Krebs durch Mobiltelefon. Italienisches Berufungsgericht anerkennt den Zusammenhang und verurteilt die Versicherung zur Zahlung einer Rente an den Arbeitnehmer

Interview mit Dr. Imbesi von der Verbraucherzentrale Südtirol
Das Appellationsgericht Turin anerkannte, dass der Gehirntumor eines Arbeitnehmers, der arbeitsbedingt mit dem Handy telefonierte, kausal damit zusammenhängt. Er bekam eine Berufskrankeitsrente zuerkannt, die die INAIL (Gesamtstaatliche Anstalt für Versicherungen gegen Arbeitsunfälle) zahlen muss. Zu den Details des Urteils befragten wir Dr. Francesco Imbesi von der Verbraucherzentrale Südtirol.
Das Gericht in Italien bestätigte den Zusammenhang von Gehirntumoren und KrebsAppellationsgericht Turin, Wikipedia

diagnose:funk: Herr Dr. Imbesi, Sie haben nun den Urteilstext erhalten und können uns fundiert über dieses Urteil Auskunft geben, das international von Bedeutung ist. Besonders uns in Deutschland lässt dies aufhorchen, weil hier in Deutschland mit dem Hinweis auf Einhaltung der Grenzwerte Klagen schon gar nicht angenommen werden.  

Francesco Imbesi: Das Grenzwertargument kann eigentlich nicht vorgeschoben werden, ein Gericht muss ergebnisoffen überprüfen, woher ein Tumor kommen kann, bzw. ob weitere Ursachen als Auslöser desselben angesehen werden können. Außerdem gelten die italienischen Grenzwerte ausschließlich für feste Anlagen, nicht für mobile Geräte wie Handys. Wir wissen auch, dass der von der EU übernommene Industriestandard von 2 W/Kg SAR-Wert nicht immer eingehalten wird, wie Untersuchungen in Frankreich belegen konnten (>>> s. Dr. Marc Arazi, Aktion PhoneGate). Das Berufungsgericht Turin hatte die Aufgabe, das erstinstanzliche Urteil von Aosta aus dem Jahre 2020 zu überprüfen, nachdem das Institut INAIL dagegen Berufung eingelegt hatte. Die Richter in Turin haben Dr. Roberto Albera, Professor für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde an der Universität Turin zum Gerichtssachverständigen ernannt. Prof. Albera ist in medizinwissenschaftlichen Kreisen als Autor von 400 Veröffentlichungen bekannt; ausserdem praktizierte er als Chirurg bei mehr als 10.000 medizinischen Eingriffen.

diagnose:funk: Wie ist es dann zur Rechtssprechung gekommen?

Francesco Imbesi: Die Berufungsrichter haben alle Schritte des Landgerichts Aosta überprüft: vor allem die Aussagen der Sachverständigen beider Parteien, sowie die zahlreichen Zeugenaussagen durch Kollegen des Betroffenen. Prof. Albera hat alle Elemente genauestens analysiert und eine eigene detaillierte Patientengeschichte daraus abgeleitet.

diagnose:funk: Was urteilte das Gericht?

Francesco Imbesi: Das Richterkollegium befand das Vorgehen im erstinstanzlichen Prozess als korrekt. Die Argumente, welche ein Rechtsexperte im Auftrag des INAIL vorstellte, wurden als nicht relevant eingestuft.  Der Kläger, der jetzt 63 Jahre alt ist, ein ehemaliger Arbeitnehmer bei Cogne Acciai Speciali (Aosta, Norditalien), litt bereits unter Taubheit am rechten Ohr infolge eines Arbeitsunfalls und trug dort seither ein Cochlea-Implantat. Deshalb telefonierte er zwischen 1995 und 2008 immer nur am linken Ohr, für mehr als insgesamt 10.000 Stunden, im Durchschnitt 2½ Stunden pro Tag mit einem Handy der 1. Generation (1G, TACS). Daraufhin bekam er ein Vestibularschwannom, d.h. ein Tumor des 8. Hirnnervs.

Die Folgen: Taubheit links, Cochlea-Implantat links, Parese des Gesichtsnervs, Gleichgewichtsstörung und depressives Syndrom, und bleibende biologische Schäden. Die Verurteilung des INAIL auf Zahlung einer Berufskrankheitsrente von rund 350 Euro monatlich wurde bestätigt und bekräftigt. 

diagnose:funk: Gab es eine Beweisführung, dass der Tumor auf die Handystrahlung zurückzuführen ist?

Francesco Imbesi: Ja, das Urteil ist das Ergebnis einer sehr akkuraten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Forschungslage. Das Gericht beschäftigte sich intensiv damit, wobei im Laufe des Prozesses auch das Thema Interessenskonflikt und Qualität der sich gegenüberstehenden Studien zu diesem Thema eingehend behandelt wurde. In einem vorherigen Verfahren wurden schon einmal ICNIRP-Vertreter nicht als Experten wegen ihrer Industrienähe zugelassen. Diesen Ausschluss hatte damals das Berufungsgericht Turin vollzogen, im Fall Roberto Romeo, einem ehemaligen Angestellten der Telecom Italia, und ihm eine Entschädigung für die lange Exposition gegenüber den vom Mobiltelefon ausgestrahlten Frequenzen zuerkannt. Auch diesmal wurden industrienahe Studien, wie die Interphone-Studie, von der Bewertung ausgeschlossen.

Die Anwälte Stefano Bertone, Chiara Gribaudo und Jacopo Giunta von der renommierten Turiner Kanzlei Ambrosio & Commodo konnten gute Argumente für den Kausalzusammenhang zwischen der längeren Nutzung von Mobiltelefonen aus beruflichen Gründen und der festgestellten Krankheit nachweisen und erhielten ein doppeltes positives Urteil, zunächst vom Gericht in Aosta und nun endgültig vom Berufungsgericht. Sie führten die Ergebnisse der NTP- und Ramazzini-Studien an, und die Expertisen der Gruppe um den schwedischen Onkologen Lennart Hardell. Dem folgte das Richterkollegium und sah "mit qualifiziert hoher Wahrscheinlichkeit" einen kausalen Zusammenhang, auch in Ermangelung anderer möglicher kausaler Faktoren.

Verbraucherzentrale Südtirol

Ministerien müssen über Risiken aufklären

 

diagnose:funk: Herr Imbesi, liegen wir richtig? Vor einiger Zeit wurden italienische Ministerien verurteilt, die Bevölkerung über Risiken aktiv aufzuklären. Was folgte daraus? Können Sie uns dazu Näheres sagen?

Francesco Imbesi: Die Versteigerung der Mobilfunkfrequenzen, also eines Allgemeingutes, war bis zur Zeit von 5G durch rechtliche Bestimmungen mit der Pflicht einer eingehenden Information der Bevölkerung über Risiken der Mobilfunktechnologien gekoppelt. Die hierfür zuständigen Ministerien (Umwelt-, Gesundheits- und Bildungsministerium) hatten jedoch in der Tat kaum etwas an Information geleistet und wurden schließlich von einem Bürgerkomitee aus Padua angezeigt (Geklagt hatte die Vereinigung A.P.P.L.E. Elettrosmog).

Die Verwaltungsrichter haben nach zähen Verhandlungen 2019 diese drei Ministerien wegen unterlassener Aufklärung für schuldig befunden. Anstatt mit Informationskampagnen endich zu starten, haben solche Ministerien aber dieses Urteil vor der höheren Instanz angefochten – vielleicht um weiter Zeit zu gewinnen, nachdem solche Prozesse in Italien immer auf die lange Bank geschoben werden. Die höhere Instanz (der Italienische Staatsrat) hat dagegen erstaunlicherweise sehr rasch reagiert und noch im selben Jahr die Verurteilung aus der ersten Instanz bestätigt. Aber nicht nur: das Berufungskollegium hat die Ministerien dazu verurteilt, die auferlegte Aufklärung unmißverständlich auf unabhängige Weise durchzuführen, d.h. ohne Interessenskonflikte!

Smartphone-Verbot an italienischen Schulen

diagnose:funk: Und jetzt haben wir gelesen, dass an italienischen Schulen Smartphones verboten werden, mit welcher Begründung?

Francesco Imbesi: Der aktuelle Bildungsminister, Giuseppe Valditara, hat ein Rundschreiben seiner Vorgänger aktualisiert und damit die allgemeine Nutzung von Smartphones im Unterricht auf die rein anerkannte didaktische Anwendung beschränkt. Als Gründe werden hier der Respekt der Jugendlichen gegenüber den Lehrpersonen, aber auch der Respekt der Jugendlichen für sich selbst und für ihre menschliche Würde angeführt. Die Lehrer dürfen darüber befinden, wann und wie lange im Unterricht eine solche Nutzung möglich sein wird. Ich finde allerdings am Ganzen sehr wichtig, dass der Minister zusammen mit dem Rundschreiben eine Anlage an alle Schuldirektionen geschickt hat: dabei geht es um eine einvernehmliche Stellungnahme des Senats der Republik infolge einer Anhörung von Experten. Ohne das Thema Elektrosmog anzugehen, werden hier sämtliche kognitiven und verhaltenstypischen Auswirkungen der Handynutzung durch Jugendliche analysiert. Als Schlußfolgerung steht eine eindeutige Warnung, bzw. ein Aufruf, die Jugend vor den Gefahren der digitalen Demenz zu schützen, die durch die uneingeschränkte Nutzung mobiler Medien offensichtlich entstehen.

diagnose:funk: Lieber Herr Imbesi, herzlichen Dank für das Interview und Ihre unermüdliche Arbeit mit der Verbraucherzentrale Südtirol.

Das Interview führte Peter Hensinger von diagnose:funk am 12.01.2023

Publikation zum Thema

Format: A4Seitenanzahl: 24 Veröffentlicht am: 15.05.2017 Bestellnr.: 234Sprache: DeutschHerausgeber: diagnose:funk

Handystrahlung und Gehirntumore

Stand der Forschung
Autor:
diagnose:funk / Übersetzung der Studie von Michael Carlberg und Lennart Hardell
Inhalt:
"Hochfrequente Strahlung sollte als ein Karzinogen eingestuft werden, das beim Menschen Gliome hervorrufen kann. (...) Die derzeit gültigen Richtlinien zur Exposition gegenüber hochfrequenter Strahlung müssen überarbeitet werden" (Carlberg / Hardell). Übersetzung des Reviews zum Stand der Forschung über Krebsrisiken der nicht-ionisierenden Strahlung des Mobilfunks, verfasst von den schwedischen Wissenschaftlern Michael Carlberg und Prof. Lennart Hardell: "Evaluation of Mobile Phone and Cordless Phone Use and Glioma Risk Using the Bradford Hill Viewpoints from 1965 on Association or Causation".
Format: A4Seitenanzahl: 8 Veröffentlicht am: 23.04.2017 Sprache: DeutschHerausgeber: diagnose:funk

Der Stand der Forschung zu Krebs promovierenden und initiierenden Wirkungen der Mobilfunkstrahlung

Zu den wissenschaftlichen Hintergründen des Handy-Urteils in Italien vom 30.03.2017
Autor:
diagnose:funk, Peter Hensinger
Inhalt:
Internationale Medien berichteten am 21.04.2017 unter der Schlagzeile "Tumor durch Handy als Berufskrankheit anerkannt" über ein Urteil vom 30.03.2017 des italienischen Arbeitsgerichtes der Stadt Ivrea. diagnose:funk legt zu diesem Urteil eine Analyse zum Stand der Forschung zu 'Mobilfunkstrahlung und Krebs' vor.
diagnose:funk
Format: A4Seitenanzahl: 24 Veröffentlicht am: 14.09.2018 Bestellnr.: 236Sprache: DeutschHerausgeber: diagnose:funk

Die Ergebnisse der NTP-Studie und die Gesamtstudienlage

Mobilfunkstrahlung und Krebs
Autor:
L. Hardell, M. Carlberg und L. Hedendahl
Inhalt:
Im Frühjahr 2018 wurden die Gesamtergebnisse der NTP-Studie veröf-fentlicht. Sie weist nach, dass die nicht-ionisie-rende Strahlung des Mobilfunks Krebs erzeugen kann. Die Studie wurde im National Toxicology Program des National Institute of Environmental Health Sciences (NIEHS) der Regierung der USA durchgeführt, mit einem Etat von 25 Millionen Dollar. Ihr wird uneingeschränkt bescheinigt, dass sie höchste wissenschaftliche Standards erfüllt. Die Arbeitsgruppe des Onkologen Prof. Lennart Hardell (Schweden) hat eine umfassende Interpretation der NTP-Studie vorgelegt, in der die Ergebnisse in Zusammenhang mit epidemiologischen und medizinischen-biologischen Studien gestellt werden (Hardell et al. 2018). diagnose:Funk legt mit diesem Brennpunkt eine Übersetzung dieser Arbeit vor.
Format: A4, 8 SeitenVeröffentlicht am: 17.01.2020 Bestellnr.: 238Sprache: DeutschHerausgeber: diagnose:funk

Professor James C. Lin: Die NTP-Studie weist das Krebspotential der Mobilfunkstrahlung nach.

diagnose:funk Brennpunkt
Autor:
Prof. James C. Lin / diagnose:funk
Inhalt:
Prof. James C. Lin (University of Illinois) nimmt in dem Artikel "Die Bedeutung von Primärtumoren in der NTP-Studie zur Langzeitexposition von Ratten gegenüber Mobilfunkstrahlung" (2019) zu den Ergebnissen der NTP-Studie (USA) und der Ramazzini-Studie (Italien) Stellung. Beide Studien untersuchten, ob Mobilfunkstrahlung Krebs auslösen kann. Prof. James C. Lin war lange führendes Mitglied der ICNIRP und ist ein weltweit angesehener Experte. Er gehörte dem Peer-Review-Panel der NTP-Studie an. Die NTP- und die Ramazzini-Studie haben eine Krebs auslösende Wirkung der nicht-ionisierenden Strahlung des Mobilfunks nachgewiesen. Lin weist mit diesem Artikel ausdrücklich die Versuche zurück, die Bedeutung dieser Studienergebnisse herunterzuspielen.
Artikel veröffentlicht:
13.01.2023
Autor:
diagnose:funk
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