Ariane Keller aus Rickenbach ZH hatte Freude an ihrer neuen Stelle. Die Gärtnerin arbeitete im Labor eines Instituts der ETH Zürich mit Pflanzen. Aber nach drei Monaten ging es ihr immer schlechter. Sie war müde, fahrig und konnte sich nicht mehr konzentrieren. «Ein E-Mail musste ich fünf Mal lesen, bis ich verstand, worum es ging», erzählt die 41-Jährige. «Ich dachte: Was ist nur los mit mir?»
Die Ungewissheit endete, als ein Arzt feststellte, die Beschwerden seien auf Elektrosmog zurückzuführen. Ein Fachmann führte dann an Kellers Arbeitsplatz Messungen durch. Resultat: Er war stark belastet. Denn im Büro standen schnurlose DECT-Telefone und fünf Meter neben Kellers Schreibtisch befand sich eine WLAN-Basisstation mit vier Antennen. Zudem war das ganze Gebäude mit Aluminiumblech ummantelt. «Die Strahlung konnte nicht aus dem Gebäude entweichen und wurde sogar noch reflektiert», sagt Keller. (siehe Porträts unten).
Auch der Thurgauer Marcel Bolli aus Steckborn leidet unter elektromagnetischen Strahlen. Sein Arbeitsplatz war ebenfalls stark verstrahlt. «Bald schlief ich nur noch vier Stunden und konnte mich kaum noch konzentrieren.» Einer, der häufig auf solche Patienten sieht, ist Elektrosmog-Experte Peter Schlegel aus Esslingen ZH. Er misst im Umfeld von Betroffenen die Strahlung und berät sie. «Elektrosensible leiden stark – und es werden immer mehr», sagt Schlegel. Seine Beobachtung: «Die Empfindlichkeit entsteht oft schleichend, manchmal aber auch schlagartig, zum Beispiel durch eine relativ hohe Strahlenbelastung.»
Plötzlich reagieren Nerven auf kleinste Reize
Fachleute vermuten schon länger: Wenn eine bestimmte Menge Schadstoffe im Körper ist und die Abwehrkräfte geschwächt sind, reagiert das Nerven system plötzlich übertrieben stark auf kleinste Reize aus der Umwelt, so auch auf elektromagnetische Strahlen.
Diese Vermutung belegen nun zwei kanadische Umweltmediziner in einem Forschungsüberblick. Sie haben alle aktuellen Studien zu umweltbedingten Krankheiten ausgewertet – darunter eine Studie des Unispitals Örebro in Schweden. Die Forscher hatten 13 Elektrosensible untersucht und die Werte mit 21 Gesunden verglichen. Resultat: Elektrosensible hatten höhere Konzentrationen von Flammenschutzmitteln im Körper, die sich im Fettgewebe angesammelt hatten. Solche Mittel wurden lange in Matratzen als Brandschutz eingesetzt.
Die deutsche Ärztin Christine Aschermann, Spezialistin für Nervenkrankheiten, sagt: «Elektrosensibilität hat nie nur eine einzige Ursache.» Bei den meisten Betroffenen liege eine Belastung des Körpers mit Metallen, Chemikalien oder chronischen Infektionen vor. «Diese Belastungen machen sich oft erst unter dem Einfluss von elektromagnetischen Feldern bemerkbar», sagt Aschermann.
Strahlung kann Kopfweh auslösen
Ein Forschungsteam aus der Ukraine ist einem möglichen Grund auf die Spur gekommen. Die Wissenschafter werteten im Jahr 2016 rund 100 Studien aus. Das Resultat: Die Strahlung des Mobilfunks lässt im Körper aggressive Moleküle entstehen. Das kann zum Beispiel zu Kopfschmerzen und Schlafstörungen führen. Für Gesundheitstipp-Ärztin Stephanie Wolff ist dies schlüssig: «Ich kann mir gut vor stellen, dass dieser Mechanismus beim Entstehen von Elektrosensibilität eine Rolle spielt.»
Natürlich leiden nicht alle Menschen unter Elektrosmog. Wolff sagt: «Einige reagieren sensibler auf Reize aus der Umwelt als andere.» Warum, wisse man noch nicht genau. «Gefährdet ist, wer von sich weiss, sensibel zu sein und in seinem Umfeld keinen Einfluss auf die Quellen des Elektrosmogs hat.»
Es dauert oft lange, bis die Betroffenen die Ursachen für ihre Beschwerden finden. Dem Thurgauer Marcel Bolli ging es in den Ferien in den Bergen jeweils schlagartig besser. «Versuchsweise buchte ich ein paar Nächte auf einer abgelegenen Alp über dem Walensee, wo es keinen Handyempfang gab», berichtet der Informatiker. Dort schlief er ab der ersten Nacht acht Stunden. Sobald er wieder arbeitete, kehrten die Probleme und die Schlafstörungen zurück.
Auf die körperlichen Beschwerden folgen seelische. Viele Betroffene können am normalen Alltagsleben nicht mehr teilnehmen. Der 49-jährige Jurist Daniel Obi aus Gretzenbach SO sagt: «Den öffentlichen Verkehr kann ich praktisch gar nicht mehr nutzen.» In öffentlichen Gebäuden wie Bibliotheken, Restaurants und Einkaufszentren hält er es nur kurze Zeit aus. Und Gärtnerin Ariane Keller ist in den letzten dreieinhalb Jahren 14-mal umgezogen. Sie sagt: «Man fragt sich ständig, wie man den Strahlen entkommt.»