Laut Bundesamt für Strahlenschutz gibt es keine gesundheitsschädlichen Risiken, wenn die Grenzwerte eingehalten werden.
Ja, die Verantwortlichen in Politik und Ämtern hängen immer noch der Hoffnung an, dass die Risiken zu vernachlässigen wären. Eine kaum haltbare Annahme. Darum sorgt auch das Bundesamt für Strahlenschutz vor – zumindest so weit, um ein Haftungsrisiko des Staates auszuschließen. Stand 24. März gab es beispielsweise folgende Empfehlungen auf deren Seiten zu lesen: „Nutzen Sie das Festnetztelefon, wenn Sie die Wahl zwischen Festnetz und Handy haben. Halten Sie Telefonate mit dem Handy möglichst kurz. Telefonieren Sie möglichst nicht bei schlechtem Empfang, wie zum Beispiel im Auto ohne Außenantenne.“ Diese Ratschläge sind gut und wichtig. Leider werden aber keine weiteren Konsequenzen daraus gezogen. Die vorrangige Politik ist immer noch auf den Schutz eines prosperierenden Marktes und nicht auf den Schutz von Menschen und Natur ausgerichtet.
Aber es stimmt, dass es keinen Beweis für einen Zusammenhang zwischen Strahlen und Beschwerden gibt?
Es ist eine Frage der Deutungshoheit. Ein Beispiel: 2015 hat eine renommierte internationale Forschergruppe nachgewiesen, dass von 100 Mobilfunkstudien zum sogenannten oxidativen Zellstress 93 Studien entzündliche Schädigungsprozesse nachweisen. Zu den speziellen Risiken für die Fruchtbarkeit liegen 130 Studien vor. Und natürlich hat die Industrie genug Geld für Gefälligkeitsstudien, die Risiken verharmlosen. Die Entwarnungen werden durch geschickte PR-Arbeit in den Medien platziert, und die Politik wird damit handlungsunfähig gemacht, weil es scheinbar kein klares Bild zum Thema gibt. Diese Ablenkungsdebatte gibt es bereits seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie wird mit großem Aufwand und erheblichem Mitteleinsatz von der Industrie und ihren, wir nennen sie „Mietmäulern“, erfolgreich aufrechterhalten. Auch die Europäische Umweltagentur analysiert und beklagt diese Industrie-Strategie in ihren Veröffentlichungen.
Sie fordern einen „verantwortungsbewussten Umgang“ mit Mobilfunk. Wie soll dieser aussehen?
Es geht um drei Bereiche. Verbraucherschutz: Die Endkunden sollten die Risiken kennen und wissen, wie sie die Technologien so anwenden können, damit sie sich und ihre Umwelt dem geringstmöglichen Risiko aussetzen. Strahlenschutz: Die Politik ist gefordert, um die Bevölkerung und die Umwelt durch Gesetze, Verordnungen, Aufklärung und die Umsetzung emissionsarmer Anwendungen zu schützen. Kommunen beispielsweise haben hierbei eine besondere Bedeutung, da sie den umfassendsten Zugriff auf viele Bereiche der Daseinsvorsorge der Bürger haben. Entwicklung neuer Technologien: Unsere Verbraucherschutzorganisation „diagnose:funk“ macht Alternativen bekannt. Wie das Kleinzellennetz in St. Gallen, mit dem mehr Daten mit weniger Strahlung und nur einem Netz übertragen werden können. Oder als Alternative zu WLAN die „Visible Light Communication“ - Kommunikation über die Frequenzen des Lichts mittels LED-Technik.
Sollte man für weniger Strahlung auf eine flächendeckende Versorgung verzichten?
Es geht hier nicht um eine Verzichtsdebatte. Die Anwendung mobiler Kommunikation hat sich durchgesetzt. Die meisten Menschen sind begeisterte Nutzer dieser Technik, und die Wirtschaft organisiert sich an und mit ihr. Die digitale Revolution ist in vollem Gange. Aber klar ist auch, dass es Schutzzonen braucht. Alle haben das Recht, dass ihre Wohnung nicht zwangsweise durchstrahlt wird. Die dazu notwendige Trennung von Indoor- und Outdoorversorgung in der Anlagenauslegung wäre bei uns sofort möglich. Die Konzepte liegen vor, wie wir wieder in jeder Wohnung mikrowellenfreie oder zumindest strahlungsarme Räume haben könnten.
Was könnte oder sollte der Staat hier tun?
Nach EU-Recht ist der Staat verpflichtet, Vorsorge zu betreiben. Wir brauchen keine zwölf parallel betriebenen Mobilfunknetze nebeneinander, sondern nur ein Netz für alle Anwendungen. So wie wir auch nur eine Autobahn für alle Autos zwischen Aachen und Lüttich haben. Die Rahmenbedingungen hierfür muss und kann der Staat setzen. Eine schützende Aufklärung ist zudem überfällig. Und wir brauchen die staatliche Förderung zur Entwicklung und Umsetzung von weniger schädlichen Kommunikationstechnologien.
Was kann jeder Einzelne tun?
Aufgeklärte Bürger:innen können sehr viel an Selbstschutz betreiben. Zudem braucht es auch die Rücksichtnahme gegenüber Dritten, wie zum Beispiel die Nachbarn. Das wichtigste Prinzip: keine Dauerstrahler mehr im Haus. Dazu gehört, neueste abschaltende, leistungsgeregelte DECT-Telefone - besser noch Kabeltelefone - benutzen. WLAN in der Regel deaktivieren und nur bei Bedarf einschalten. Auch hier die Leistung am Router runter regeln. Den Datennetzmodus am Smartphone nur einschalten bei Bedarf, nachts ganz ausschalten oder den Flugmodus nutzen. Und was mir besonders wichtig ist: In Kinderzimmern keine internetfähigen Endgeräte zulassen. Machen Sie einen Vertrag mit Ihren Kindern, was sie tun dürfen und was nicht – denn die Geräte und die Mobilfunkverträge sind die der Eltern.
Sie sind Vorsitzender von „diagnose:funk“. Was tut diese Verbraucherschutzorganisation?
Wir klären auf, veröffentlichen Ratgeber, Faltblätter und Untersuchungen. Wir machen vorrangig im Ehrenamt das, was der Staat sich weigert zu tun: Industrieunabhängig über die Nebenwirkungen der mobilen Kommunikation und die Risiken durch den sogenannten Elektrosmog im Allgemeinen aufzuklären. Wesentliche Grundlage unserer Informationsaufarbeitung ist die Referenzdatenbank der WHO, die von der Bundesregierung an der RWTH Aachen geführt wird. Vierteljährliche Studienrecherchen veröffentlichen wir auf unserer Homepage. Wir sind international vernetzt, lassen Forschungsarbeiten übersetzen und kooperieren mit unabhängigen Fachwissenschaftlern, um die Auswertung dieses Wissens abzusichern. Auf dieser Grundlage erarbeiten wir unsere politischen Forderungen. Und wir setzen uns ein für die Entwicklung strahlungsarmer und gesundheitsverträglicher Funk-Technologien.
Im Internet gibt es Gegenwind. Vom sogenannten „Informationszentrum gegen Mobilfunk“ werden Sie persönlich als „professioneller Irreführer“ und „Geschäftemacher, der von der Angst geschürten Debatte profitiert“ bezeichnet.
Macht das nicht stutzig? Ein „Informationszentrum gegen Mobilfunk“ diffamiert in seinem Blog täglich kritische Wissenschaftler:innen und Politiker:innen, den BUND, Bürgerinitiativen, unsere Vorstände und viele andere mehr, weil sie zu den Risiken dieser Technologie publizieren. Diese Seite aus München, die unter der falschen Flagge „gegen“ segelt, ist ein professionell organisiertes und google-optimiertes Diffamierungs-Forum, dem bereits 2009 von einem Gericht in einem Unterlassungsklageverfahren eine „besonders perfide“ Art von Verleumdungen bescheinigt wurde. Sie sollen schädigen und Außenstehende verunsichern und können juristisch nur schwer belangt werden. Wenn wir, die Vorstände von diagnose:funk oder die vielen anderen ehrenamtlich Tätigen weltweit, einen persönlichen Vorteil für uns, unsere Familie oder Kolleg:innen erlangen wollten, würden wir sicher etwas anderes tun, als uns mit den Interessen einer multimilliardenschweren Industrie anzulegen.
Das Gespräch führte Christian Schmitz
Jörn Gutbier ist Vorsitzender der Verbraucherschutzorganisation Diagnose-Funk e.V. und Autor der Broschüren: "Kommunale Handlungsfelder" & "Ratgeber Elektrosmog im Alltag"