Lernrückstand und psychische Folgen
Das adäquate Mittel, die durch Schulschließungen und Fernunterricht entstandenen Lernrückstände beurteilen und kompensieren zu können, sind vergleichende Leistungserhebungen, vor dem Entwickeln von Unterstützungsangeboten. „Eine aussagekräftige Diagnose ist die Basis jeder Förderung“ (Zierer). Umso irritierender war, dass diese Lernstandserhebungen wegen Covid-19 zunächst ausgesetzt werden sollten. Doch das Scheitern des digital basierten Fernunterrichts und das ebenso gescheiterte „selbstorganisierte Lernen“ (Sol) lässt sich nicht leugnen. 20 bis 25 Prozent der Schüler hätten vermutlich große oder sogar dramatische Rückstände, so das BMBF im März 2021, weswegen ein milliardenschweres Nachhilfeprogramm aufgesetzt werde. (DLF, 2021). In den Sommerferien oder spätestens zum neuen Schuljahr sollen zusätzliche Förderangebote bereitgestellt werden, so das Ministerium.
- Wie wäre es, die nicht abgerufenen Milliarden des „Digitalpakt Schule“ umzuwidmen in einen „Bildungspakt Schule“ und damit Lehramtsstudierende für Betreuung und Nachhilfe zu finanzieren? Auch wären mehr feste Stellen für Schulpsychologinnen und Sozialarbeiter sinnvoll.
Denn nicht nur die schulischen Leistungen leiden unter Corona-Bedingungen. Die beiden COPSY-Studien (CO-rona und PSY-che) der Hamburger Kollegin Ravens-Sieberer (UKE) belegen starke psychische Belastungen bei jungen Menschen. In der zweiten Befragung von Mitte Dezember 2020 bis Mitte Januar 2021 wurden mehr als 1000 Kinder und Jugendliche und mehr als 1600 Eltern per Online-Fragebogen befragt. Die Ergebnisse sind eindeutig: Acht von zehn der befragten 7-17jährigen fühlen sich durch die Lockdown-Maßnahmen belastet, eine Zunahme von 71 % auf 85 % im zweiten Lockdown. Zwei Drittel der Befragten empfinden Schule und Lernen anstrengender als im ersten Lockdown. Drei von 10 Kindern weisen psychische Auffälligkeiten auf. (Ravens-Sieberer, 2021b).
Das bestätigen die JuCo-Studien I und II (Jugend und Corona). Die Corona-Pandemie stelle junge Menschen in Deutschland vor große Herausforderungen. 61 Prozent fühlen sich teilweise oder dauerhaft einsam. 64 Prozent stimmen zum Teil oder voll zu, psychisch belastet zu sein. 69 Prozent berichten von mehr oder weniger stark ausgeprägten Zukunftsängsten. Ein Drittel der Jugendlichen (34 Prozent) hat zudem finanzielle Sorgen, wobei Geldsorgen und Zukunftsängste die psychische Belastung und Einsamkeit verstärken. (Andresen et.al. 2021)
Darauf macht auch ein Bündnis von fünf Verbänden von Kinder- und Jugend-Psychotherapeuten, -Psychiatern und -Ärzten aufmerksam, das 60000 Berufsangehörige repräsentiere und von weiteren 23 psychotherapeutischen Berufs- und Fachverbänden unterstützt werde. Sie beobachten seit dem zweiten Corona-Lockdown verstärkt Angst- und Schlafstörungen, Depressionen, Zwangs- und Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität. Unter dem Motto „Kinder brauchen mehr/Jugend braucht mehr“ fordern sie von den politisch Verantwortlichen, dem Leiden von jungen Menschen in der Corona-Krise mit einem Maßnahmenpaket zu begegnen. Gefordert wird ein Kinder- und Jugendrat, ähnlich wie der Ethikrat, die Unterstützung von Sport- und Kulturangeboten für Kinder und Jugendliche und z.B. ein Hilfe-Telefon für junge Menschen in Not mit Beratung durch Fachpersonal statt Freiwilligen. Es dürfe nicht nur um versäumten Schulstoff gehen, sondern es werde Unterstützung auch „jenseits von Leistungsorientierung“ gebraucht, so Ariadne Sartorius, Bundesvorstandsmitglied des BVVP. (Feuerbach, 2021 )
Besinnung auf Schule als Lebens- und Sozialraum
Entscheidend ist daher bei allen Konzepten, dass nicht nur Lernlücken erfasst und durch gezielte Förderung kompensiert werden, sondern dass auch die sozialen und emotionalen Bedürfnisse junger Menschen berücksichtigt werden. Schulen sind für Kinder und Jugendliche oft der wichtigste außerfamiliäre Ort, um Mitschülerinnen und Mitschüler zu treffen, Freundschaften zu beginnen und sich in Klassen- wie Sozialgemeinschaften einzugliedern. Nur im Miteinander werden wir zum „Ich“. Nur durch die Gemeinschaft und in der Gemeinschaft lernen wir, wie vielfältig Menschen und ihre Persönlichkeiten, Sicht- und Reaktionsweisen sind. Nur im Kontext mit anderen lernen wir das Nachdenken und Reflektieren, statt nur Vorgegebenes zu übernehmen. Zum Denken lernen als Ziel von Lehre und Unterricht brauchen wir ein menschliches Gegenüber, den direkten Dialog. Das formulierte schon Immanuel Kant im Text "Was heißt: sich im Denken orientieren?" (1786). Sonst bekämen wir nur leere Köpfe, die zwar das Repetieren (heute: Bulimie-Lernen) trainieren, aber nicht selbständig denken und Fragen stellen könnten.
Mündigkeit und Reflexionsvermögen sind laut Schulverordnungen der Länder elementare Bildungsziele. Das gelingt nur, wenn wir die Verkürzung des Fächerkanons auf die MINT- oder WiMINT korrigieren, die Schule und Unterricht auf Ausbildungsvorbereitung in technischen Disziplinen verkürzen. Verstärkt werden muss vielmehr die Allgemeinbildung. Dazu gehören auch „weiche“ Fächer wie Kunst- und Musikunterricht. Gefördert werden müssen Tanz- und Theatergruppen und gemeinsame Aktivitäten wie Exkursionen, Wandertage, Klassenfahrten, auch Bewegung und Sport. Um pandemiebedingte Lernrückstände auszugleichen, darf nicht nur Abprüfbares trainiert werden. Vielmehr müssen wir Realräume schaffen für ein Miteinander, nach vielen Monaten Isolation an Display und Touchscreen. Der Mensch ist ein soziales Wesen und kann sich nur in Gemeinschaft sozialisieren. Daher müssen wir Schulen viel stärker als einen sozialen Lebensraum des Miteinanders und gemeinsamen Lernens gestalten, statt Kinder und Jugendliche immer früher an Rechner zu vereinzeln. Das zumindest sollte als Ergebnis von Fernunterricht im Coronamodus gelernt werden.
Quellen und Links
Andresen, Sabine; Heyer, Lea; Lips, Anna; Rusack, Tanja; Schröer, Wolfgang; Thomas, Severine; Wilmes, Johanna (2021) Das Leben von jungen Menschen in der Corona-PandemieErfahrungen, Sorgen, Bedarfe, Bertelsmann-Stiftung; https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Familie_und_Bildung/Studie_WB_Das_Leben_von_jungen_Menschen_in_der_Corona-Pandemie_2021.pdf
DLF (2021) Corona-Pandemie: Karliczek plant bundesweites Nachhilfeprogramm für lernschwache Schüler, https://www.deutschlandfunk.de/corona-pandemie-karliczek-plant-bundesweites.1939.de.html?drn:news_id=1242143 (27.3.2021)
Ebbinghaus, Uwe (2020) Mint-Schwäche in Schulen: Ist Lernsoftware besser als ein schlechter Mathelehrer?, in FAZ vom 23.6.2020
Engzell, P., Frey, A., & Verhagen, M. D. (2020, October 29). Learning Inequality During the Covid-19 Pandemic. https://doi.org/10.31235/osf.io/ve4z7
Feuerbach, Leonie (2021) Auch Kinder sind systemrelavnt, in: FAZ vom 27.März 2021, S. 7; https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/folgen-der-corona-pandemie-auch-kinder-sind-systemrelevant-17265356.html (30.3.21)
IAB (2021) https://job-futuromat.iab.de/
Lebert, Achin (2021)Digitale Endgeräte werden zu Lernbegleitern, Heft Schulverwaltung spezial 2/2020, S.36-39 )
Ravens-Sieberer, Ulrike (2021b) Ergebnisse aus zweiter BefragungsrundeCOPSY-Studie: Kinder und Jugendliche leiden psychisch weiterhin stark unter Corona-Pandemie; https://idw-online.de/de/attachmentdata85769
Ravens-Sieberer, U., Kaman, A., Otto, C. et al. Seelische Gesundheit und psychische Belastungen von Kindern und Jugendlichen in der ersten Welle der COVID-19-Pandemie – Ergebnisse der COPSY-Studie. Bundesgesundheitsbl (2021). https://doi.org/10.1007/s00103-021-03291-3
Zierer, Klaus (2021) Schulen in der Pandemie:Ein Jahr zum Vergessen, in: SZ vom 16.3.21, S. 30; https://www.sueddeutsche.de/politik/schulen-in-der-pandemie-ein-jahr-zum-vergessen-1.5233757 (26.3.21)
Zierer, Klaus (2020) Visible Learning 2020: Zur Weiterentwicklung und Aktualität der Forschungen von John Hattie, hrsg. v.d. Konrad Adenauer-Stiftung, https://www.kas.de/documents/252038/7442725/Visible+Learning+2020.pdf/e664fc77-2b6e-bc9d-f6a1-9b8075268a50 (31.3.21)
Hattie, John; Zierer, Klaus (2017): Kenne deinen Einfluss! Visible Learning für die Unterrichtspraxis, 2. Auflage, Schneider Verlag Hohengehren.
Lernschwache Schüler: Karliczek plant bundesweites / DLF, 27. März 2021, 06.00 Uhr (Newsletter)
Nachhilfeprogramm: Zur Unterstützung lernschwacher Schülerinnen und Schüler in der Corona-Pandemie will Bildungsministerin Karliczek ein bundesweites Nachhilfeprogramm starten. Dafür brauche man etwa eine Milliarde Euro, sagte die CDU-Politikerin den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Am Ende dieses Schuljahres solle es in allen Bundesländern Lernstandserhebungen in den Kernfächern geben. 20 bis 25 Prozent der Schüler hätten vermutlich große oder sogar dramatische Rückstände. In den Sommerferien oder spätestens zum neuen Schuljahr sollten zusätzliche Förderangebote bereitgestellt werden. Zielgruppe des Programms seien vor allem Schüler, bei denen der Wechsel auf eine weiterführende Schule oder in eine Ausbildung bevorstehe. Nach Einschätzung des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft wären kurzfristig sogar 1,5 Milliarden Euro notwendig, um die Bildungsrückstände durch die Schulschließungen wieder aufzuholen. Laut einer Studie, aus der die "Rheinische Post" zitiert, ist bei rund 1,5 Millionen Schülern ein stark erhöhter Förderbedarf entstanden. Das Institut beruft sich auf eine aktuelle Befragung von Lehrkräften im Rahmen des Deutschen Schulbarometers
Studie: Engzell et.al. Abstract
https://osf.io/preprints/socarxiv/ve4z7
Die Aussetzung des Frontalunterrichts in Schulen während der COVID-19-Pandemie hat zu Bedenken hinsichtlich der Folgen für das Lernen der Schüler geführt. Bislang waren die Daten zur Untersuchung dieser Frage begrenzt. Hier evaluieren wir die Auswirkung von Schulschließungen auf die Leistungen von Grundschülern anhand außergewöhnlich reichhaltiger Daten aus den Niederlanden (n≈350.000). Wir nutzen die Tatsache, dass nationale Prüfungen vor und nach der Schließung stattfanden, und vergleichen den Fortschritt in diesem Zeitraum mit dem gleichen Zeitraum in den drei vorangegangenen Jahren. Die Niederlande hatten nur eine relativ kurze Schließung (8 Wochen) und verfügen über ein gerechtes System der Schulfinanzierung und die weltweit höchste Rate an Breitbandanschlüssen. Dennoch zeigen unsere Ergebnisse einen Lernverlust von etwa 3 Prozentpunkten oder 0,08 Standardabweichungen. Der Effekt entspricht einem Fünftel eines Schuljahres, also dem Zeitraum, in dem Schulen geschlossen blieben. Die Verluste sind bei Schülern aus bildungsfernen Elternhäusern um bis zu 60 % größer, was die Befürchtungen über die ungleichen Auswirkungen der Pandemie auf Kinder und Familien bestätigt. Bei der Untersuchung der Mechanismen stellen wir fest, dass der größte Teil des Effekts die kumulative Wirkung des erlernten Wissens widerspiegelt und nicht die vorübergehenden Einflüsse am Tag der Prüfung. Die Ergebnisse bleiben robust, wenn man die geschätzte Behandlungsneigung ausgleicht und maximale Entropie-Gewichte verwendet, oder mit Fixed-Effects-Spezifikationen, die Schüler innerhalb derselben Schule und Familie vergleichen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Schüler nur geringe oder gar keine Fortschritte machten, während sie von zu Hause aus lernten, und legen nahe, dass die Verluste in Ländern mit schwächerer Infrastruktur oder längeren Schulschließungen noch größer waren. (Deep L)
Studie Jugend und Corona (JuCo I und II)
Die beiden Jugendbefragungen “Jugend und Corona“ (JuCo I und II) wurden von einem Forschungsverbund der Goethe-Universität Frankfurt und der Universität Hildesheim durchgeführt. An JuCo I (15. April – 3. Mai 2020) nahmen 5.520 Jugendliche teil, an JuCo II (9.-22. November 2020) beteiligten sich mehr als 7.000 junge Menschen. Die für die JuCo-Studien zusammengetragenen Erkenntnisse basieren auf jahrelanger wissenschaftlicher Arbeit der Kindheits- und Jugendforscher:innen zur Lebenswirklichkeit junger Menschen in Deutschland. https://aktuelles.uni-frankfurt.de/forschung/bundesweite-studien-jugend-und-corona-stellen-weitere-ergebnisse-vor/