelknochen befindet sich bei Kindern und Jugendlichen noch rotes Knochenmark, eine Schädigung hämatopoetischer Stammzellen ist daher nicht ausgeschlossen
  • Die Ohrmuschel ist etwa 5 % und die Kopfhaut sowie der Schädelknochen sind etwa 70 % dünner als im Erwachsenenalter, weswegen die Antenne näher an den Kopfeingeweiden liegt als bei Erwachsenen
  • Die Ausbildung der Nervenscheiden (Myelinisierung) ist noch nicht abgeschlossen und das Gewebe unterliegt einer starken Entwicklungsdynamik. Solche Gewebe sind gewöhnlich gegenüber externen Einflüssen empfindlicher.“

Kundi / Hutter mahnen nach Auswertung der Studienlage an: „Speziell was die Kindergesundheit betrifft, ist es längst an der Zeit, die Erkenntnisse und Hinweise der Wissenschaft ernst zu nehmen und entsprechend zu handeln. Angesichts ihrer noch in Entwicklung befindlichen Physiologie, der noch lange vor sich liegenden Lebenszeit sowie der Verhaltensprägung im Kindesalter ist dringend Umsicht und Vorsicht geboten.“[1]

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Download des TAB-Berichtes:

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TAB: Signifikante Symptome bei Kindern

Der TAB bestätigt diese Einschätzung. Es werden Studien aufgeführt, die signifikante Wirkungen wie Kopfschmerzen, Verhaltensstörungen, vermindertes figurales Gedächtnis u.a. aufweisen. Ihnen wird teilweise eine „hohe Studienqualität“ bescheinigt:

  • In der iranischen Querschnittsstudie (Mortazavi et al. 2011) mit 452 Kindern und Jugendlichen im Alter von 6 bis16 Jahren wurden bei längerer Nutzungsdauer eines Mobiltelefons Beschwerden (z.B. Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, Herzrasen, Müdigkeit, Konzentrationsprobleme, Nervosität) gefunden.“ (S. 129)

>>> Die Hyperlinks führen zu detaillierten Studienbesprechungen auf den Datenbanken EMF-Portal und EMFData.

Ähnliche signifikante Befunde hätten die Studien (S. 129-131) von Redmayne et al. (2013), Chiu et al. (2015), Huss et al. (2015), Zheng et al. (2015), Durusoy et al.(2017), Sudan et al. (2018), Abramson et al.(2009), Schoeni et al. (2015), Foerster et al. (2018) aufgezeigt.

Auf den Seiten 133-134  werden Studien zu Verhaltensstörungen und ADHS dokumentiert: Birks et al. (2017), Divan et al.(2008), Sudan et al. (2016), Byun et al. (2013), Thomas et al. (2010b).

Zur frühkindlichen Entwicklung werden ab S. 134 die Studien mit negativen Wirkungen genannt, u.a. von Choi et al. (2017), Sudan et al. (2013).

Das Ergebnis z.B. der Studie von Choi et al. ist für die Wechselwirkung verschiedener Umweltgifte, denen Kinder v.a. in Städten ausgesetzt sind, interessant:

  • Choi et al. (2017) untersuchten bei knapp 1.200 Mutter-Kind-Paaren aus der koreanischen MOCEH-Kohorte die kognitive und psychomotorische Entwicklung der Kleinkinder in Verbindung mit der HF-EMF-Exposition und der Mobiltelefonnutzung der Mütter während der Schwangerschaft. Zusätzlich wurde der Bleigehalt im Blut der Mutter während der Schwangerschaft bestimmt, da frühere Studien (z.B. Jedrychowski et al. 2009; Liu et al. 2014; Vigeh et al. 2014) eine verzögerte Entwicklung des Gehirns von Kindern mit pränataler Blei-Exposition aufzeigten.“

Die Studie fand zwar keine Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der pränatalen HF-EMF-Exposition durch die Mobiltelefonnutzung der Mutter und der Entwicklung des Gehirns bei ihren Kindern in den ersten drei Lebensjahren, aber ein Effekt mit Signifikanz wurde nachgewiesen:

  • „Jedoch wurden Hinweise auf eine mögliche Wechselwirkung zwischen der pränatalen Exposition bei Blei und der Mobiltelefonnutzung gefunden. D. h. bei Müttern, die während der Schwangerschaft sowohl einen höheren Bleigehalt im Blut hatten als auch länger das Mobiltelefon nutzten, hatten die Kinder ein höheres Risiko für eine verzögerte psychomotorische Entwicklung. Eine ähnliche Wechselwirkung zwischen dem Bleigehalt im Blut und einer Mobiltelefonnutzung der Kinder wurde auch von Byun et al. (2013) im Zusammenhang mit ADHS gefunden (Kap. 5.1.2.3). Die Studienqualität von Choi et al. (2017) wurde als hoch eingestuft.“ (S. 135)

Der TAB fasst die Studienlage so zusammen:

  • „In insgesamt 17 Studien fanden sich Hinweise auf verschiedene Wirkungen. In den epidemiologischen Studien wurden am häufigsten Auffälligkeiten im Verhalten beschrieben, insbesondere bei Kindern, die selbst telefonierten oder die während der Schwangerschaft in utero exponiert waren. Darüber hinaus gaben Kinder und Jugendliche gesundheitliche Beschwerden (Kopfschmerzen, Müdigkeit etc.) an, wenn sie mit dem Handy telefonierten. Ebenso wurden Wirkungen auf die Kognition bei Jugendlichen gefunden. In den experimentellen Studien gab es einzelne Hinweise auf Veränderungen der Hirnaktivität, des Hautwiderstands und eine Beeinträchtigung der kognitiven Leistungsfähigkeit." (S. 14, 148)

Allein diese Studien wären Anlass, eine Aufklärungs- und Vorsorgepolitik einzuleiten, die bereits fällig ist, wenn ein „Grund zur Besorgnis“ (Grunwald) vorhanden ist (s. dazu Anm.).[2] Wieder verhindert der TAB solche Schlussfolgerungen. Entscheidungsträger werden sich fragen, wie mit diesen doch besorgniserregenden Ergebnissen umzugehen ist, wenn sie im TAB postwendend relativiert werden:

  • „Obwohl sich etliche Autor/innen und Behörden mit einem möglicherweise erhöhten Risiko für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Kontext von Mobilfunk und seinen Anwendungen beschäftigt haben, ist die wissenschaftliche Evidenz, ob EMF von Funktechnologien tatsächlich eine besondere Gefahr für Kinder und Jugendliche darstellen, bislang unklar.“ (S. 13)

Diese relativierende Gesamteinschätzung steht im deutlichen Gegensatz zu den signifikanten Studienergebnissen, die der TAB aufführt. Wieder wird eine Paralyse durch Analyse herbeigeführt, die für verunsicherte Entscheidungsträger in Politik und Gesundheitswesen ein, vielleicht auch willkommenes, Nichthandeln rechtfertigt.

TAB setzt die Verhinderung einer Schutzpolitik für Kinder fort

Die Forschungslage zu Auswirkungen auf Kinder wird in der Tradition des Deutschen Mobilfunkforschungsprogramms (DMF, 2008) im TAB-Bericht heruntergespielt. Es spricht zunächst für den damaligen Bundesumweltminister Jürgen Trittin (1998-2005) und das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), dass Studien erwogen wurden, die klären sollten „ob Kinder hinsichtlich der Exposition gegenüber hochfrequenten elektromagnetischen Feldern möglicherweise ein höheres gesundheitliches Risiko tragen als Erwachsene“.[3] Eine 64-seitige Machbarkeitsstudie wurde im März 2005 von angesehenen Institutionen und Forschern dem BfS vorgelegt. Sie ging von einem Gefährdungspotential aus.

Was in der Machbarkeitsstudie als dringendes Forschungsprojekt empfohlen wird, entschärfte dann postwendend die Strahlenschutzkommission (SSK). Schon gut eineinhalb Jahre nach der Machbarkeitsstudie verabschiedet die SSK am 5./6. Dezember 2006 die 33-seitige Stellungnahme „Mobilfunk und Kinder“. Sie beantwortet die Fragen, die in und für diese Machbarkeitsstudie gestellt wurden, allerdings ohne diese Studien durchgeführt zu haben. Die SSK findet keinen Anlass für Beunruhigungen: Vieles sei in Bezug auf Kinder zwar ungeklärt, aber Anlass zur Beunruhigung bestehe nicht.[4] So schreibt die SSK: „Für jüngere Kinder liegen bisher keine Studien vor.“ „Studien speziell zu Kindern existieren nicht.“ Auf dieser Grundlage des Nichtwissens und Nicht-Wissen-Wollens wurde Entwarnung gegeben. Nicht-Wissen wird als Wissen ausgegeben. Das DMF sparte danach die Frage der Kinder und der Langzeitwirkungen komplett aus. Der TAB-Bericht ist auf andere Weise manipulativ. Er dokumentiert die Studienlage, aber relativiert die inzwischen vorliegenden Erkenntnisse über Wirkungen auf Kinder. Politik wird so handlungsunfähig gemacht. Das kritisierte der Soziologe Ulrich Beck:

  • „Die herrschenden Definitionsverhältnisse weisen den Technik- und Naturwissenschaften eine Monopolstellung zu: Sie (und zwar der Mainstream, nicht Gegenexperten und Alternativwissenschaftler) entscheiden ohne Beteiligung der Öffentlichkeit, was angesichts drohender Unsicherheiten und Gefahren tolerierbar ist und was nicht.“ („Weltrisikogesellschaft“ (2007, S.70, 73)

Der Leiter des TAB-Büros im Bundestag Prof. Armin Grunwald schreibt deshalb:

  • "Die Abwehr einer technokratischen Herrschaft der Experten und das Beharren auf einem demokratischen Gestaltungsanspruch im Umgang mit dem wissenschaftlich technischen Fortschritt und in der Nutzung seiner Produkte gehören seit den 1970er Jahren zum Programm der Technikfolgenabschätzung." (Technikfolgenabschätzung, S. 57)

Diesen Anspruch erfüllt dieser TAB zum Mobilfunk nicht.

Quellen

[1] Michael Kundi, Hans-Peter Hutter (2019): Die Gefahrenbeurteilung der Exposition von Kindern gegenüber elektrischen, magnetischen und elektromagnetischen Feldern. Umwelt und Gesundheit – wie sind die Perspektiven? umwelt-medizin-gesellschaft 3/2019, S.14-20

[2] „Das Vorsorgeprinzip ist dadurch motiviert, dass der übliche Weg der Gefahrenabwehr erst dann greift, wenn die Gefahr real ist - und dann ist es bei gravierenden und langfristigen Technikfolgen oft zu spät, noch schweren Schaden zu vermeiden. Demgegenüber eröffnet das Vorsorgeprinzip einen Raum politischen Handelns schon bevor eine eindeutige Evidenz über das Risiko besteht. Allerdings reicht ein bloßer Verdacht nicht aus. Es muss ein berechtigter Grund zur Besorgnis über mögliche nachteilige Wirkungen vorliegen.“ aus: Armin Grunwald: Technikfolgenabschätzung, 2022, S. 57/58

[3] Schmid, Gernot et al. (2005): Forschungsvorhaben - Machbarkeitsstudie zur Untersuchung altersabhängiger Wirkungen hochfrequenter elektromagnetischer Felder auf der Basis relevanter biophysikalischer und biologischer Parameter, Bundesamt für Strahlenschutz, 2005

[4] SSK (2006): „Mobilfunk und Kinder": „Die bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen belegen zwar eine tendenziell höhere Absorption in Kinderköpfen, die Unterschiede zu Erwachsenen nehmen jedoch bereits nach den ersten Lebensjahren stark ab und sind bei 5-Jährigen bereits kleiner als die interpersonellen Variationen. Für jüngere Kinder liegen bisher keine Studien vor. 2. Die wenigen bisherigen Untersuchungen an Kindern ab 5 Jahren ergeben keine belastbaren Hinweise auf eine erhöhte Empfindlichkeit des Organismus von Kindern und Jugendlichen. 3. Die gegenwärtige epidemiologische Literatur enthält keine belastbaren Daten, mit denen sich Gesundheitsschädigungen durch langzeitige Einwirkungen von Mobilfunkfeldern belegen ließen. Studien speziell zu Kindern existieren nicht. 4. In Bezug auf mögliche Einflüsse auf die körperliche oder geistige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen durch Mobilfunkfelder liegen bisher keine wissenschaftlichen Untersuchungen vor. Eine Beeinflussung kognitiver Funktionen ist weder bei Erwachsenen noch bei Kindern belegt.“ (S. 6)

Publikation zum Thema

Stewart-Report:
Format: A4Seitenanzahl: 167 Veröffentlicht am: 28.04.2000 Sprache: EnglischHerausgeber: Independent Expert Group on Mobile Phones

Stewart-Report: "Mobile Phones and Health"

Mobiltelefone und Gesundheit
Autor:
William Stewart
Inhalt:
Im Auftrag der britischen Regierung wurde im Jahr 1999 eine unabhängige Expertengruppe, die 'Independent Expert Group on Mobile Phones' gebildet. In ihrem auch als 'Stewart-Report' bekannt gewordenen Bericht wurde erstmalig in einem weiteren Kontext davon gesprochen, dass Kinder möglicherweise hinsichtlich der Auswirkungen der Strahlungsabsorption als sensibler als Erwachsene angesehen werden müssen. Als Gründe dafür werden die Entwicklung des Nervensystems, möglicherweise höhere Absorption zufolge ungünstigerer Gewebeeigenschaften und Körperabmessungen bzw. Körperproportionen (im Verhältnis zur Wellenlänge der Strahlung) und die längere Lebenszeit-Exposition angegeben. Die IEGMP empfahl im Sinne eines Vorsorgeprinzips, dass unnötige Telefonate mit Mobiltelefonen von Kindern vermieden werden sollten, so lange die oben angesprochenen Bedenken durch fundierte wissenschaftliche Ergebnisse nicht zerstreut werden können. Schließlich richtete die Expertengruppe die Empfehlung an die Industrie die gezielte Bewerbung der Mobiltelefonbenutzung durch Kinder zu unterlassen.
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