Behauptungen und Scheinargumente Teil VII

"Die Strahlung der Sonne und einer Deckenlampe hat mehr Watt als ein Mobilfunksender!"
Im Blog der Stiftung Warentest schrieb ein Diplomingenieur, zustimmend zu dem Artikel der Stiftung Warentest, der Handystrahlung für ungefährlich erklärte, am 2.9.2019: "Richtig aufgeklärt lebt sich's leichter...Hier ein einfacher Vergleich - mit gesundem Menschenverstand sieht man sofort, was am gefährlichsten ist: Ein Sonnenbad in Deutschland: 700.000.000 Mikrowatt pro qm - das ist pure elektromagnetische Strahlung! Eine Basisstation in direkter Sicht auf 10 m (egal ob 5G, 4G... sind alle ähnlich): 1.000.000 Mikrowatt pro qm. Die gleiche Basisstation, wenn man sich im benachbarten (Stein-) Gebäude aufhält: 10.000 Mikrowatt pro qm. Wenn das Handy kaum noch Empfang hat (z.B. im Keller, Wald, Berg...): 10 Mikrowatt pro qm (da ist das eigene CO2 beim Ausatmen gefährlicher). Und nebenbei: die Wirkung hängt auch von der jeweiligen Frequenz ab. Aber ob das bei so manchem noch durch den Angst-Nebel dringt...?" Mit dieser Argumentation rechtfertigen gerne auch die Piraten, Freifunker und der Chaos Computer Club ihr Hobby. Wir baten den Physiker Dr. Klaus Scheler, sich damit auseinanderzusetzen, ob diese Vergleiche wirklich "dem gesundem Menschenverstand" entsprechen.
LED-Deckenleuchte: stärker als ein Mobilfunkmast?Quelle: obi.de

Zur Begründung der Ungefährlichkeit von Mobilfunkstrahlung wird immer wieder  folgendes Argument genannt:

 

  • Bei einem Sonnenbad setzen wir uns einer Strahlung von etwa 700 W/m2 = 700.000.000 µW/m2 aus, bei einer lichtstarken LED-Deckenleuchte (35 W, 4000 lm, 5300 K) wird ca. 12 W in Form von Licht in den darunter liegenden Raum ausgesandt, was in 2 m Entfernung eine Lichtstrahlung von ungefähr 0,5 W/m2 = 500.000 µW/m2 ergibt (1).

 

  • Die Strahlung einer Basisstation mit 10.000 W (EIRP) dagegen beträgt (ohne Dämpfung durch Gebäude) in 28 m Entfernung maximal etwa 1 W/m2 = 1.000.000 µW/m2, in 280 m etwa 10 mW/m2 = 10.000 µW/m2, in 890 m etwa 0,001 W/m2 = 1.000 µW/m2 und in etwa 9 km Entfernung 10 µW/m2 (2, 5). Sie ist damit überwiegend viel geringer als die ungefährliche optische Strahlung.

Welche Aspekte werden bei diesen Begründungen übersehen?

Bei dem angeführten Vergleich liegt folgendes Fehlverständnis zugrunde: Die weitgehende Ungefährlichkeit der natürlichen optischen Strahlung wird offenbar als ausreichender Beleg dafür angesehen, dass eine vergleichbare oder geringere Leistung (bzw. Leistungsflussdichte) der Mobilfunkstrahlung ebenso weitgehend ungefährlich sein muss. Indirekt wird damit behauptet, dass zur Beurteilung biologischer Wirkungen allein die Höhe der Leistungsflussdichte ausreicht unabhängig davon, welche weiteren Merkmale die Strahlung kennzeichnet, und daher(!) bei gleichen Intensitäten auch gleiche Wirkungen entstehen müssen.

Wer so argumentiert, ignoriert den Empfänger und seine Besonderheiten oder sieht seinen Einfluss auf die Wirkung als vernachlässigbar an. Diese einseitige Sicht greift zu kurz und ist wissenschaftlich nicht zu halten.

Ein Hauptunterschied zwischen optischer Strahlung und Mikrowellenstrahlung ist die Frequenz, die bei optischer Strahlung etwa hunderttausend- bis millionenfach höher liegt. Das heißt aber, dass – trotz gleicher Leistungsflussdichte – zwei verschiedene(!) Strahlungsarten (fachlich gesprochen: verschiedene elektromagnetische Wellen oder Felder (EMF)) vorliegen, die in ihren Wechselwirkungsmöglichkeiten mit Materie nicht generell wirkungsgleich gegeneinander austauschbar sind und daher nicht undifferenziert als vergleichbar betrachtet werden können.

Dass optische Strahlung und Mobilfunkstrahlung bei gleicher Leistungsflussdichte (Intensität) ganz verschiedene Wirkungen hervorrufen, lässt sich schon an technischen Systemen,z. B. anhand einer Solarzelle erkennen: Setzt man eine Solarzelle Mobilfunkstrahlung aus, lässt sich kein elektrischer Strom gewinnen, sondern allenfalls ein wenig Wärme. Das heißt: Die beiden Strahlungen sind – so ähnlich sie physikalisch sein mögen – nicht allgemein gegeneinander austauschbar.

Es gilt ganz grundsätzlich, dass die Art, wie Energie zugeführt wird, stets spezifisch wirkt: Niemand würde z. B. sein Benzinauto mit Dieselkraftstoff gleichen Energieinhalts betanken (oder umgekehrt sein Dieselauto mit Benzin), weil er weiß, dass dies nicht die gewünschte Wirkung hervorruft. Die beiden (chemischen) Energieformen Benzin und Diesel sind auch hier nicht gegeneinander austauschbar. Oder: Kein Mensch stillt seinen Hunger (seinen Energiemangel), indem er sich in eine heiße Badewanne setzt und so seine Energie (wieder) erhöht.

Die feststellbaren Wirkungen hängen also nicht nur von der Stärke der Einwirkung, sondern immer auch von der charakteristischen Art der Einwirkung und vom Empfänger und seinen Besonderheiten ab. Insbesondere bei biologischen Systemen sind die Wirkungen in der Regel ungleich vielschichtiger als bei technischen Systemen.

Die Wirkungen von Mobilfunkstrahlung und optischer Strahlung gleicher Intensität sind in Lebewesen unterschiedlich zu beurteilen

Es ist wissenschaftlich unstrittig und allgemein anerkannt, dass Mikrowellen der Leistungsflussdichte von 100 W/m2 schwerwiegende gesundheitliche Schäden in biologischen Systemen verursachen (3). Dieser Wert gilt als thermische (Gefahren-) Schwelle der Mobilfunk-strahlung, da sich die Effekte durch eine übermäßige schädliche Erwärmung des Körpergewebes erklären lassen.

Optische Strahlung von 100 W/m2 ist für uns dagegen völlig ungefährlich: Dieser Strahlung sind wir bereits im Freien bei einem wolkenverhangenen Tageshimmel ausgesetzt. Allein dies zeigt schon, dass ein Vergleich der Leistungsflussdichten alleine nicht ausreicht, das Gefahrenpotenzial von Mobilfunkstrahlung zu beurteilen. Mobilfunkstrahlung ist bei gleicher Intensität bzw. Leistungsflussdichte deutlich gefährlicher als optische Strahlung.

Der Hauptgrund für diese Ungleichheit liegt am Wasser, aus dem der Mensch im Mittel zu ungefähr 70% besteht. Mikrowellen- bzw. Mobilfunkstrahlung regt die Wassermoleküle mehr oder weniger zu Dipol- und Multipolschwingungen an und bewirkt so Temperaturerhöhungen. Für diesen Absorptionsmechanismus gibt es keine Resonanzfrequenz im strengen Sinne, wohl aber einen breiten temperaturabhängigen Frequenzbereich im Mikrowellenbereich um ca. 30 GHz, bei dem die Absorption relativ hoch ist (4). Die niedrigste Resonanzfrequenz mit höchster Absorption liegt für das freie Wassermolekül bei ca. 22 GHz, bei „gebundenem Wasser“ – etwa in der Zelle – liegt sie im MHz-Bereich. Für optische Strahlung ist die Absorption dagegen verschwindend gering, die Temperaturzunahme des Körpergewebes daher entsprechend minimal.

Steigende Strahlenbelastung durch künstliche EMF-Quellen (mit Klick vergrößern!)Grafik: Priyanka/Carpenter 2018 - thelancet.com/journals/lanplh/article/PIIS2542-5196(18)30221-3/fulltext

Neben diesen thermischen Wirkungen gibt es noch vielfältige Möglichkeiten für sog. athermische Wirkungen, die die elektrischen und magnetischen Vorgänge auf Zell-, Nerven- und Organebene betreffen. Auch hier sind die Wirkungen von Mobilfunkstrahlung teilweise anders als die von optischer Strahlung.

Zum Beispiel dringt Mobilfunkstrahlung 5 – 10 cm tief in den Körper ein, optische Strahlung nur einige Millimeter. Die Eindringtiefe hängt von der Art des Gewebes ab und nimmt mit zunehmender Frequenz ab. Mobilfunkstrahlung kann daher mit viel tieferen Bereichen im Innern des Körpers in direkten Kontakt kommen und damit viel mehr Zellen und biologische Prozesse beeinflussen als optische Strahlung. Athermische Wirkungen von Mobilfunkstrahlung sind in der Literatur bereits bei sehr kleinen Werten von 30 – 60 µW/m2 festgestellt worden (5).

In der Haut haben alle Organismen biologische Schutzmechanismen – unter anderem Temperatursensoren – gegen die Gefahren der optischen Strahlung entwickelt. Wir spüren z. B., wenn es uns in der Sonne zu warm wird und suchen z. B. Schatten auf. Für Mobilfunkstrahlung gibt es weder biologische Schutzmechanismen, noch Sensoren im bestrahlten Gewebebereich. Das hat u. a. zur Folge, dass wir Mikrowellenbestrahlung nicht (direkt) wahrnehmen können und daher auch biologisch nicht gewarnt werden, wenn die Wirkung der Bestrahlung zu hoch und damit gefährlich für den Organismus wird.

Mobilfunkstrahlung ist gepulst und polarisiert

Darüber hinaus ist Mobilfunkstrahlung niederfrequent gepulst und polarisiert: Natürliche optische Strahlung ist überwiegend unpolarisiert und weist keine niederfrequente Pulsung auf. Erst technische Systeme nutzen optische Pulsung: Beispiele sind das Blinklicht, die Stroboskoplampe oder die Helligkeitsabsenkung von LED-Bildschirmen mit Hilfe von Pulswei-tenmodulation (PWM): Diese verringert periodisch die Zeitdauer des Leuchtens (Pulsweite) im Vergleich zur Zeitdauer des Nichtleuchtens der LEDs und reduziert so die Helligkeit (6). Optische Pulsung kann bei bestimmten Menschen bereits epileptische Anfälle auslösen, auch wenn die Lichtleistung dabei gering ist (z. B. 20 W). Und auch bei der Mikrowellenstrahlung ist in vielen Studien nachgewiesen, dass gepulste Mikrowellenstrahlung biologisch wesentlich wirksamer ist als ungepulste (5, 7, 8). Weiterhin zeigen Studien, dass künstliche Felder aufgrund ihrer Polarisation stärker biologisch wirksam sind als die unpolarisierten natürlichen Felder (8).

Die Fülle der bisher durch Mobilfunkstrahlung ausgelösten biologischen Effekte unterhalb der Grenzwerte zeigt noch einmal eindrücklich, dass die Erkenntnisse über Wirkungen der optischen Strahlung nicht unhinterfragt auf Mikrowellenstrahlung übertragen werden können, sondern zum Teil gleiche, aber auch neuartige Wirkungen auftreten. Dass diese nicht einfach ungefährlich sind, wurde bereits durch viele Studien belegt (9).

Literatur (kleine Auswahl)

(1)   https://de.wikipedia.org/wiki/Photometrisches_Strahlungsäquivalent

(2)   https://www.lubw.baden-wuerttemberg.de/suche?q=Felder+im+Alltag, S. 82

       https://www.emf.ethz.ch/de/emf-info/themen/technik/basisstationsantennen/sendestaerke-von-basisstationen/

(3)   Grassberger T, Kotteder F (2006). Mobilfunk . Ein Freilandversuch am Menschen. Verlag Kunstmann, München. S. 40

(4)   http://www1.lsbu.ac.uk/water/microwave_water.html

(5)   Budzinski BI, Kühling W (2015). Mobilfunkfreie „Weiße Zonen“. Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 34 (2015), Heft 20, 1410-1416

BioInitiative Working Group, Sage C, Carpenter DO, editors. BioInitiative Report: A Rationale for Biologically-Based Public Exposure Standards for Electromagnetic Radiation (2012). Download: http://www.bioinitiative.org

(6)    Lehman B, Wilkins AJ (2014). Designing to Mitigate the Effects of Flicker in LED Lighting. Reducing risks to health and safety. IEEE Power Electronic Magazine, September 2014, 18-26

(7)   Margaritis LH et al (2014). Drosophila Oogenesis as a Bio-Marker responding to EMF Sources. Electromagn Biol Med 33 (3), 165-189

Van Boxem K, Huntoon M, Van Zundert J, Patijn J, van Kleef M, Joosten EA (2014). Pulsed radiofrequency: a review of the basic science as applied to the pathophysiology of radicular pain: a call for clinical translation. Reg Anesth Pain Med 39(2):149–159.

(8)   Panagopoulos DJ, Johansson O, Carlo GL (2015). Polarization: A Key Difference between Man-made and Natural Electromagnetic Fields, in regard to Biological Activity. Sci. Rep. 5, 14914; doi: 10.1038/srep14914

(9)   Hensinger P, Wilke I (2016). Mobilfunk: Neue Studienergebnisse bestätigen Risiken der nicht-ionisierenden Strahlung. Umwelt – Medizin – Gesellschaft |29| 3/2016, 15-25

Publikation zum Thema

Format: A4Seitenanzahl: 12 Veröffentlicht am: 24.02.2017 Bestellnr.: 590Sprache: DeutschHerausgeber: umwelt・medizin・gesellschaft / 3/2016

Polarisation

Ein wesentlicher Faktor für das Verständnis biologischer Effekte von gepulsten elektromagnetischen Wellen niedriger Intensität
Autor:
Dr. Klaus Scheler
Inhalt:
Der Physiker Klaus Scheler erläutert in einer Beilage für die Zeitschrift umwelt-medizin-gesellschaft die Bedeutung der im Scientific Report 2015 erschienen Studie von Panagopoulos et al.. Sie weist einen Wirkmechanismus nach. Die Polarisation, also die feste Schwingungsrichtung des elektrischen Feldvektors der Welle, ist ein entscheidender Faktor für das Verständnis von biologischen Effekten elektromagnetischer Strahlung niedriger Intensität.
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