Der Wirtschafts- und Sozialausschuss der Europäischen Union (EWSA) fordert einen Paradigmenwechsel und beruft sich auf die Resolution 1815 des Europarates von 2011, in der eine umfassende Schutzpolitik bis hin zu Schutzzonen für Elektrohypersensible empfohlen wurde. Den Forderungen der EWSA können sich die Bürgerinitiativen zu 100 % anschließen. Machen wir sie unseren Gemeinderäten und Entscheidungsträgern bekannt.
Der EWSA konstatiert, dass „uns die Beherrschung dieser Technologiesysteme in der Zukunft auch vor erhebliche Probleme stellen könnte, wenn nachlässig gehandelt wird und es keine demokratische Kontrolle gibt“ (1.1.). Die technische Entwicklung habe in den „letzten 20 Jahre aber auch zu einer Verdichtung von elektromagnetischen Feldern und damit zu einer zunehmenden Umweltverschmutzung durch Elektrosmog geführt. Die Auswirkungen des Elektrosmogs müssen evidenzbasiert analysiert werden, um zu einer Einschätzung des tatsächlichen Risikos zu gelangen.“
Der EWSA kritisiert damit, dass der Mobilfunkausbau bisher ohne eine wirkliche Kontrolle geschieht. Der EWSA weist auf Erkenntnisse zu Risiken hin, fordert dass sie ernst genommen werden und stellt sie der bisherigen Verharmlosungspolitik gegenüber. Er fordert die offene Debatte über diese Widersprüchlichkeit, die Anwendung des Vorsorgeprinzips und v.a. für Bürger, die nahe an Sendemasten wohnen, volle Transparenz, ihr Recht auf den Schutz vor körperlicher Unversehrbarkeit und ihr Recht auf die „Einwilligung“ beim Bau von Sendeanlagen.
I. Bürgerdialog gefordert
Bemerkenswert: Nach dem EWSA hat der unkontrollierte Mobilfunkausbau zu einer „Umweltverschmutzung“ geführt! Das ist eine Anerkennung der Kritik der Bürgerinitiativen, deren Beteiligung für die Zukunft eingefordert wird:
- „1.3. Der EWSA stellt fest, dass sich die Debatte über den Aufbau von 5G-Netzen in eine kontroverse politische Auseinandersetzung verwandelt hat. Nichtsdestotrotz müssen soziale, gesundheitliche und ökologische Fragen unter Einbeziehung der Bürger und aller relevanten Akteure geklärt werden.“
- „1.5. Der EWSA schlägt vor, dass die Europäische Kommission die Bürger und Organisationen der Zivilgesellschaft konsultiert und unter Einbeziehung aller einschlägigen öffentlichen Einrichtungen zum Beschlussfassungsprozess mit Blick auf die gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen der mobilen elektronischen Kommunikation beiträgt.“
Um zukünftige Umweltverschmutzungen durch Elektrosmog zu vermeiden, wird Forschung gefordert:
- „1.4. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, bei der Bewertung der Auswirkungen der neuen 5G- und 6G-Technologien auf die unterschiedlichen Bereiche wegweisend voranzugehen, da wir Instrumente und Maßnahmen zur Bewältigung von Risiken und zur Behebung der Schwachstellen benötigen. Der EWSA empfiehlt deshalb, europäische und nationale Mittel in eingehendere multidisziplinäre Forschungen und Folgenabschätzungen zu investieren, in denen es vor allem um Mensch und Umwelt geht. Ihre Ergebnisse sollen publik gemacht werden, damit die Öffentlichkeit und die Entscheidungsträger informiert sind.“
Das ist ein Kontrapunkt gegen die Botschaften deutscher Behörden, 5G könne bedenkenlos eingeführt werden, weil von 2G-4G angeblich keine Risiken ausgingen.
II. Monopolstellung und Wissenschaftlichkeit der ICNIRP-Richtlinien in Frage gestellt
Unter der Überschrift "Zweifel an den ICNIRP-Standards" wird mit einer Beruhigungspille der Behörden aufgeräumt, die Einhaltung der Grenzwerte entsprechend den ICNIRP-Richtlinien würden Sicherheit garantieren, ein neues Gremium wird gefordert:
- „1.6. Der EWSA ist der Auffassung, dass die EU ein unabhängiges europäisches Gremium mit modernen Verfahren entsprechend den aktuellen technischen Rahmenbedingungen und einem multidisziplinären Ansatz benötigt, um Leitlinien zum Schutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte vor elektromagnetischer Strahlung festzulegen.“
Gegen das thermische Dogma, auf dem die ICNIRP-Richtlinien fußen, wird die Einbeziehung der Forschung, die nicht-thermische Wirkungen der Strahlung nachweist, in die Risikobeurteilung gefordert:
- „1.11. ... Besonderes Augenmerk sollte den nicht-thermischen Effekte gelten.“
- „4.21. Die ICNIRP bemüht sich sehr, ihre wissenschaftlichen Methoden für die Festlegung der Schutzleitlinien transparent zu machen; allerdings erkennt sie nur die thermischen Auswirkungen der elektromagnetischen Strahlung als potenziell schädlich an.“
- „4.22. In der vom Europäischen Parlament gemäß den Empfehlungen der Resolution 1815 des Europarates von 2011 durchgeführten STOA-Studie werden die Einhaltung des Vorsorgeprinzips, die erneute Prüfung der von der ICNIRP vorgeschlagenen Grenzwerte sowie technische und administrative Maßnahmen zur Minderung der Folgen von elektromagnetischer Verschmutzung aufgrund der Telekommunikation unterstützt.“
Das sind höfliche Formulierungen, mit denen die Monopolstellung der ICNIRP bei der Grenzwertfestlegung und ihr thermisches Dogma in Frage gestellt werden.
III. Ständige Kontrolle der Strahlenbelastung notwendig
Eine Forderung der Bürgerinitiativen nach einer Dauerdokumentation der Sendeleistung und Strahlenbelastung für die Anwohner durch eine Sendestation wird aufgegriffen:
- „1.7. Der EWSA empfiehlt, alle Sendestationen und die von ihnen genutzten Frequenzen zu erfassen und diese Information zu veröffentlichen, um eine bessere Kontrolle in den Gebieten und den Schutz der Interessen der Bürger und insbesondere der Risikogruppen (Kinder, Schwangere, chronisch kranke Personen, ältere Menschen, Menschen die unter Elektrosensibilität leiden) zu gewährleisten. Außerdem müssen die Gesundheit und die Sicherheit der Arbeitnehmer berücksichtigt werden.“
- „1.8. Der EWSA befürwortet den Vorschlag, 5G-Netzwerkausrüstungen ab Werk so auszulegen, dass sie in Echtzeit öffentliche Informationen über die Sendeleistung und weitere für Verbraucherorganisationen und andere Interessenträger relevante technische Parameter liefern können. Diese Daten müssen von den zuständigen Behörden zentral erfasst, verwaltet und offengelegt werden.“
- „1.9. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Überwachung und Kontrolle der elektromagnetischen Verschmutzung auf der Grundlage eines stringenten interinstitutionellen und interdisziplinären wissenschaftlichen Ansatzes zu erfolgen hat. Unterstützt durch moderne Messausrüstungen, die die Parameter der elektronischen Kommunikationsnetze erfassen, müssen die kumulativen Auswirkungen über längere Zeiträume angemessen dargestellt und bewertet werden können.“
IV. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Schutz der Wohnung und Einwilligung der Betroffenen
Mit der Formulierung, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit (1.14.) bei der Aufstellung von Mobilfunkmasten garantiert werden muss, wird anerkannt, dass durch die Strahlung dieses Recht tangiert ist und deshalb garantiert werden muss, durch volle Transparenz und die Einwilligung der Bürger:
- „1.14. Der EWSA versteht, dass die Bürger bei der Aufstellung der Antennen ihre Eigentumsrechte gewahrt wissen wollen und dass sie sich im Zusammenhang mit den mittlerweile allgegenwärtigen 5G-Netzen, die sich vom eigenen Wohnraum bis hin zu Satelliten im Weltraum erstrecken, um ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit sorgen. Das Recht auf Eigentum und die Entscheidungen der Menschen müssen respektiert werden. Es muss sichergestellt werden, dass es eine genaue Definition der „Einwilligung nach erfolgter Aufklärung“ gibt, denn nur so kann von einem echten Recht auf freie, auf umfassenden Informationen beruhende und gültige Einwilligung der Bürger die Rede sein.“
V. Stand der Forschung berücksichtigen
Der EWSA bringt zum Ausdruck, dass der Stand der Forschung zu den Auswirkungen auf Menschen, Flora und Fauna der bisherigen einseitigen Interpretation der Politik, ICNIRP und WHO widerspricht und diese Widersprüchlichkeit geklärt werden muss:
- „2.4. Auf der ganzen Welt haben Wissenschaftler Erkenntnisse (2) darüber vorgelegt, dass die lang andauernde und allgegenwärtige Exposition des menschlichen Körpers und anderer biologischer Organismen mit Skepsis zu betrachten ist. Wir sind einer Vielzahl von in 5G-Netzen genutzten Wellen verschiedener Frequenzbereiche, gebündelter Strahlung und Funkfrequenzen von einigen Dutzend GHz, die für 5G spezifisch sind, ausgesetzt. Sorge bereiten auch die möglicherweise nachteiligen Folgen für die menschliche Gesundheit, die biologische Vielfalt und die Umwelt. Bislang haben die zuständigen Behörden der EU und der Mitgliedstaaten jedoch mitgeteilt, dass es keine wissenschaftlichen Belege für negative Auswirkungen von 5G auf die menschliche Gesundheit gibt. Die WHO stellt fest, dass sich bis heute trotz umfangreicher Forschungsarbeiten kein kausaler Zusammenhang zwischen gesundheitsschädlichen Auswirkungen und einer Exposition durch drahtlose Technologien feststellen lässt.“
- „4.18. In einigen Studien wird die Strahlung der Mobiltelefonie und der drahtlosen elektronischen Kommunikationsinfrastrukturen mit neuronalen, reproduktiven, onkologischen sowie mutagenen Risiken assoziiert (obwohl es sich um nicht-thermische Emissionen handelt) (17). Die zuständigen Stellen sind jedoch auf der Grundlage ihrer eigenen Bewertungen und Verfahren zu der Einschätzung gelangt, dass die Strahlung der Mobiltelefonie und der elektronischen Kommunikationsinfrastruktur für den Menschen unbedenklich ist."
- „4.19. Wie bereits erwähnt, wurden die Auswirkungen elektromagnetischer Strahlung auf die Gesundheit von Mensch und Tier in Studien untersucht. Was allerdings die komplexen Auswirkungen der nicht-ionisierenden elektromagnetischen Strahlung auf Flora und Fauna angeht, so ist sehr wenig über die nichtthermischen Auswirkungen bekannt, und noch viel weniger wird über dieses Thema überhaupt gesprochen. Die bekanntesten Studien beziehen sich auf die erheblichen und unmittelbaren Auswirkungen auf Bestäuberinsekten und Vögel, doch gibt es in der Wissenschaft zahlreiche Bedenken, was die Langzeitauswirkungen elektromagnetischer Emissionen auf Biosysteme angeht."
VI. Elektrosensibilität ist eine Krankheit
Entgegen der Diskriminierung der elektrohypersensiblen Menschen und der Psychologisierung ihrer Leiden stellt der EWSA fest:
- „4.13. Das Europäische Parlament (9), der EWSA (10) und der Europarat (11) haben anerkannt, dass Elektrosensibilität bzw. Elektrosensitivität eine Krankheit ist. Hiervon sind eine Reihe von Menschen betroffen, und mit der Einführung von 5G, für das eine viel höhere Dichte elektronischer Anlagen benötigt wird, könnte dieses Krankheitsbild häufiger auftreten.“
VII. Die Folgen für die Ökologie und Demokratie müssen berücksichtigt und vermieden werden
Im Abschnitt „Umweltauswirkungen des 5G-Ökosystems“ behandelt der EWSA die Schädigung der Umwelt durch den Energie- und Ressourcenverbrauch, den Elektroschrott und die Überwachung und fordert Studien zur Umweltverträglichkeit. Der EWSA fordert: „Die Behörden müssen anerkennen, dass sich im Zusammenhang mit möglichen Beeinträchtigungen der Umwelt, der lebenden Organismen oder der Bürgerrechte durch diese technischen Systeme Herausforderungen stellen“ (3.2.).
- „3.1. Im Allgemeinen verhehlen die internationalen Institutionen, Unternehmen und nationalen Behörden ihre Begeisterung in Bezug auf die Vorteile der 5G-Technologie nicht. Allerdings ist es notwendig, zu untersuchen, ob die Expansion des 5G-Ökosystems eventuell mit negativen Folgen verbunden ist, und implizit somit auch, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit diese Infrastrukturen und Dienste, die erhebliche gesellschaftliche Implikationen haben, von der Allgemeinheit akzeptiert werden.“
- „4.7. Einige Organisationen der Zivilgesellschaft haben auf die potenziellen Umweltauswirkungen der neuen 5G-Netze hingewiesen. Sie bemängeln unter anderem unzureichende Bestimmungen im Hinblick auf die Durchführung von Umweltverträglichkeitsstudien und ungeeignete Mechanismen und Maßnahmen zur Verringerung des Energieverbrauchs der 5G-Netzinfrastruktur, und sie fordern mehr Recycling von Elektronikabfällen (6).“
- „4.9. Die Einführung der 5G-Technologie und des Internets der Dinge wird dazu führen, dass Milliarden neuer Geräte des 5G-Netzes zusammen mit Haushaltsgeräten (Haushaltselektronik, Elektrogeräte, Installationen usw.) später das Aufkommen an Elektronikschrott („E-Abfall“) (8) vergrößern werden — ein Umstand, den man mit Blick auf die angestrebte Kreislaufwirtschaft und Abfallvermeidung nicht mehr ausklammern kann.“
- „4.3. Eine weitere wesentliche Ressource ist der Zugriff auf die Daten und Metadaten der Verbraucher bzw. Bürger. In dem sich entwickelnden Markt für digitale Dienste sind diese Daten eine wahre Goldgrube und bringen den Unternehmen, die auf sie zugreifen können, enorme Vorteile. Einige der diesbezüglichen Herausforderungen wurden in der Stellungnahme des EWSA zur Datenstrategie (4) genannt.“
Am 7. Oktober 2021 wurde die Stellungnahme zuerst von der Fachgruppe angenommen, am 20. Oktober vom Plenum des Ausschusses mit 210 Zustimmungen, zwei Ablehnungen und 19 Enthaltungen.
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Kernpunkte (aus der Homepage der EWSA)
- Der EWSA ermutigt die Europäische Kommission, den Prozess der Bewertung der sektorübergreifenden Auswirkungen der neuen 5G- und 6G-Technologien voranzutreiben und dabei zu berücksichtigen, dass Instrumente und Maßnahmen erforderlich sind, um Risiken und Schwachstellen anzugehen. Dementsprechend benötigt die EU ein unabhängiges europäisches Gremium mit aktuellen Methoden, die dem aktuellen technologischen Kontext entsprechen, und einem multidisziplinären Ansatz, um Leitlinien für den Schutz der Öffentlichkeit und der Arbeitnehmer im Falle einer Exposition gegenüber elektromagnetischer Hochfrequenzstrahlung festzulegen.
- Es wird empfohlen, alle Funkübertragungsstationen und die Frequenzbänder, auf denen sie betrieben werden, zu inventarisieren und diese Informationen zu veröffentlichen, um eine bessere territoriale Verwaltung und den Schutz der Interessen der Bürger, insbesondere der gefährdeten Gruppen, zu gewährleisten. Die Überwachung und Kontrolle der elektromagnetischen Verschmutzung muss auf der Grundlage eines strengen interinstitutionellen und interdisziplinären wissenschaftlichen Ansatzes erfolgen, während die sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Aspekte von 5G im Einklang mit dem Vorsorgeprinzip kontinuierlich überwacht werden müssen.
- Die europäischen Kapazitäten für die Prävention, die Aufklärung und den Schutz vor Cyber-Risiken sollten verbessert werden, sowohl durch die Stärkung einschlägiger Einrichtungen wie der ENISA als auch durch die Schaffung technologischer, institutioneller und rechtlicher Instrumente, die sicherstellen, dass die Rechte der Bürger geachtet werden.
Download der Stellungnahme Deutsch: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52021IE2341&from=EN
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