Prof. Thiede: In der Tat argumentiere ich vorwiegend in meiner Eigenschaft als Systematischer Theologe – also unter ethischen Aspekten und mit analytischem Blick aufs Menschenbild. Dabei greife ich selbstverständlich die ärztlich-medizinischen und technischen Argumente mit auf, wie sie kritisch zur vierten und insbesondere fünften Mobilfunk-Generation kursieren. Mein Zugang ist aber primär ein geisteswissenschaftlicher: Ich stelle das komplexe Thema in einen theologisch-philosophischen Rahmen. Und dafür erscheint mir die Bezugnahme auf den Begriff des Fortschritts als besonders geeignet.
diagnose:funk: Gehen Sie etwa als „Fortschrittsfeind“ an die Sache heran?
Thiede: Kaum jemand wird sich selber als „Fortschrittsfeind“ betrachten; das ist ein polemischer Begriff der Digitalisierungstreiber. Die aber pflegen offenkundig einen eher naiven Fortschrittsbegriff – als sei alle technische Weiterentwicklung selbstverständlich zu begrüßen und für die Menschheit von Vorteil. Über eine solche Sicht der Dinge sollten wir im 21. Jahrhundert längst hinaus sein. Sie wird aber von den Propheten der digitalen Revolution hochgehalten und geradezu als ein Gebot betrachtet, dem sich die Politik gefälligst unterzuordnen habe.
diagnose:funk: Und die Politik spielt da gerne mit?
Thiede: Die Politik weiß sich von jeher dem wirtschaftlichen Wachstum verpflichtet – einem Prinzip, das heute bekanntlich keineswegs mehr unumstritten ist. Unbedingtes Wachstum wird gern pauschal mit technischem Fortschritt in eins gesehen. Insbesondere konservative Parteien pflegen diese Vorstellung seit jeher. Deshalb plädieren in Deutschland gerade die C-Parteien für eine forcierte Digitalisierung, statt unter dem Blickwinkel eines christlichen Menschenbildes auf die problematischen Aspekte einer Rundum-Vernetzung aufmerksam zu werden – und aufmerksam zu machen!
diagnose:funk: Welche Punkte würden Sie da als Theologe vor allem nennen?
Thiede: Wenn in Jesus Christus Gott selbst Mensch geworden ist, kommt jedem Menschen eine grundsätzliche Würde zu. Im Zuge der Digitalisierung gerät aber die Menschenwürde ins Trudeln. Da nehmen totalitäre Tendenzen zu – ich erinnere an das Buch der IT-Expertin Yvonne Hofstetter „Das Ende der Demokratie“ und an zahlreiche Bestseller zur digital bewerkstelligten Überwachungskultur. Zur Logik der digitalen Revolution gehört das Bestreben, den Menschen optimieren und mit Maschinen verschmelzen zu wollen. Nicht mehr Gottebenbildlichkeit, sondern Maschinenebenbildlichkeit wird zur Basis des Menschenbilds. Post- oder Transhumanismus heißen die philosophischen oder ideologischen Ansichten und Umwertungen.
diagnose:funk: Könnten solche Cyber-Verschmelzungen denn nicht tatsächlich einen Fortschritt bedeuten?
Thiede: Ich bestreite keineswegs, dass die Digitalisierung in mancher Hinsicht Vorteile gebracht hat und bringen wird, namentlich auf medizinischem Sektor. Aber ich verschließe nicht die Augen vor den Gesamttendenzen der Entwicklung, und die bereiten mir – und nicht nur mir! – große Sorgen. Es geht ab in Richtung Technokratie, die Menschen immer mehr entmündigt, ja in „digitale Demenz“ abgleiten lässt, wie der Hirnforscher Manfred Spitzer und andere es formulieren. Die Digitalisierung führt und verführt viele Menschen hin zu letztlich selbstverschuldeter Unmündigkeit.
diagnose:funk: Damit nehmen Sie auf den Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant Bezug?
Thiede: Allerdings! Er hatte „Aufklärung“ als Aufwachen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit verstanden. Insofern passiert inmitten unserer sogenannten Informationsgesellschaft genau das Gegenteil: Menschen werden manipuliert, verführt, ausgespäht, informationell zugemüllt und durch ihnen vorausgeschickte Algorithmen von außen „eingeschätzt“. Das alles bedeutet im Grunde einen Irrweg hinein in eine neue Form von massenhafter Unmündigkeit – kein Fortschritt, sondern ein gravierender Rückschritt!
diagnose:funk: Erblicken Sie diese neue Form von Unfreiheit auch auf dem Mobilfunk-Sektor?
Thiede: Ja, und zwar in bedrohlich wachsendem Maß. Wir erleben gerade ein gemeinsames Ringen von Politik und Konzernen um das Ziel, Mobilfunk möglichst bald flächendeckend hinzubekommen und nahezu 100 Prozent der Bevölkerung zu „versorgen“. Und das ganz ungeniert im Jahr 2018, in dem doch neue, begründete Wissenschaftler-Warnungen vor dem krebserregenden Potenzial dieser Strahlung aus den USA zu uns herübergekommen sind. Auch einige europäische Experten und Ärzte teilen diese kritische Sicht. Ich kann es durchaus bedächtig formulieren: Fakt ist, dass es international kontroverse Expertenmeinungen zu den möglichen Effekten der Mobilfunk-Strahlung gibt. Gerade aber weil die Forschungslage unklar, also nicht wirklich geklärt ist, halte ich es im Grunde für ungeheuerlich, Mobilfunk trotz der eben keineswegs risikolosen Dimension der Strahlung den Menschen total, also quasi totalitär zuzumuten. Bürgerinnen und Bürger, die der Strahlung kritisch gegenüber stehen oder sie als Elektrosensible gar schmerzlich spüren, haben kaum mehr Chancen, ihr auszuweichen. Der Städte- und Gemeindebund rechnet wegen der vielen für 5G notwendig werdenden Standorte von Funkanlagen bereits mit Widerstand in der Bevölkerung; man bereitet sich darauf vor, dem „rechtssicher“ zu begegnen. Vom ethischen Gedanken an „weiße Zonen“ zum Schutz der betroffenen Minderheit hört man in Politik und Wirtschaft meines Wissens gar nichts mehr.
diagnose:funk: Setzen sich denn nicht wenigstens die Kirchen für Elektrosensible ein?
Thiede: Das hielte ich für eine Selbstverständlichkeit unter Christen. Aber ich merke bei kirchenleitenden Organen bislang so gut wie nichts davon. Im Gegenteil: Mit dem „Godspot“-Programm werden inzwischen WLAN-Hotspots in oder auf Kirchen installiert – für mich als Pfarrer, der sich mit der Materie auseindergesetzt hat und um mancherlei warnende WLAN-Studien weiß, ja selber immer wieder publizistisch gewarnt hat, einfach unfassbar! Man kann sich heutzutage just dank Internet sehr wohl kundig machen, wenn man nur will. Und da sich in der Forschung unterschiedliche, ja kontroverse Bewertungen zeigen, die ja oft auch mit Industrienähe oder ‑Unabhängigkeit zu tun haben, gilt ethisch zumindest das Vorsorgegebot. Also das Gebot der Vorsicht und Rücksichtnahme: Bedenken first – Digitalisierung second!
diagnose:funk: Ist nicht, wer so denkt, ein Fortschrittsbremser?
Thiede: Tja, so wird es kurzschlüssig gesagt und empfunden. Meine Warnungen wollen aber eine Pseudo-Fortschritt bremsen, der in Wahrheit einen ethischen und damit menschheitlichen Rückschritt bedeutet. Wenn im Zuge der Digitalisierung immer mehr Entscheidungen an sogenannte Künstliche Intelligenz abgegeben werden, dann muss das gerade auch auf militärischem Gebiet am Ende in die Katastrophe führen. Derzeit baut sich eine gigantische Fortschrittsfalle auf. 5G-Mobilfunk dient zumindest indirekt diesem gefährlichen Prozess. Um das näher zu erläutern, habe ich die neue Broschüre geschrieben.
diagnose:funk: Herr Professor Thiede, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch!