UK Million Women-Studie (II): Für Langzeitnutzerinnen erhöhtes Tumorrisiko

Brisante Daten werden in der Berichterstattung unterschlagen
Es ging wie ein Lauffeuer durch nahezu alle deutschen Medien: die UK Million Women Studie (Schüz et al. 2022) habe bewiesen, von der Handynutzung gehe kein Gehirntumorrisiko aus. Diese Botschaft ist falsch. Die Daten der Studie zeigen eine klare Tendenz zu einem erhöhten Gehirntumorrisiko. Dieses Ergebnis wird in der Presse unterschlagen. Cui Bono? In diesem Teil II analysieren wir die Daten zur Langzeitnutzung in der Studie.
Sind sie einem Krebsrisiko ausgesetzt? Darüber geht die wissenschaftliche Debatte.Foto:freepik.com /7089990

Ein erhöhtes Gehirntumorrisiko durch Handynutzung haben Viel- und Langzeitnutzer, das ist der Stand der Wissenschaft, nicht jedoch Wenignutzer. Die Entwarnung „Kein Gehirntumorrisiko!“ in der Interpretation in dutzenden Presseberichten[1] zur UK Million Women Studie beruht aber auf den Daten von Wenignutzern, das haben wir im Teil I unserer Kritik nachgewiesen. Mit diesem offensichtlich umsatzfördernden Bluff wird von einem brisanten Teilergebnis der Studie abgelenkt: den Daten zu Langzeitnutzerinnen. Sie zeigen eine klare Tendenz zu einem erhöhten Gehirntumorrisiko. 

Es ist eine folgenschwere Verschleierung der Ergebnisse der UK Million Women Studie, dass die Ergebnisse für Langzeitnutzerinnen im Studientext nicht in aller Ausführlichkeit auftauchen, sondern in einem Link versteckt sind, der zu einer Online-Tabelle[2] führt. Aus unserer Tabelle 1 (s.u. Auszug) wird ersichtlich, dass sich bei dieser Gruppe das Gehirntumorrisiko seit 2001 ständig vergrößert (Original-Tabelle 2 aus der Studie siehe Ende des Textes).

Tabellen: diagnose:funk

In den Tabellen wird für die Langzeitnutzung „10+ years“ ein erhöhtes Glioblastomrisiko dokumentiert, das zwar nicht statistisch signifikant ist (da das Confidence-Intervall die 1 enthält), aber im Vergleich zu den Daten von 2001 äußerst bemerkenswert ist. Es zeigt sich, dass alle Werte für Langzeitnutzerinnen aus dem Jahr 2011 (rechts) im Vergleich zur ersten Auswertung 2001 angestiegen sind und alle RR-Werte (Relative Risk) über 1 liegen. Was bedeutet das?

  • 1. Ein Wert von RR > 1 bedeutet, dass bei exponierten Personen eine Erkrankung häufiger (mit höherer Wahrscheinlichkeit) vorkommt als bei nicht exponierten Personen. Ein Wert von 1.27 bedeutet, dass Langzeitnutzerinnen ein um 27% erhöhtes Risiko gegenüber Nichtnutzerinnen haben, ein Glioblastom zu entwickeln. Konkret: Wenn bei Nichtnutzerinnen zwischen 55 und 59 Jahren das Risiko für ein Glioblastom bei ca. 5 von 100.000 liegt, also von 1 Million Nichtnutzerinnen 50 ein Glioblastom entwickeln, dann sind es bei 1 Million Vielnutzerinnen 1.27 x 50 = 63,5 (fiktives Rechenbeispiel) (nach Miller et al. (2021): Brain and Other Central Nervous System Tumor Statistics, S.391). Hier muss man bedenken, dass sich bei Milliarden Smartponenutzern schon ein scheinbar kleiner Anstieg in 10.000enden Erkrankungsfällen weltweit auswirkt.
  • 2. Heutige Vielnutzer absorbieren etwa so viel Strahlung wie ein mäßiger Nutzer der ersten zwei Generationen. (Vgl. S. 2 der UK Studie: „Yet, the more recent generations of wireless technologies emit substantially lower output power, so that on balance a very heavy user of today is unlikely to accumulate the same RF-EMF exposure as a modest user of the first 2 wireless generations“). Das heißt, dass die heutigen 10 + years – Nutzerinnen noch nicht einmal so viel Strahlung absorbiert haben, wie 10+ years – Nutzerinnen von 2001, aber dennoch ein bereits höheres (!) Risiko für Glioblastome haben als 2001.

Das heißt, der Anstieg des Risikos für Glioblastome ist äußerst ernst zu nehmen, statistische Signifikanz für dieses Risiko dürfte sich nach weiteren Nutzungsjahren deutlich zeigen.

Dies bestätigen auch die Ergebnisse der Hardell-Studien: Hardell fordert als Schlussfolgerung des erhöhten Risikos für Viel- und Langzeitnutzer die Eingruppierung in krebserregend.

Ähnliche Ergebnisse ergeben sich bei den Akustikusneurinomen von Langzeitnutzern:Die Studie von Benson et al. (2013) (Tabelle S. 797), [3] die auch die Million Women Study weiter ausgewertet haben, zeigt deutlich, dass das Risiko für Akustikusneurinome sogar statistisch signifikant angestiegen ist (denn das Confidence-Intervall enthält nicht die 1, sondern liegt vollständig darüber) (s.o. Tabelle 2)! Über dieses Studienergebnis wurde ausführlich in FOCUS berichtet.

Wenn das "Fehlen" bzw. Übersehen von entsprechenden Daten in der Schüz-Studie von den Medien als Entwarnung ausgegeben wird und auch andere Studien hierzu bereits klare Ergebnisse liefern, ist dies unprofessioneller Journalismus und unverantwortlich.

Heutiger Normalzustand: Viel- und Langzeitnutzer

Niemand behauptet, jeder Handynutzer bekomme einen Hirntumor. Diesem Risiko sind nach dem Stand der Wissenschaft Lang- und Vielzeitnutzer ausgesetzt, deren Anzahl allerdings seit dem Beginn des Smartphone-Zeitalters zugenommen hat. Die Untergruppe der Langzeitnutzerinnen, die bei der Schüz-Studie zwar nur 3% aller Nutzerinnen beträgt (S. 5), aber dennoch einige aussagekräftige Hinweise hätte liefern können, wird in der UK Million Women Studie nicht separat analysiert und bewertet, sondern nur nebenbei kurz abgehandelt (S. 6 und Figure 4, S. 7) und im Detail hinter einem Link versteckt. Die Gruppe der Viel- und Langzeitnutzerinnen nahm aber seit der Einführung des Smartphones explosionsartig zu. Rund 94,2 Prozent der 14- bis 19-jährigen Personen in Deutschland besitzen im Jahr 2021 ein Smartphone. In der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen sind es 95,5 Prozent, bei den 30- bis 39-Jährigen 96 Prozent.[4] So nutzen Schweizer Jugendliche das Smartphone im Durchschnitt 5,3 Stunden täglich,[5] manche nutzen das Smartphone rund um die Uhr, selbst beim Schlafen liegt es eingeschaltet neben dem Bett. Die Entwarnungen der Schüz-Studie beruhen ausschließlich auf den Ergebnissen von Wenignutzerinnen, was heute fern der Wirklichkeit ist! Wie daraus eine Entwarnung formuliert werden kann, kann aus den Lobbyinteressen im Hintergrund erklärt werden. Aber warum die gesamte Presse diese Meldungen ohne eigene Analyse kritiklos übernimmt, konnte uns bis jetzt niemand beantworten.

Die UK Million Women Studie bestätigt den Stand der Wissenschaft: Mobilfunkstrahlung kann zu Gehirntumoren führen. Die STOA-Studie (2022), herausgegeben vom Technikfolgenausschuss des EU-Parlaments, gibt einen Überblick über die Forschungslage mit eben diesem Ergebnis.

Sie können etwas tun:

Weisen Sie Ihre regionale Presse, die sicher auch diese dpa-Meldung übernommen hat, auf diese Falschmeldung und die wirklichen Ergebnisse der UK Million Women Studie hin:

  • Die Entwarnungsbotschaften sind falsch, weil sie auf Wenignutzern beruhen, die Daten der UK Million Women Studie zu Langzeitnutzerinnen weisen aber auf ein erhöhtes Tumorrisiko hin!

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Quellen

[1] Unkritische Berichte in Wissenschafts- und Medizinportalen (Auswahl):

https://dgn.org/presse/pressemitteilungen/kein-hirntumorrisiko-durch-handystrahlung/

https://www.heilpraxisnet.de/naturheilpraxis/mobiltelefone-kein-erhoehtes-hirntumorrisiko-durch-handynutzung-20220531560857/

https://www.gelbe-liste.de/neurologie/handystrahlung-erhoeht-hirntumorrisiko-nicht

https://science.orf.at/stories/3213403/

https://www.forschung-und-wissen.de/nachrichten/medizin/handystrahlung-beeinflusst-krebsrisiko-nicht-13376303

https://idw-online.de/de/news794693

https://www.gesundheitsstadt-berlin.de/handy-und-hirntumor-studienlage-zeigt-kein-erhoehtes-risiko-16119/

https://www.scinexx.de/news/medizin/handystrahlung-kein-erhoehtes-krebsrisiko/

https://www.medwiss.de/2022/06/02/kein-hirntumorrisiko-durch-handystrahlung/

https://science.apa.at/power-search/13109445727381344499

https://www.pharmazeutische-zeitung.de/langzeit-studie-soll-weitere-erkenntnisse-bringen-133506/

Podcast Deutschlandradio mit Prof. Peter Berlit, Deutsche Gesellschaft für Neurologie

Das Forum der Mobilfunkindustrie IZMF interviewt Prof. Peter Berlit, Generalsekretär Deutsche Gesellschaft für Neurologie

Unkritische Berichte in Print- und TV-Medien (Auswahl):

https://www.zeit.de/zustimmung?url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fnews%2F2022-06%2F01%2Fhandynutzung-erhoeht-nicht-das-risiko-von-hirntumoren

https://www.badische-zeitung.de/handy-macht-keine-tumoren--213531095.html

https://www.mdr.de/wissen/mensch-alltag/handy-nutzung-risiko-hirntumore-100.html

https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit-handynutzung-erhoeht-nicht-das-risiko-von-hirntumoren-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220601-99-505733

https://www.derstandard.de/story/2000136207004/handynutzung-erhoeht-nicht-das-risiko-von-hirntumoren

https://www.rnd.de/wissen/hirnturmor-durch-handynutzung-studie-zeigt-keinen-zusammenhang-64LUPM3D4M2KSSRU4GZSHTA5GQ.html

https://www.mdrjump.de/thema/handy-nutzung-tumor-strahlung-gefaehrlich-hirntumor-studie-gesundheit-wissenschaft-100.html

https://www.donaukurier.de/ratgeber/gesundheit-erholung/handynutzung-erhoeht-nicht-das-risiko-von-hirntumoren-6335647

[2] https://kurzelinks.de/kwne, https://academic.oup.com/jnci/article/114/5/704/6554484#supplementary-data

[3]  http://www.millionwomenstudy.org/publications/365/mobile-phone-use-and-risk-of-brain-neoplasms-and-other-cancers-prospective-study und
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/23657200/

[4] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/459963/umfrage/anteil-der-smartphone-nutzer-in-deutschland-nach-altersgruppe/

[5] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1208336/umfrage/handynutzungszeit-im-tagesablauf-von-jugendlichen-in-der-schweiz/

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Tabellen im Supplementary der UK Million Women Studie

Original-Tabellen Schüz et al. 2022diagnose:funk
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