diagnose:funk: Hallo Francesco, wir lesen, dass in Italien die Grenzwerte erhöht werden sollen! Wie hoch waren sie, und auf was sollen sie erhöht werden? Was ist die Begründung?
Francesco Imbesi: In letzter Zeit liest man relativ häufig darüber, dass von der Mobilfunkindustrie eine Erhöhung der Grenzwerte für Mobilfunk gefordert wird. Als Argumente werden mal eine notwendige Anpassung im Zuge des 5G-Ausbaus, mal eine vermeintliche Nivellierung dieser Regelung für ganz Europa angeführt.
Italien gehört allerdings zu den Ländern, die (noch) nicht den ICNIRP-Vorgaben folgen: die Festlegung auf 6V/m für die Exposition über 4 Stunden stammt aus dem Jahre 1998 auf Vorschlag einer Kommission unter der Leitung von Prof. Livio Giuliani, Direktor vom staatlichen ISPESL (Istituto superiore per la prevenzione e la sicurezza del lavoro, mittlerweile abgeschafft) und wurde im Gesetz Nr. 36 vom Jahr 2001 übernommen. Auch andere europäische Länder, wie Belgien und die Schweiz, bauten ihre gesetzliche Regelung darauf.
Die Grenzwerte erfuhren allerdings 2012 eine “Verwässerung”, und zwar durch ein Gesetzesdekret der Regierung Monti: dieser sah vor, dass die Überschreitung der Grenzwerte nicht in einer Zeit von 6 Minuten, sondern im Verlauf der 24 Stunden festzustellen ist. Diese Regelung blieb bis heute aktuell und erlaubt eine Exposition mit sehr hohen Spitzenwerte im Laufe des Tages, falls dann der Durchschnitt in den 24 Stunden unterhalb der Grenzwerte liegt.
Die aktuelle Forderung setzt auf eine Erhöhung der Grenzwerte auf 61 V/m: wenn man die physikalische Grössenordnung beachtet, geht es hier in der Tat um eine Erhöhung auf das 110fache – ganz zu schweigen über die Art und Weise der zeitlichen Erfassung.
Machen hier Mobilfunkindustrie und Politik gemeinsame Sache?
Francesco Imbesi: Wir können hier kaum Hypothesen aufstellen, z.B. im Bereich einer Korruption. Tatsache ist, dass einerseits die meisten Politiker nicht bereit sind, komplizierte Sachverhalte zu analysieren, und andererseits schmieden die Strategen der Industrie sehr glaubhafte und vor allem sehr lukrative Szenarien, wo z.B. auch Politiker glauben können, bei den Wählern gut anzukommen.
Die vor Kurzem neugebildete Staatsregierung kürte ausserdem in die Position eines Ministers gewisse Persönlichkeiten, die unter dem Aspekt der Interessenskonflikte ziemlich für Unmut sorgen: da haben wir einen Minister für die technologische Innovation, der bis vor Kurzem als Manager für Vodafone und dann für Verizone zeichnete; sowie einen Minister für die Umwelt, der als Professor für Robotik einen internationalen Ruf geniesst.
Stimmt es, dass es dagegen einen Hungerstreik gab? Wer organisierte das? Wer trägt in Italien den Protest?
Francesco Imbesi: Im italienischen Parlament sitzen einige Volksvertreter, die ihre Aufgabe ernst meinen und zum Thema vorbereitet sind. Diese haben als erste Alarm geschlagen, als sie die Entwurffassung der Abstimmungspapiere zu Sicht bekommen haben. In der Folge sind Aktivisten des 5G-Widerstands, sowie Organisationen der Elektrosensiblen auf die Entwicklungen im Parlament aufmerksam geworden und haben darüber beraten, wie man am besten in einer Zeit ohne die Möglichkeit grosser Kundgebungen und Menschenansammlungen zu einer Sensibilisierung der Öffentlichkeit kommen konnte. Der Hungerstreik wurde medial begleitet und involvierte insgesamt 135 Personen unter Politikern und Kulturschaffenden: diese verpflichteten sich jeweils fuer einen-zwei Tage Hungerstreik und das Ganze wurde in 18 Tagen Aktionsdauer koordiniert und bekanntgemacht. Auch sind verschiedene Verbrauchervereine aktiv geworden und vor allem in der Information der Parlamentarier beteiligt gewesen. Man kann mittlerweile etwas aufatmen, weil im letzten Moment der Gesetzesparagraph über die Erhöhung der Grenzwerte aus den Abstimmungspapieren gestrichen wurde. Die Entwicklung der 5G-Technologie hat auf jeden Fall eine wichtige Position in der Endfassung des Projektpapiers eingenommen: dieser und der Digitalisierung insgesamt werden über 40 Mrd. Euro europäischer Unterstützungsgelder reserviert.
600 Kommunen haben sich in Italien gegen 5G ausgesprochen. Stehen sie noch dazu, hält der Widerstand an?
Francesco Imbesi: Die über 600 Gemeindeverwaltungen (15 davon allein in Südtirol), die sich über den Gemeinderat gegen einen Standort für 5G-Anwendungen im Gemeindegebiet ausgesprochen hatten, mussten vorerst einen bitteren Stopp erfahren, als die Regierung eine Zuständigkeit der Bürgermeister in Gesundheitsfragen aberkannt hatte. Das war allerdings nicht gesetzes- bzw. verfassungskonform und holte viele Juristen auf die Barrikaden. Die danach eingetretene Problematik der Pandemie zeigte ausserdem, dass die Bürgermeister sehr wohl im Sinne der Volksgesundheit handeln dürfen und müssen. Somit sind viele Bürger erneut für einen selbstbestimmten Umgang bei der 5G-Frage interveniert und werden das Thema nicht dem Zufall überlassen, vor allem wenn wieder eine öffentliche Diskussion abgehalten werden kann.
Francesco, danke für das Interview. Viele Grüße nach Bozen. Hoffentlich kann man das schöne Südtirol bald wieder besuchen.
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