Äußerungen der Revolution
Ideologen und Enthusiasten der Digitalen Revolution wird es ärgern, dass Thiede in seinem zweiten Buch Die digitalisierte Freiheit (2014) Technikbegeisterten unüberhörbares Unbehagen entgegenhält. Thiede bündelt und zitiert kritische Zeitdiagnostik, die angesichts der Umwälzungen zunehmend lauter wird: aus zurückliegenden und jetzt erneut aktuellen politischen, philosophischen und theologischen Debatten, aus Medien- und Tagesgesprächen, aus literarisch-künstlerischen Kreisen. Für LeserInnen eine wahre Fundgrube fortschrittlicher Diskurse.
Thiede sieht die Digitale Revolution im Stadium und Status einer „Ersatzreligion“ angelangt, deren Herrschaft unsere Freiheit massiv bedroht. Politisch zeige sie totalitäre Tendenzen zum Überwachungsstaat, zu Propaganda und Manipulation öffentlicher Kommunikation, Militarismus, zur Totalökonomisierung und „Technokratie“.
Ökologisch gesehen seien Verluste an ethischem Verständnis und Subjekt-Identität sowie Risiken für Gesundheit und Umwelt durch die enorme Strahlenbelastung des Mobil- und Kommunikationsfunks festzustellen. Zu beobachten sind Erfahrungen der Beschleunigung, der Digitalisierung von Leib und Seele bzw. des Sozialen und der Psyche, der Dominanz virtueller Welten.
Thiede betont: „Auf ein Schlechtreden der digitalen Revolution wollen alle diese Überlegungen mitnichten hinaus.“ Er rät aber angesichts der oft überfordernden Situation: „Nicht dumpfe Digitalisierungsphobie steht an, sondern spirituelle Wachsamkeit im Blick auf das Drohende und Herausfordernde … Dem zunehmenden Digitalisierungsdruck mutigen Freiheitswillen entgegenzustellen … ist heute erste Bürgerpflicht.“ Das gilt hochaktuell auch für die von Thiede aufgezeigte und prognostizierte Problematik digitaler Stromzähler, die wohl bald in jede Wohnung hineingezwungen werden sollen.
„Digitaler Massenwahn“
In Digitaler Turmbau zu Babel (2015) nimmt Thiede noch stärker die Breitenwirkung der Digitalisierung in der nahen Zukunft und schließlich auch Theologie und Kirche als Adressaten in den Blick.
In Anlehnung an die biblische Überlieferung vom Turmbau zu Babel (1. Mose 11) fragt er, ob das gesellschaftliche Mammutprogramm fieberhafter digitaler Allvernetzung nicht Ausdruck „einer bösen Überheblichkeit” sei, “die das Paradies auf Erden eigenmächtig zu errichten trachtet.“ Gebe es nicht bereits Züge eines “aufkommenden digitalen Massenwahns”? Gegenbewegungen von Minderheiten hätten offenbar kaum eine Chance.
Dabei habe die Gesellschaft insgesamt mit der rasant wachsenden Herrschaft des „Digitalismus“ – so nennt Thiede die entsprechende Ideologie – einen waghalsigen Weg eingeschlagen. Begeistert von den geradezu magisch anmutenden Chancen und Möglichkeiten des Digitalen begnügten sich viele Zeitgenossen, die damit verbundenen Risiken verrechnen, kleinreden oder gar in Abrede stellen zu können.
Thiede plädiert für eine ganzheitliche Wahrnehmung der Risiken und Nebenwirkungen. Er macht deutlich, dass es bei der Digitalen Revolution nicht nur um technische, sondern auch um tiefe kulturelle Veränderungen geht, deren Folgen zum Teil noch gar nicht absehbar sind und gravierende ethische Fragen aufwerfen.
Provokant stellt Thiede in Analogie zu Luthers reformatorischem Thesenanschlag vor beinahe 500 Jahren abschließend auch aktuelle 95 Thesen zur Digitalen Revolution vor.
These 4: „Technik hat dem Wohl des Menschen zu dienen. Ihr Fortschritt bedarf ethischer Begleitung und Kontrolle; er rechtfertigt nicht pauschal ‚Kollateralschäden‘.“
Behagliche Revolution?
Wer kundige Eindrücke, Wahrnehmungen und Analysen zu unserem digitalen Zeitalter sucht, lese unbedingt die Trilogie von Werner Thiede. Denn die notorisch als komfortabel bzw. behaglich angepriesene Digitale Revolution auf den intellektuellen Prüfstand zu stellen, erscheint uns dringlicher denn je. Hochfahrende Heilsversprechen und leichtgläubige Fortschrittsfrömmigkeit sind der historischen Moderne- und Technikforschung nicht unbekannt. Es fragt sich deshalb: Gab es in der Zivilisationsgeschichte, soweit wir sie übersehen, überhaupt so etwas wie bequeme Revolutionen?