KOMPAKT: Was hat es mit den Rattenfängern auf sich?
INGO LEIPNER: Da gibt es zunächst die Sage vom Rattenfänger von Hameln, der für einen versprochenen Lohn mit seiner Pfeife alle Ratten aus der Stadt lockte, um Hameln von einer Rattenplage zu befreien. Da die Bürger ihn nach vollbrachter Tat nicht bezahlen wollten, kam er wieder in die Stadt. Dieses Mal führte er zur Strafe alle Kinder zu einem Berg und verschwand mit ihnen darin, für immer! Damit ist der Rattenfänger von Hameln zu einem Sinnbild geworden für jemanden, der in der Lage ist, Massen zu manipulieren.
KOMPAKT: Wo finden wir denn heute Rattenfänger?
INGO LEIPNER: Wir müssen nicht weit suchen: In der Politik, in der Wirtschaft und in der Wissenschaft.
KOMPAKT: Auch in der Wissenschaft?
INGO LEIPNER: Ja, auch und gerade in der Wissenschaft. In Kapitel 4 haben wir den angeblichen Wiener Skandal um die REFLEX-Studie nachgezeichnet. Die REFLEX-Studie war 2005 eine international angelegte Studie, an der 11 Forschergruppen in ganz Europa beteiligt waren. Ziel war es, die biologischen Auswirkungen zu erforschen, die Mobilfunkstrahlung auf menschliche Zellen haben. Die Ergebnisse waren alarmierend: Mobilfunkstrahlung zeigte nicht-thermische Effekte auf Zellen und könnte damit unterhalb der offiziellen Grenzwerte gesundheitsschädlich sein. Doch plötzlich erhob Professor Alexander Lerchl aus Bremen Fälschungsvorwürfe! Sie stellten sich zwar als Schall und Rauch heraus, aber sie bewirkten einen enormen Flurschaden in der Wissenschaft. Die betroffenen Forscher litten unter schwersten persönlichen und beruflichen Belastungen.
KOMPAKT: Was hat diese Geschichte mit Rattenfängern zu tun?
INGO LEIPNER: Es wurde hier mit einer ganzen Reihe von manipulativen Techniken gearbeitet, um diese Fälschungsvorwürfe aufrechtzuerhalten. Die ganze Affäre zog sich immerhin 13 Jahre hin, bis zu einem endgültigen Urteil im Dezember 2020. Seitdem darf Prof. Lerchl die Fälschungsvorwürfe nicht mehr erheben.
KOMPAKT: Wie sehen solche manipulativen Techniken aus?
INGO LEIPNER: Manipulative Techniken sind bekannte Techniken aus der Psychologie, um Menschen zu manipulieren. Es handelt sich oft um rhetorische Tricks, um mit einem Argument durchzukommen, obwohl es nicht stichhaltig ist. Da werden z. B. falsche Analogien gezogen, Rosinen gepickt und Halbwahrheiten verbreitet. Aber auch Empörungsspiralen spielen eine wichtige Rolle: Echte Agitatoren sprechen die Ressentiments im Publikum an, verstärken und lenken diese unbewusste Energie in eine gewollte Richtung, oft verbunden mit dem Aufbau von Feindbildern, die am Ende andere Menschen zum Abschuss freigeben. Wie es die Fälle von Hanau und Halle gezeigt haben, wird daraus bereits blutige Realität. Sprachliche Manipulationen sind der Anfang! Im Buch haben wir diese Techniken an den jeweiligen Stellen mit einem Symbol markiert, damit jeder sie gezielt nachlesen kann.
KOMPAKT: Der Mobilfunk ist sicher nicht das einzige Betätigungsfeld für moderne Rattenfänger.
INGO LEIPNER: Das stimmt, moderne Rattenfänger gibt es auch in anderen Gebieten. Wir haben uns z. B. den Wirecard-Skandal ausführlich angeschaut. Dort hat uns die Teflon-Strategie fasziniert: Die Führung von Wirecard hat es jahrelang verstanden, sich zum Opfer von bösartigen Intrigen zu erklären und ist damit in der Öffentlichkeit durchgekommen; es blieb lange Zeit nichts Negatives hängen. Wie bei den Fälschungsvorwürfen gegenüber der REFLEX-Studie sind auch hier Journalisten einem Lügengebäude auf den Leim gegangen. Wir haben das mit dem Kampfsport Aikido verglichen, wo die Energie des Angreifers in einen Gegenschlag umgelenkt wird. So haben sich die Manager von Wirecard immer geschickt aus der Affäre gezogen.
KOMPAKT: Das Buch hat 304 Seiten und ist in 7 Kapitel unterteilt. Was können Sie uns noch vom Inhalt verraten?
INGO LEIPNER: Kapitel 3 haben wir überschrieben mit „Viren, Viren, Viren“, denn bei diesem Thema sind wir auf eine haarsträubende Geschichte gestoßen: Der Biologe Stefan Lanka behauptet seit Jahrzehnten, Viren gäbe es nicht. Dabei arbeitet er mit merkwürdigen Methoden. Er hat mehrere Gerichtsprozesse geführt, die er so darstellt, dass sie nur ihm nutzen. Er verdreht aber die Urteile so lange, bis es so aussieht, dass Gerichte ihm bestätigt hätten, es gäbe keine Viren. Das ist aber Unsinn, denn die Gerichte haben das Gegenteil festgestellt und ihm nur auf formalen Ebenen Recht gegeben.
KOMPAKT: Da verschlägt es einem die Sprache, oder?
INGO LEIPNER: Vieles, was wir im Buch darstellen, verschlägt einem die Sprache: Die Art, wie mit Zahlen umgegangen wird, oder wie wenig die beschriebenen Agitatoren Interesse an Lösungen haben. Diese Leute greifen die Emotionen der Menschen auf und verstärken sie. Sie wollen eine seelische Modifikation der Menschen erreichen. An einem demokratischen Diskurs und der Abwägung von Argumenten haben sie kein Interesse. Und diese Art der Rhetorik trägt dann zur Spaltung der Gesellschaft bei, es werden Gräben aufgerissen, statt sie zuzuschütten.
KOMPAKT: Können Sie dazu ein Beispiel nennen?
INGO LEIPNER: Diese falschen Propheten sind in vielen Bereichen der Gesellschaft unterwegs, und oft geht es ihnen um die Bewahrung des Status quo. Alles soll so bleiben, wie es ist. Bill Gates gehört zu den Bewahrern des Status quo. Er findet Kapitalismus klasse, denn er ist im Kapitalismus reich geworden. All seine Aktivitäten dienen dazu, unsere Lebensweise nicht zu ändern. Das ist aber genau das Gegenteil von dem, was wir brauchen, nämlich eine sozial-ökologische Transformation.
KOMPAKT: Warum werden solche Rattenfänger nicht einfach in die Wüste geschickt?
INGO LEIPNER: Diese Rattenfänger wollen den Status quo bewahren, weil sie von der gegenwärtigen technologisch-kapitalistischen Entwicklung stark profitieren, etwa auch große Konzerne mit ihren internationalen Geschäftsmodellen. Außerdem wollen in unserer Wohlstandsgesellschaft viele Bürger ihre Komfortzone nicht verlassen. Da treffen sich die Interessen …. Wenn wir mehr Rattenfänger in die Wüste schicken könnten, würden wir in einer friedlicheren, sozialeren und ökologischeren Welt leben.