Der üble Geruch der Wahrheit. Die Korruption der wissenschaftlichen Literatur geht weiter
Louis Slesin / Microwave News, 20.Juli 2022
Meine Frau und ich verbrachten Anfang des Monats ein paar Tage in Basel, Schweiz. Wir kamen wegen der vielen außergewöhnlichen Museen, und sie haben uns nicht enttäuscht. Als wir eines Nachmittags durch die Stadt spazierten, nicht weit von dem Komplex entfernt, in dem die Art Basel, die jährliche Messe für zeitgenössische Kunst, stattfindet, entdeckte ich eine sorgfältig gestaltete Warnung an der Seite eines ansonsten unscheinbaren Gebäudes in der Drahtzugstraße. "Der üble Geruch der Wahrheit", hieß es dort.
Mit ein wenig Googeln fand ich heraus, dass dieser Spruch Titel einer Ausstellung war, die im Frühjahr 2017 am Royal College of Art in London stattfand. Die Ausstellung wurde von Peter Kennard, einem bekannten britischen politischen Künstler, und seinen Studenten organisiert. Sie nannten sich "Rage Collective". Sie wollten wissen, was es bedeutet, in einer Welt der falschen Nachrichten und der Fehlinformationen in den sozialen Medien die Wahrheit zu sagen.
Zufälligerweise erhielt ich ein paar Tage später, als ich auf dem Heimweg nach New York war, eine E-Mail von Peter Hensinger, dem wissenschaftlichen Leiter von Diagnose Funk, einer deutsch-schweizerischen Umwelt- und Verbraucherschutzorganisation. Sie brachte mich direkt zu den Worten in der Drahtzugstraße zurück.
Hensinger schickte mir einen Kommentar, den er kürzlich veröffentlicht hatte und in dem er Martin Röösli, einen außerordentlichen Professor für Umweltepidemiologie an der Universität Basel, scharf kritisiert.
Letztes Jahr war Röösli der Hauptautor eines Berichts für Ärzte zur Gesundheit und über den Stand der RF-Wissenschaft und darüber, was von der neuesten Generation der drahtlosen Technologie, bekannt als 5G, erwartet werden könnte. Die Botschaft lautet, dass es keinen Grund zur Sorge gibt. "Nach heutigem Kenntnisstand", so Röösli, "stellt 5G kein Gesundheitsrisiko dar." Das Open-Access-Papier ist auf Deutsch, mit einer Zusammenfassung auf Englisch.
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"Rööslis Papier ist voll von irreführenden Halbwahrheiten", sagte Hensinger gegenüber Microwave News. "Es erinnert mich an die Arbeit von David Michaels", sagte er und bezog sich dabei auf den Autor von „Doubt Is Their Product: How Industry's Assault on Science Affects Your Health". "Röösli produziert Unsicherheit." Michaels, ein amerikanischer Epidemiologe, war unter Präsident Obama Chef der OSHA (Occupational Safety and Health Administration).
Ein prominentes Mitglied der RF-Wissenschafts-Community
Nur wenige Personen sind in den Kreisen der RF/Mikrowellen-Politik so einflussreich wie Röösli. Er ist Vollmitglied der Internationalen Kommission zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung (ICNIRP), und zwar seit 2016. Er ist Mitglied in einer Reihe von Ausschüssen, unter anderem in denen, die die deutsche, schwedische und schweizerische Regierung beraten. So leitet er die Schweizer Gruppe BERENIS, die für das Bundesamt für Umwelt (BAFU) regelmäßig über neue Forschungsergebnisse berichtet. Er ist Mitglied mehrerer Redaktionsausschüsse wissenschaftlicher Fachzeitschriften, darunter Bioelectromagnetics und International Journal of Environmental Research and Public Health (IJERPH).
Niemand würde bezweifeln, dass Röösli über alle Facetten der RF-Gesundheitsforschung gut informiert ist. Er weiß, was in der Literatur steht. Sein Einfluss besteht darin, zu entscheiden, was wichtig ist und was nicht. Wie Hensinger in seiner siebenseitigen Dekonstruktion von Rööslis Übersichtsarbeit zeigt, werden von ihm unangenehme Befunde oft verdrängt.
Hensinger weist zum Beispiel darauf hin, dass Röösli die 30 Millionen Dollar teure Tierstudie des amerikanischen NTP nicht erwähnt, die gezeigt hat, dass HF-Strahlung zu Krebs führt. Ebenso ignoriert er die Studie des Ramazzini-Instituts, die bemerkenswerterweise eine Zunahme desselben seltenen Tumors - Schwannom des Herzens - feststellte, wie es das NTP getan hatte.
Dass Röösli die NTP- und Ramazzini-Studien ignoriert, ist umso bemerkenswerter, als die Schweizer Beratergruppe BERENIS, die er damals leitete, im November 2018 eine Sonderausgabe veröffentlichte, in der diese Studien bewertet wurden. Darin schrieb das Gremium, dass diese beiden Tierstudien "die bisher umfassendsten" seien und trotz ihrer methodischen Unterschiede "relativ konsistente Ergebnisse" zeigten. Basierend auf diesen Ergebnissen forderte BERENIS einen vorsorglichen Ansatz (Vorsorgepolitik, Anm. d:f) für HF/EMF-Expositionen.
Röösli verschweigt seinen Lesern auch, dass die IARC HF-Strahlung als mögliches Karzinogen für den Menschen eingestuft hat und dass HF auf der Prioritätenliste für eine Neubewertung steht. Eine mögliche Höherstufung wird im Lichte der Veröffentlichung der NTP- und Ramazzini-Ergebnisse in Betracht gezogen.
Falsche Darstellung einer Fruchtbarkeitsstudie
Hensinger kritisiert insbesondere die Art und Weise, wie Röösli die Auswirkungen von RF auf die Spermienqualität und Fruchtbarkeit herunterspielt. Hier ist, was Röösli schrieb:
- „Bis vor Kurzem gab es keine qualitativ genügende epidemiologische Studie zum Einfluss der Mobilfunkstrahlung auf die Spermienqualität, obwohl das Thema öffentlich kontrovers diskutiert wird. In einer kürzlich veröffentlichten prospektiven Kohortenstudie wurde bei rund 3000 Personen kein Einfluss von einem Mobiltelefon in der vorderen Hosentasche auf die Spermienqualität und die Zeitdauer bis zum Nachweis einer Schwangerschaft beobachtet.“
Klingt eindeutig, aber wie Hensinger anmerkt, "umgeht Röösli eine Gesamtanalyse des aktuellen Wissensstandes aus in vivo [Tier], in vitro [Zellkultur] und epidemiologischen Studien, mit dem anekdotischen Hinweis auf eine einzige (!) epidemiologische Studie." (Das ist das Ausrufezeichen von Hensinger)
Ein aktueller Bericht für das Europäische Parlament, den Hensinger zitiert, hat mehr als 60 Studien untersucht und kommt zu dem Schluss, dass es tatsächlich eine Auswirkung auf die Fruchtbarkeit gibt.
Wie zuverlässig ist diese prospektive Studie, die Röösli als Beweis für die Fruchtbarkeit anführt? Wenn Sie die Studie lesen - werfen Sie einen Blick hinein, sie ist frei zugänglich -, werden Sie Details zu den vielen möglichen Quellen für eine falsche Klassifizierung der Exposition finden, die dazu führen würden, dass Risiken verschleiert werden. Das Forscherteam nennt das Problem der Bestimmung der Strahlendosis eine "große Herausforderung" [S.1402].
Der offensichtlichste Grund dafür, dass diese Studie nicht alle früheren Arbeiten widerlegt, ist jedoch, dass sie - wie Hensinger ebenfalls hervorhebt, Röösli jedoch nicht - in zwei verschiedenen Datensätzen eine statistisch signifikante Abnahme der Fruchtbarkeit bei schlanken Männern zeigt, die ihr Handy in der Vordertasche trugen. (Bei schwereren Männern wurde kein ähnlicher Effekt beobachtet; Fruchtbarkeit ist ein schickes Wort für Fertilität).
Röösli sagt im Grunde genommen, dass Handys bedenkenlos in der Nähe der Fortpflanzungsorgane getragen werden können, so Hensinger. "Das ist unverantwortlich", sagte er.